Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Kinder und Qatar: Warum wir mit reinem Gewissen die WM gucken

Thomas Müller, Joshua Kimmich und Youssoufa Moukoko beim Training in Al Shamal

Theo hat bald Geburtstag. Er wird zehn Jahre alt. Nachdem die letzten beiden Geburtstagsfeiern Corona-bedingt ausgefallen sind, wird dieses Jahr wieder richtig gefeiert. Mit zehn Jungs geht´s in die Soccerhalle. Erst anderthalb Stunden kicken, dann Pizza essen. Am Wochenende hat er die Einladungen gebastelt. Jeder Gast bekommt eine ganz individuell gestaltete. Dafür hat Theo ein paar seiner heißgeliebten Fußball-Sammelkarten geopfert. Jeder Gast bekommt eine Einladungskarte, auf die ein Spieler geklebt wurde. „Felix spielt gerne in der Mitte, der bekommt Kimmich. Mbappé ist für Miguel, der ist schnell und fummelt immer. Und Peter, der alte Bayernfan, bekommt Müller“, so hat Theo seine Auswahl begründet.

Und so kommt es, dass wir bald mit einer Fußball-Weltauswahl Theos Geburtstag feiern. Kicken und danach Pizza und Papageienkuchen essen. Der Junge kann sich nichts Schöneres vorstellen. Natürlich interessiert er sich für die WM. In seinem Zimmer hängt der Spielplan, jeden Morgen checkt er bei „kicker“, was es Neues gibt in der Fußballwelt. Er spielt Fußball im Verein. Manchmal freut er sich schon morgens beim Frühstück: „Heute ist endlich wieder Training. Papa, ich muss dir nachher einen neuen Trick zeigen.“

Die WM in Qatar steht aus so vielen Gründen unglaublich berechtigt in der Kritik. Wir kennen alle die Dinge, die in dem kleinen Land in der Wüste im Argen liegen: Menschenrechte, Unterstützung von Terroristen, Diskriminierung von Minderheiten, fehlende Gleichberechtigung, Korruption, Energiepolitik. Mehr als die Hälfte der Deutschen will sich einer Umfrage zufolge die Spiele der Fußball-WM darum nicht anschauen. Erst einmal beeindruckende Zahlen. Das Eröffnungsspiel haben gut sechs Millionen Menschen in Deutschland gesehen, vor viereinhalb Jahren in Russland waren es mehr als zehn Millionen.

Ich mache es wie immer. Aller Missstände zum Trotz, werde ich so viele WM-Spiele wie möglich ansehen. Das mach ich, seit ich acht Jahre alt bin. Seit der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien. Seitdem gab es bei uns zu Hause keinen Streit mehr zwischen meinem Vater und mir, ob wir samstags die Sportschau oder die Sesamstraße schauen. Seit dieser WM 1982 bin ich Fußballfan: Skandalspiel, Fallrückzieher, Elfmeterschießen, Endspielniederlage. Ich liebe den Sport. Seit über zwanzig Jahren bin ich außerdem Sportreporter und schaue die Weltmeisterschaften allein schon deshalb.

Jetzt habe ich einen Sohn, der den Fußball liebt wie ich. Wie ich es mir immer gewünscht habe, ehrlicherweise. Der im Verein spielt und dessen Trainer ich bin. In Theos Zimmer hängen Fußballer-Poster, Haaland und Sané. Er hat ein kleines Tor und einen Schaumstoffball. Damit spielt er stundenlang seine eigenen Weltmeisterschaften, die er auf einem Zettel dokumentiert. Für Theo gibt es nichts Schöneres als gemeinsam mit seinem Vater samstagabends die Sportschau zu schauen. Er hält mir sogar einen Platz frei, obwohl außer uns eh keiner schaut.

Theo geht in die fünfte Klasse eines Gymnasiums. Ihn interessiert, was in der Welt passiert. Natürlich haben wir darüber gesprochen, dass Qatar auf dem größten Erdgasfeld der Welt liegt und die Qataris darum sehr viel Geld haben, ohne dass sie die Weltmeisterschaft höchstwahrscheinlich nicht bekommen hätten. Geld, mit dem sie riesige Stadien gebaut haben, die nach der WM niemand mehr brauchen wird.

Wir haben darüber gesprochen, dass beim Bau der Stadien viele Arbeiter gestorben sind, dass diese Bauarbeiter aus ärmeren Ländern kamen. Viele aus Nepal, wo der Mount Everest ist, aber halt kein Gas. Dass diese Menschen nach Qatar gekommen sind, um Geld für ihre Familien zu verdienen.

Theo hat erfahren, dass die Qataris, obwohl sie reich sind, den Arbeitern wenig Geld bezahlt haben, viel weniger als Bauarbeiter in Deutschland verdienen. Und dass sie unter Bedingungen gearbeitet haben, unter denen niemand in Deutschland freiwillig arbeiten würde und dass viele Arbeiter auf den Bauställen in der Hitze der Wüste gestorben sind. Theo wollte wissen, warum niemand etwas dagegen macht. Ich habe ihm erklärt, dass die halbe Welt das weiß. Auch der Fußball-Weltverband, die FIFA, die aber nichts dagegen unternimmt, weil sie so unglaublich viel Geld mit dieser Weltmeisterschaft verdient.

Theo und ich haben ein paar Mal über Gastgeber Qatar gesprochen, auch noch einmal bevor ich diesen Text geschrieben habe. Auch in der Schule und bei seiner Fußballmannschaft war Thema, was in Qatar passiert. Er fand es irre, dass in Deutschland Energie gespart werden muss, Turnhallen kälter sind als sonst, während in Qatar in den Stadien die Klimaanlagen laufen, ohne die niemand bei der Hitze Fußball spielen könnte.  

Sonntag haben wir das Eröffnungsspiel zwischen Ecuador und Qatar geschaut. Es war eher ein langweiliger Kick, aber dann wurde der Emir von Qatar eingeblendet. „Ist das der Mann, der die Bauarbeiter hat sterben lassen?“ fragte Theo. „Naja, das ist der Mann, der die WM in sein Land geholt hat.“ Neben ihn saß ein kahlköpfiger Mann im Anzug und lächelte, Fifa-Präsident Gianni Infantino.

Am Samstag lächelte Infantino nicht. Da holte er bei einer Pressekonferenz zur Generalwatschen gegen das demokratische Europa aus. Gegen die Länder, die die Dinge, die in Qatar zu kritisieren sind, immer wieder kritisieren. Außerdem sprach Infantino von Doppelmoral und Geschichte. Das war schon peinlich, er steigerte es aber noch, indem er sagte: „Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert. Heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant“.

In einem einzigen Satz verspottet der Mann alle Minderheiten dieser Welt. Ein Mann, der, wenn er sich nicht gerade als etwas „fühlt“, was er nicht ist, dem reichsten und skrupellosesten Sportverband der Welt vorsteht, der in Korruptionsskandale verwickelt war und der eine Fußball-WM in die Wüste vergeben hat. Infantino selbst wohnt seit ein paar Monaten mit seiner Familie in Qatar. Er hat sich seine Macht gesichert, in dem er sich gut mit Despoten und Tyrannen stellt, die in ihren Ländern auf die Rechte der Menschen pfeifen, als die sich Infantino bei seiner Rede „gefühlt“ hat.

Seine Wiederwahl als Fifa-Präsident kommendes Jahr gilt als sicher. Vier der sechs Fußball-Kontinentalverbände hat er hinter sich, nur Europa (UEFA) und Südamerika (COMEBOL) sind skeptisch. Es gibt keinen Gegenkandidaten, weil sich niemand traut, gegen den Schweizer anzutreten. Der konnte sich am Montag plötzlich nicht mehr an all das erinnern, als das er sich am Samstag „gefühlt“ hatte. Wohl auf Druck Qatars drohte die Fifa Strafen für den Fall an, wenn die Kapitäne europäischer Teams mit den „One Love“-Binden auflaufen, mit denen sie ein Statement für sexuelle Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit setzen wollten. Die Binden bleiben jetzt im Schrank.  

All diese Machenschaften, diese Zusammenhänge sind einem Zehnjährigen schwer zu vermitteln. Aber allesamt sind sie gute Gründe, diese Weltmeisterschaft zu boykottieren, diesem kaputten Fußballsystem die kalte Schulter zu zeigen, den Fernseher aus zu lassen. Aber trotzdem werden mein Sohn und ich uns das ansehen. Weil es geht, weil es stattfindet, weil Fußball trotz gekaufter Weltmeisterschaften und Fans sowie Hochglanzstadien, an denen Blut klebt, noch immer ein wunderbareres Spiel ist, das verzaubern kann.

Diese Haltung mag mancher für egoistisch oder ignorant halten. Die Frage ist, ob wir all das Schlechte ausblenden können, ob das für mich funktioniert, diese WM wirklich mit gutem Gewissen zu verfolgen? Ja, das funktioniert, weil ich mir und meinem Sohn klargemacht habe, dass die Umstände, wie diese WM zustande gekommen ist, skandalös sind. Kindern geht es beim Fußball nur um Fußball. Um nichts mehr.