Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das nicht existierende Selbstbestimmungsrecht der besseren Kinder

Die Existenz höherer Töchter und besserer Söhne setzt zwingend in Existenz der zugehörigen Mütter vorraus, und die sind folglich nicht nur höher, sondern gleich oben, und nicht nur besser, sondern auch besser wissend. Man nimmt sie mit der gleichen stoischen Ruhe, mit der der Kubaner sein Haus nach dem Hurrikan wieder aufbaut, man kennt das ja alles nicht anders. Nur ab und an, wenn man klatschnass durch die Wohnung rennt, ohne dass es wirklich nötig wäre, fällt einem die natürliche Ordung der Dinge ein: Keine bessere Gesellschaft ohne bessere Diktatur.

Ma mère es une femme impossible.
Sybille Bedford, Rückkehr nach Sanary

Ich habe Zeit. Ich nehme ein Bad. Kein Vollbad, aber doch eine gründliche Reinigung, und intoniere dabei, rücksichtslos und nicht leise, die Registerarie. Die Mauern sind dick, und es ist mein Haus. Ich habe immer noch Zeit und bin nicht mehr schaumgeboren, sondern nur noch nass, da zerreisst das Stakkato einer Klingelgarbe meinen Sangeslünste: Schirr schirr schirr – 2 Sekunden Pause – schirr schirr schirr – 2 Sekunden Pause – schirr schirr schirr – 2 Sekunden Pause – schirr schirr schirr – reichlich nass springe ich auf, hopse fluchend über die Perserteppiche des Empfangsraumes, vorbei an einer Galerie von Frauenbildnissen, die den Anblick sicher nicht adäquat finden, zur Sprechanlage und protestiere, das Unvermeidliche antizipierend: Es ist erst 20 nach! Wir hatten um halb ausgemacht! Darauf meine Mutter: Komm jetzt runter, sonst schaffen wir es nicht.

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Ich hatte für meine Mutter ein paar Besorgungen in der Stadt erledigt, und sie bot mir an, vorbeizukommen, die Einkäufe abzuholen und mich bei dieser Gelegenheit gleich zum Bahnhof zu bringen. Dieser liegt zwar auf der anderen Seite der Donau und damit in einem Viertel, in dem man nicht wohnt, stammt aber noch aus einer Zeit, da die kleine dumme Stadt an der Donau wirklich noch sehr klein, unrepräsentativ und ohne Elitestudenten war, und so dauert es nicht lang – 8 bis 10 Minuten, je nach Verkehr. Der Erwerb einer Karte für den Zug nach Frankfurt sollte nicht mehr als 5 Minuten in Anspruch nehmen. Es ist also legitim und richtig, um 18.30 Uhr aufzubrechen und um 19 Uhr den Zug zu nehmen. Aber nicht in den Augen meiner Mutter, die zwar die Zeit abgesegnet, dann aber für sich selbst als unpassend verworfen und mich folglich ohne Absprache aus der Badewanne gebimmelt hat. Bei all der Hektik finde ich natürlich meine Socken nicht, vergesse beinahe das moderne Sklavenabzeichen des Mobiltelefons, und bin um 18.31 Uhr an der Haustür.

Natürlich reicht die Zeit vollkommen aus, auch als am Bahnhof die Automaten streiken und die Schalterbeamtin meint, mich von den Vorzügen einer Bahncard angesichts dieser hoffentlich letzten Bahnfahrt für alle Zeiten überzeugen zu müssen. Und so stehe ich dann am Bahnsteig, pünktlich, abgehetzt und ermahnt, dass man  bei mir immer früher kommen müsse, sonst würde ich nie rechtzeitig sein, und immer auf die letzte Minute schickt sich auch nicht, und überlegte mir: Warum ist das so?

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Ich bin jenseits der 40. Ich bin erwachsen. Ich habe eigene Immobilien, ein eigenes Auto und morgen, wenn ich Glück habe, einen Zweitwagen, ich habe einen Beruf und Bücher geschrieben. Ich bin wahrlich nicht mehr jung und bedrohlich nah an dem, was man euphemistisch als “im besten Alter” bezeichnet. Kurz: Ich bin volljährig. Ich darf dem Ministerpräsidenten seine Tätigkeit für einen Vertrieb unsauberer Fonds vorhalten, ich darf wählen und Firmenimperien gründen. Trotzdem wüsste ich auf die Schnelle keinen Lebensbereich, in dem man mir nicht mit Ratschlägen käme, die ich besser befolgte. Oder gleich eine Politik anwendete, die man zwischen Staaten als Fait-accompli oder Kanonenboot-Diplomatie bezeichnen würde.

Und das geht nicht nur mir so. Niemand in meinem Umfeld würde diese matriarchalisch gesetzten Grenzen der Selbstverwirklichung hinterfragen. Das geht hier allen so, besseren Söhnen und Töchtern. Im Übrigen auch meiner Mutter. Denn meine Gossmutter fehlte nie, wenn sie anderer Meinung war zu sagen: Herr bin imma no I. Wenn sie dazu auf den Tischn klopfte, war damit die Diskussion beendet. Auch noch in ihrem 95. Lebensjahr. Und  meine Grossmutter hatte damit natürlich wie immer recht. Der Umstand, dass die Despotie der Grossmutter einer argumentierenden Diktatur der Mütter gewichen ist, ändert nichts an den allerorten anzutreffenden Machtverhältnissen: “Also, Herr Porcamadonna, was sagen Sie zu den Schuhen meiner Tochter. Das kann man doch nicht tragen. Das müssen Sie ihr ausreden.” “Da habe ich ihr gesagt: Kind, Du bist erwachsen, tu was Du willst, ich mische mich da nicht ein, aber…” “Beim besten Willen, Hannerl, das passt nicht zu uns… Ja, Schneck, natürlich ist das Dein Leben. Aber am Ende muss ich…”

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Man kennt das. Und das Gemeine ist: Es wird auch genau so akzeptiert. Meine begrenzte persönliche Freiheit erlebte ich vor ein paar Jahren, als meine Eltern die Loireschlösser besuchten und im Haus eine Heizung defekt war. Also rief ich beim alteingesessenen Schornsteinfeger an.

Firma Nissl?

Ja, guten Tag, Porcamadonna hier, Baudenkmal Siewissenschon, bei einer Wohnung im dritten Stock gurgelt der Heizkessel und wärmt nicht mehr richtig, könnten Sie jemanden vorbei schicken.

Jo, I kennt scho… Porcamadonna… ah, se san da Sohn von eanara Muada – hom’Ses iwahabt gfrogt, ob’S des deafa?

Meine Mutter ist in Urlaub, und natürlich darf ich, also bitte, würden Sie…

Oder wenn man etwas will, von dem man weiss, dass ich es ablehnen würde: Ruft man eben meine Mutter an. Die wird es dann ihrem Sohn schon sagen. Es dauert immer ein wenig, bis mir selbst dann klar wird: Das sollte eigentlich nicht so sein. Ist aber so. Als eine gute Freundin sich scheiden lassen wollte, sagte ihre Mutter: Kommt gar nicht in Frage. Das Elend zog sich noch ein Jahr hin. Von der alten Frau B., damals in ihren 90ern, wird berichtet, dass sie ihre an Rheuma leidende Tochter in den 70ern bechied: Arbeite, dann denkst Du nicht mehr daran.

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Die Bahnfart nach Frankfurt ist hässlich und schnell wie immer, und die Zeit reicht nicht aus, das Problem zu ergründen; weder die Macht, die hier usurpiert wird, noch die Bereitschaft, das zu akzeptieren. Es is wias is, sagte meine Grossmutter immer. Es fällt einem auch nur in Extremsituationen, plitschnass über den Perserteppich hüpfend, auf, und fraglos meinen sie es auch nur gut, wenn sie ihren Kindern alle Lebenserfahrung und Kompetenz absprechen. “Wenn Du  nur endlich auf eigenen Füssen stehen könntest, könnte ich ruhig sterben” ist auch so ein Spruch, den man sich mit 40 noch anhören muss. Und er beschreibt exakt das System der Herrschaftsabfolge:

Sind nämlich die Vorfahren tot, wächst man selber schlagartig in die Rolle des Befehlshabers hinein. Dann ist man nicht mehr nur der “junge Porcamadonna”, dann ist man der Porcamadonna. Reichlich spät und obendrein sinnlos, denn bei der niedrigen Vermehrungsrate gibt es nur wenige, die man noch herumscheuchen könnte.  Die Chancen also stehen gut, dass diese bessere Gesellschaft ohnehin ausstirbt und damit die Gesetze der Despotie mit in die Gräber nimmt, und bessere Söhne werden nach Frankfurt fahren können, ohne Angst haben zu müssen, ihre Mütter könnten die Drohung wahr machen und ihre Abwesenheit nutzen, mitsamt der Putzfrau in ihrer Wohnung einzufallen und die verlotterte Junggesellenbude unter Verletzung aller Intimsphären einmal so richtig sauber zu machen. Denn putzen kann er natürlich auch nicht. Auf den Bildern ist Staub! Alles muss man ihm machen. Der bräuchte ein gescheite Frau. Aber nicht so eine wie die Iris oder die Susi, denn die sind auch soichane, wie man von deren Müttern hört.