Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Hecken und deren Überwindung

Hin und wieder sehe auch ich mich veranlasst, aus den engen Grenzen meiner Schicht und ihrer Regeln, ihrer ungeschriebenen Gesetze und deren Sanktionen auszubrechen - etwa, wenn ich einen Wagen aus England hole und auf eigener Achse überführe. Dann bin ich gezwungen, mit anderen Menschen innerhalb diverser Transportmittel zu sein - selbst, wenn jene begleiter nicht unbedingt den Eindruck machen, dass sie noch andere Menschen zur Kenntnis nehmen würden.

Gib Gas, Charles.
Aus der TV-Werbung eines Herstellers englischer und daher ungeniessbarer Minzplättchen

Da sind diese Hecken. Diese hohen, alles und jeden Besitz abgrenzenden Hecken. Das südliche England ist voll davon, die Hecken sind das erste, was von oben herab aus dem Flugzeugfenster auffällt. Die Hecken sind ganz anders als die Zäune und Mauern des Kontinents, in gewisser Weise natürlicher und auch schöner, aber auf ihre Art auch effektiv und undurchdringlich. Ein weicher Schutz, der die Annäherung und die Sicht nicht nur erschwert, sondern mitunter fast unmöglich macht. Dort, wo ich einen Termin habe, kann man nur vermuten, was hinter diesen hohen, langen Hecken sein mag. Sie sind die hohe Kunst der Trennungslinien, dezent und diskret, und ich mag das.

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Schliesslich wohne auch ich hinter Barrieren, hinter mittelalterlichen Mauern, an einer Anliegerstrasse, in einer Region mit stark begrenztem Zuzug, in Vierteln, in die man nicht kommt, wenn man nicht dort wohnt. Es sind diese Mauern, hinter denen ein anderes Leben sein muss, aber wenn man sich mal aufmacht und sie überwindet, fährt man nur durch dieses Andere und kommt wieder in besseren Vierteln an, die ebenfalls sichtbare und unsichtbare Mauern haben. Das ist kein Problem der reichen Leute; der Hiphopper macht um seine Nachbarschaft und seinen Clan weitaus mehr Gewese, und kaum ist der Schwabe der engen Heimat entronnen, vermeidet er eine Wohnstatt unter Dresdnern oder Rostockern, sondern klumpt sich erneut in Berlin zusammen und spart auf eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Bei uns sehen die Trennlinien nur anders aus, und nach ein paar Minuten in der Grafschaft Surrey verstehe ich auch, was es mit jener Hecke und dem hausbewuchernden Efeu meiner zeitweise in England lebenden Grosstante auf sich hatte, die ich ab und an zu stutzen hatte: Standesgrenzen.

Dabei bin ich an jenem Tag schon weit rumgekommen. Geographisch und sozial. Ich nehme den Bus zum Flughafen, der allen offen steht, namentlich auch jungen Familien, deren Vorstellung von Erziehung nur begrenzt mit meiner Auffassung in Einklang zu bringen ist, und überlege mir, warum um alles in der Welt der Staat der Auffassung ist, die Aufsichtspflicht finanziell zu fördern, wenn die Eltern ohnehin nichts unternehmen, um den Nachwuchs von der Beeinträchtigung der Umwelt abzuhalten. Meine Eltern hätten da schon längst… Im Flugzeug dann die Plünderer, die für ein paar Euro nach London fliegen, um dort billig einzukaufen, und ihre nichtigen Wünsche erst dann nicht mehr austauschen, als sie auf ihren Mobilgerät mit dem Kopfhörer im Ohr jene Videos anschauen, die sie daheim auch anschauen könnten. Mein “Guten Tag” dagegen wird nicht zur Kenntnis genommen. Als sie beim Anflug durch das Fenster photographieren, wackeln ihre Kameras vor meinem Gesicht. Sie fragen nicht, ob ich das für sie tun könnte. Am Flughafen steigen sie aus und ignorieren mein “Auf Wiedersehen”. Ich bin weniger als Luft. Ignoranz, scheint es, ist auch eine passable Form der Abgrenzung.

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Ich fahre durch die Grafschaft Surrey, treffe einen älteren Herren, der nur noch begrenzt in der Lage ist, seinen Sunbeam Supreme 90 Mk. III zu bewegen. Der Wagen braucht einen Piloten mit viel Kraft in den Armen, dann ist die Lenkerei erträglich. Einen Piloten wie mich. Ich erwerbe also den Wagen, und der ältere Herr freut sich, einen guten Dritteigentümer für das Gefährt gefunden zu haben, der ihm mehr Auslauf als nur den kurzen Weg nach Brighton zum Baden gönnen wird. Ich dagegen habe etwas Angst, setze mich den Gefahren des Linksverkehrs aus und erreiche Dover.

Neben mir an den Klippen parkt ein älteren Ehepaares, das sich dezent und in Oxford-Englisch über den Wagen, seine Eigenheiten und Hubraum, seinen Besitzer und seine Ziele erkundigt. Bereitwillig und unter Berücksichtigung aller schulisch erlernten Höflichkeitsformen – may I, I would be glad, of course, given the fact – gebe ich mir alle Mühe, zivilisiert, angemessen und nicht hunnisch zu erscheinen. Es ist nach den Erfahrungen im Flugzeug ganz erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit die Kommunikation funktioniert, wenn beide Seiten die Formen wahren. Von besten Wünschen begleitet, die sich angesichts eines losen Lichtmaschinenriemens und eines Einsatzes des belgischen Touringclubs Nachts um halb zwei nur begrenzt erfüllen werde, kehre ich auf das Festland zurück. Das Deck des Schiffs, auf dem ich Tee trinke, ist hoch oben und angenehm menschenleer.

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Schlussendlich erreicht der Wagen und das Team aus Pilot und Copilotin dann doch Frankfurt, wo sich herausstellt, dass der Zeitplan mit der Heimkehr an den Tegernsee zum Montag doch etwas überambitioniert war. So sehe ich mich veranlasst, meinen neuen Wagen den Händen eines Könners zu überlassen, und zwischenzeitlich den Zug zu bemühen. Ich fahre nicht gern Zug. Die letzten paar Male waren von erheblichen Problemen geprägt, und den Endpunkt setzte ein Unwetter, das die Strassen verschonte und eben jene Bahnlinie in Mitleidenschaft zog, die ich aus Sicherheitsgründen gewählt hatte. Ich schlief auf einem Sofa und raste tags darauf in einem schwarzen Leihwagen nach Hause, schwörend, nie wieder die Bahn zu nehmen.

Nun also setze ich mich, nachdem ich höflich gefragt habe, neben eine stille Leserin und nehme die aktuelle World of Interiors aus dem Aktenkoffer. Was soll jetzt noch schief gehen, sage ich mir, und vor mir bricht das Inferno los. Da hat also eine Gruppe keine zusammenhängenden Sitze bekommen, und nun beginnt das lustige Herumeilen. Grössere Distanzen werden durch Brüllen überwunden, etwa, dass die dicke Frau mit der pinkfarbener Brille und goldenen Sandalen mit Krokoprägung ihr “Tschieli” und den Salat im Stehen in zwei Minuten “hineingedrückt” hat. Eine Bekannte drückt derweilen ihr Gesäss zwischen meine Augen und den feinen Beitrag über den Schlosspark von Schwetzingen, rumpelt gegen den auf meinen Knien liegenden Aktenkoffer, dass jener das Buch der Leserin touchiert. Ich entschuldige mich. Ich schon. Ansonsten scheine ich Luft zu sein.

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In Würzburg leert sich das Abteil, die Gruppe breitet sich aus. Die besagte Frau wirft sich eine zur Brille passende Jacke in Pink über, setzt sich an die Innenseite einer Vierergruppe mit Tisch, zieht die goldenen Schuhe aus und legt die Füsse nackt auf den Sitz gegenüber. Die Zehen sind kurz, unförmig und lackiert. Über den Gang brüllt sie ihrer Tochter das zu, was bei anderen Menschen Erziehung wäre. In Nürnberg steigen Menschen zu, die angesichts der Abgrenzung durch die Beine erst gar nicht auf die Idee kommen zu fragen, ob hier noch ein Platz frei wäre. Elektrozaun könnte nicht abweisender sein.

Ich weiss, man nimmt unsereins die Privatstrassen, die Hecken, die Mauern, die Regeln und die Überlegungen zu Standesgrenzen übel. Ich weiss auch, dass dieses Treiben meiner Klasse nicht zwingend in Ordnung ist, dass wir uns damit abschotten und zur Ungleichheit beitragen. Gleichzeitig aber erhält das unsere Welt am Leben, denn da draussen ist weder der Sozialneid noch der Klassenkampf das Problem, sondern schlichtweg die unfassbare Ignoranz jener Menschen, die dergleichen tun, und in deren Mitte sich niemand findet, der auf jenes Verhalten eine Sanktion folgen lässt. Da ist niemand, der intervenieren würde. Und ebenso, wie sich diese Menschen einen buchstäblichen Dreck um ihre Mitfahrgäste kümmern, würden sie sich um das kümmern, was die Schicht ausmacht, in der ich lebe. Gegen diese Welt und ihre Gleichgültigkeit, die Banalität ihres asozialen Treibens helfen Hecken und hohe Immobilienpreise ganz vorzüglich, besondere Wohnviertel und Anliegerstrassen auch, und zukünftig das dicke Blech meines schweren Sunbeams, das in den 50er Jahren noch aus dem Eisen der überflüssigen Panzer gewonnen mit Maschinen der Kriegsproduktion gestanzt wurde. Ich verlasse daheim den Zug, fahre heim und freue mich über das satte Geräusch, mit dem die Jahrhunderte alte Eichentür den Familiensitz gegen das Andere da draussen abschliesst.