Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Historisch-vergleichender Versuch über Dekadenz und Trottel

Dekadenz ist nicht gerade eine Tugend. Dekadenz hat den komischen Beigeschmack des Wunsches, den anderen fallen zu sehen, es passt gerade auch nicht zum Zeitgeist der Krise, dem Diktat des zur Schau getragenen Verzichts und der blühenden Zurückhaltung. Letztlich ist es nur eine Frage der Definition. Aber ich habe - wie vermutlich alle - durchaus den Eindruck, den über Jahrhunderte richtigen Zugang zum Thema zu besitzen.

Unsere Leidenschaften sind die wesentlichsten Werkzeuge unserer Selbsterhaltung: Sie unterdrücken zu wollen ist daher ein ebenso vergebliches als lächerliches Unterfangen.

Jean Jacques Rousseau, Emile

Man findet in manchen Kommmentaren das hier “dekadent”. Dieses Blog, seinen Autor und die ihn umgebende Welt. Der Begriff der “Dekadenz”, “herabfallend” von der Höhe der Kultur, ist zwar hübsch französisch, aber leider auch deutsch-reactionär vorbelastet. Viele verbitterte, alte Philosophen und Kulturtheoretiker sahen sich von einer dekadenten Endzeit umgeben, die fallen muss, um einer neuen Zeit mit reinen, enthaltsamen Menschen Platz zu machen. Bisweilen hatten diese Überzeugungen Ergebnisse, die diese Herren als Erfolg ansahen – Hitlerjugend, der erste Weltkrieg, die chinesische Kulturrevolution, die roten Khmer – aber meistens sah die Jugend nicht ein, warum diese alten Säcke ihnen ein anderes Leben vorschreiben sollten. So sterben die Klagenden, ohne den Verfall der Gesellschaft erleben zu dürfen, und die Jugend richtet sich in der Dekadenz bequem ein, denn es gibt da etwas, das die alten Trottel nicht wahr haben wollen, bis es zu spät ist: Ein Mensch verfällt meist schneller, als die scheinbar so flüchtige Dekadenz. Dekadenz im deutsch-reactionären Sinne kann sehr langlebig sein. Nehmen wir nur einmal diesen Inbegriff der Dekadenz des 18. Jahrhunderts:

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Das ist ein Teil einer Silberschale aus der Zeit um 1740. Ein grandios verschnörkeltes Werk vermutlich aus Augsburg, einst fein getrieben und mit Meisterschaft ausgestanzt, und zu seiner Zeit ein Zeichen des höchsten Luxus. Wie befinden uns damit bei den oberen 10.000 des Rokoko, jener Zeit des Puders, mangelnder Hygiene und ausschweifender Sitten, der wir die Aufklärung und das Porzellan, den Porno und – wahrhaft dekadente Ironie am Rande – den Untergang der Jesuiten verdanken. Was wir heute jedoch an dieser Epoche als dekadent wahrnehmen, ist unsere moderne Empörung über die soziale Ungleichheit, aus der Objekte wie diese Schale erwuchsen. Zu Zeiten ihrer Entstehung hätte man mit dem Gegenwert das Leben einer bitterarmen Pächterfamilie ein Jahr lindern können; sie hätten Vieh gekauft und den Sohn in die Schule geschickt, auf dass er ein moralsaurer Jesuit werde, sie hätten jeden Tag ausreichend Brei gegessen, und hätten damit der Seuche widerstanden, die am Ende des Jahres, im kalten, ungeheizten Winter, die halbe Sippe verenden liess, während in Sichtweite, hinter den Glasfenstern des Landsitzes, die Tochter Konfekt aus der Schale angelte und einen modischen Roman aus Frankreich las, der exakt dieses Szenario als Ausgangspunkt der Handlung nimmt*. In einem Satz stirbt das Umland an Typhus oder Pocken, die galante Gesellschaft sperrt sich auf zwei Seiten in den Salon ein, erzählt 300 Seiten von mehr oder weniger standesgemässen Liebschaften, und als es vorbei ist, reisen sie heim in die Stadtpaläste, und haben vollkommen vergessen, dass sich in den Dörfern die Leichen stapeln.

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Der Umstand jedoch, dass diese Gesellschaft dergleichen noch Jahrzehnte tun wird, zeigt uns, dass es keine “Dekadenz” im eigentlichen Sinne ist: Von Zerfall keine Spur, es ist Ausdruck einer festen Sozialstruktur, und es wird noch sehr lange dauern, bis man in Untertanen wirklich Menschen erkennt. Die Philosophie, die Aufklärung lebt man statt dessen ohne die Niederungen der Realität, die man durch Diener und gelegentliche Vergewaltigungen kennt, in Traumreichen aus; so richtet man sich gerne japanische Zimmer mit rot lackierten Stühlen ein, von deren Art man oben einen Teil der kunstvoll geschnitzten Lehne sieht. Asien galt damals in krasser Verkennung der Realität als vorbildliche und fortschrittliche Region, und nicht als exportorientierte Ramschhersteller, der die Trottel in Europa mit Kitsch aus Porzellan versorgte. Auch diese Flucht aus der Realität  mag uns heute als dekadente Verhöhnung der Armen erscheinen: Hier der geheizte Raum, der nur einer Phantasie huldigt, und teure, mit Brokat bezogene Möbel, die nur einer kurzen Illusion dienen – draussen die Kälte, die Enge in den Bauernhäusern, wo sich Mensch und Vieh zusammendrängen und der Schemel der einzige Sitz bleibt, hart und ungepolstert.

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Das ist tatsächlich unerfreulich für die Bauern, aber es sorgt dafür, dass wir uns heute an den Relikten der Zeit erfreuen dürfen. Wie man jeweils hinten sieht, hat man die Silberschale benutzt und zur Reparatur den Silberschmieden übergeben, die über Jahrhunderte hinweg das Material von hinten sicherten, wenn sie, etwa beim Liebesakt zu Boden gestossen, in Stücke brach. Auch den Stuhl in all seiner Pracht aus der Zeit von George II hat man nach dem ersten Schaden nicht den Bauern gegeben, auf dass sie daraus Brennholz machen; er wurde geschient und dient seinem neuen Besitzer auch nach 280 Jahren. Vollends undekadent wird es, wenn man den Wert der Stücke betrachtet, den Sie unschwer ermitteln können, wenn Sie Sotheby´s Art at Auction 1978-79, S. 212 betrachten, oder im Falle der Silberschale Sale 6897 konsultieren. Ohne mich hier in Schätzwerten ergehen zu wollen: Stuhl und Schale sind nicht im Mindesten gefallen, sondern im Wert durch ihr Alter so angewachsen, dass die Preziosen auch heute noch einer benachteiligten Familie trotz gestiegener Ansprüche ein Jahr lang aus dem Gröbsten helfen könnten. Es bliebe ihr überlassen, ob sie ein Jahr täglich mit besten Bioprodukten essen oder eine neue Glotze, täglich die Bild, einen Sixpack, Zigaretten und Spannung beim Anrufen von Sofortgewinnsendern möchte – beides wäre möglich, und im zweiteren Fall könnte man, endlich, wirklich von Trotteln und Dekadenz reden.

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Denn hier ist der Kern der Dekadenz: Etwas verschleudern, was man sich nicht leisten kann; etwas vernichten, das man brauchen könnte, etwas tun, was einen erniedrigt und verblödet. Das ist Dekadenz für alle, unabhängig von Besitz und Stand. Dekadent ist der Berliner Kreative, der sich das iPhone auf Dispokredit kauft im Wissen, dass er nächstes Jahr das neue Modell braucht, obwohl der zugehörige Vertrag zwei Jahre läuft, dekadenter vielleicht noch als das Stahltelefon einer Luxusmarke, das sich die Tochter des Metzgermeisters in der Provinz wünscht, und deren Vater es anstelle der üblichen und wertbeständigen Rolex kauft, die 20, 30 mal so lange halten würde. Dekadent ist, was uns fallen lässt, was Werte zerstört und Überzeugungen auf den Müll wirft: Es ist sicher gefühlt dekadent, wenn ich Konfekt in dieser Silberschale Frauen auf Bestuhlung reiche, die ansonsten allenfalls in Museen hinter Glas zu bestaunen ist, aber es ist nicht im Mindesten so dekadent wie der Ladevorgang oder das achtlose Rumschleifen eines dieser Telephone. Das Konfekt mag erlesen und teuer sein, aber der Genuss zerrüttet uns nicht so, wie die Jagd des TV-Trottels nach der Wanne voller Geld. Der grösste Ausdruck dieser Dekadenz ist unsere von nicht vertretbaren Schulden befeuerte Wirtschaftskrise, und ihre grössten, ärmsten Trottel findet man gleich neben dem Juwelier, der gedrungen durch reiche Trottel mechanische Kostbarkeiten durch Elektroplunder ersetzt:

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Das sind die Trottel, die Nachts randalierend durch die Stadt ziehen, und gezielt jede Einladung zertreten, ihre bisherige rechtskonservative Haltung zu überdenken. Herr Sodann von der Linken wäre gewiss nicht mein Freund, er würde mich kurz-sozialistischen Geistes für extrem dekadent halten, da stimmte er mit den Trotteln überein, die ihn in den Staub traten – aber eben jene Trottel werden es sein, die diese Finanzkrise ausbaden müssen. In meinem Umfeld würde niemand treten, Herr Sodann ist kein Problem, und selbst wenn er recht haben sollte: Seine Lösung ist keine, die man sich bei uns leisten könnte oder wollte. Sein Sozialismus würde zu viel Dekadenz in Form hoher Abgaben verlangen, und zumal: Es wäre Dekadenz ganz ohne Lustgewinn und Verschwendungsfreuden. Also wird es, wenn es nach meinem Umfeld geht – und angesichts der Zerstörung würde ich mich nicht in den Weg stellen -, wohl eher die anderen und damit die subalternen Rowdies treffen, das Fusstretvolk, die Vandalen, die Trottel, die mit Begeisterung etwas zerstören, was in voller Überzeugung hier hinunter in den Süden reist, um ihre Belange zu fördern, und auf dumpfe Ablehnung und Weigerung trifft, ihn auch nur einen Moment als Anregung eigener Gedanken zu akzeptieren. Ich könnte die Schale zertreten und den Stuhl verbrennen – nichts wäre je so dekadent wie die Dummheit derer, die nicht denken wollen.

*etwa Crebillon der Jüngere, Die Liebestaten des Vicomte de Nantel.