Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das stilvolle Überleben der Pandemie V: Die Rettung des jungen Alphonso

Ich gehöre noch zu der Generation, die vor dem Modernisierungswahn der Alpen einen letzten Rest dessen erhaschen konnte, was man früher nicht proletarisch "Urlaub" nannte, sondern gehoben "Sommerfrische". In den 70er Jahren konnte man mit etwas Glück noch so reisen und und so artig leben, wie man es vor hundert Jahren tat, die Hühner terrorisieren und beim Kartenspiel betrügen, bergwandern und Pfifferlinge sammeln. Mein wirklich sehr vorteilhaftes Bild von Südtirol und Meran stammt aus jener Zeit, und im Gegensatz zu meiner Reisebegleiterin ist es auch heute noch ein Traum ohne Trauma.

Kinder (durcheinander, gurgelnd) : In Tiroll – in Tiroll – im schönen Land Tiroll!
Maria (entsetzt): Gott, ist das eine verknödelte Gesellschaft!
Oskar Panizza, Das Liebeskonzil

Fahr nicht so schnell, sagte meine Mutter, aber wir hopsten natürlich unangegurtet auf dem Rücksitz und riefen Schel-ler Schnel-ler, und dann tat mein Vater das, was ihm auch Spass machte, trat das Gaspedal durch, und die Nadel des runden Tachos zitterte sich den 170 entgegen. Auf der linken Spur brauste der signalgrüne – die Farbe hatten wir Kinder stilsicher ausgesucht – Audi 100 GL das Inntal entlang, und dann wich mein Vater auf die Brenner Staatsstrasse aus und jagte den Wagen über all die Kurven hoch zum Pass, wo meine Schwester, im Gesicht nun ebenfalls signalgrün, zum Beweis ihres damenhaft nervösen Magens kotzte. Dann fuhren wir weiter. Nach Südtirol, in die Nähe von Brixen, auf einen Bauernhof.

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Wir waren sehr oft in Südtirol. Zum Skifahren sowieso, und auch im Sommer. In Meran, im Vinschgau, im Grödnertal. Meine Ärzte waren noch vom alten Schlag und hatten mir, ganz klassisch, wegen des Heuschnupfens Höhenluft verschrieben. Mein Onkel, seines Zeichens Schuldirektor eines berüchtigten Sportlergymnasiums am Rand der Berge, kannte einen besonderen Hof hoch oben über Brixen, dessen Besitzer ausgewählte Gäste aufnahm. Dort oben war ein Professor und seine Frau, drei ältere Damen aus dem Rheinland, mein Onkel und meine Tante, meine Eltern, wir Kinder und der Hofbesitzer. Damit war der Mikrokosmos des guten, alten Westdeutschlands voll, und der Urlaub konnte beginnen.

Ich schreibe ja oft etwas, sagen wir mal, despektierlich über Sommerfrischler in Südtirol. Mir ist durchaus bewusst, dass dieser Landstrich zwischen Österreich und Meran als spiessig gilt, und natürlich habe ich auch so meine Probleme. Aber das erste, was mir bei Südtirol einfällt, sind nicht die Reste der k.u.k.-Herrlichkeit und die letzten Ausläufer deren Sommerfrische, die ich noch weitgehend unzerstört erleben durfte. Was mir in den Sinn kommt, bin ich selbst am Fusse eines kleinen Berges, auf dem Rücken eine viel zu grosse Kraxe und in der Hand ein Beerenrechen. Vor mir ist der Berg, und er ist voll mit Preiselbeerbüschen. Überall rote Preiselbeeren. Ein Meer von Früchten. Auf dem Weg nach oben räume ich die Sträucher ab, bis die Kraxe voll ist. Auf dem Weg nach unten verderbe ich mir den Magen an Brombeeren am Wegesrand. Ich bringe die Preiselbeeren in die schwarzgerusste Kuchel, und dort steht Louis am Holzherd, kippt die Beeren in einen riesigen Topf, und schüttet Zucker dazu. Heisses Preiselbeerkompott, aus dem Topf gestohlen, das ist Südtirol. Ich esse, bis mir schlecht werden sollte, aber mir wird nie schlecht.

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Am Morgen standen wir auf. Es gab kein fliessendes Wasser im Haus, nur Waschkommoden, Kannen und Schüsseln, Standard von 1900. Waren wir fertig, gingen wir mit den Schüsseln auf den Balkon und lauerten auf die Hennen. Jeder lauerte auf die Hennen. Das war der Frühstückssport: Hennen unter Wasser setzen. Nicht nett. Aber eine Henne, die fühlt, was auf sie herabstürzt, die Flügel zur Flucht spreizt und nach einem Schritt vom Inhalt der Schüssel – nicht nett, noch dazu, wenn man sich der Jagderfolge beim Frühstück brüstet und deren Eier isst. Aber ein Höllenspass.

Die alten Damen aus dem Rheinland waren noch echte Damen. Damen, die sich dreimal am Tag umgezogen haben. Sehr distinguiert, elegant, gebildet. Mit uns Kindern spielten sie im Wintergarten Rommée, wenn am Abend die Sonne den Schlern blutrot färbte. Sie brachten uns bei, wie man unauffällig in ander Leute Karten blickt, wie man das Blatt zinkt, wie gut man Kreuz und Karo mischen kann, ohne dass es auffällt (bei den kleinen Zahlen schaut keiner so genau hin), wie man Handrommée vorbereitet und beim Klopfen auf den richtigen Moment wartet. Sie waren echte Damen, durchtrieben und von krimineller Energie beseelt, mit Lust am Betrügen und daher sehr katholisch, und den gesammelten Topf durften wir Kinder dann am Freitag in Brixen in Eis umsetzen, woraufhin meiner Schwester schlecht wurde, und sie beim Rückweg wieder kotzte.

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Wir machten Wanderungen. Die ganze Plose, den ganzen Schlern, die Mittagsscharte und die Rosszähne. Im Donautal wäre ich beinahe wegen der Pollen krepiert, hier stürmte ich die Geröllfelder, sprang in und über Bäche, trank Plosewasser und ass alles, was am Wegesrand wartete. Erstaunlicherweise wurde mir dabei nie schlecht, nur meine Schwester lief signalgrün an und, naja. Ich streichelte Kühe und lernte, mit der Sense umzugehen, ich hackte Holz, rechnete Heu zusammen und hütete ab und zu auch Ziegen. Es gab dort oben keinen Pool, keinen Fernseher, kein Radio und keine Touristenattraktion, nur Wald, weiter oben Latschen und dann die Felsen. Jeden Morgen kam der Postbote, brachte die Post aus Deutschland und nahm die Postkarten mit, und Louis schenkte ihm einen selbstgebrannten Obstler ein. Alle tranken Obstler. Ich will nicht sagen, dass die Gäste am Abend besoffen waren, aber die Stimmung war sehr gelöst und heiter, was naturgemäss in meinen Kreisen nicht die Regel ist – ausserhalb des Urlaubs erst recht nicht. Es gab Luft, langen Schlaf und freies Atmen. Das mag banal klingen, aber für einen Allergiker ist es die Erlösung. Hätte es so etwas wie eine Kurzeitung noch gegeben, hätte sie geschrieben: “St. Andräa/Brixen: Bedeutende Gesundung ist auch vom jungen Herrn Porcamadonna zu vermelden. Nur wenige Tage nach seiner Ankunft scheint der Knabe wieder vollkommen hergestellt. Kurärzte führen das auf die gute Luft an der Plose, die Bewegung und das natürliche Essen zurück.”

Später war ich auch in Geldangelegenheiten in Davos, beim Skifahren in Chamonix, ich besuchte den Dom in Lausanne und die karolingische Kirche von Müstair, ich war in Kitzbühl, Lech, Ischl, am Wolfgangsee und den Lago di Como, sehr oft in Innsbruck und Salzburg, sogar in Wien war ich und habe es überlebt, ich fahre leidenschaftlich gern Pässe, und heute wohne ich die Hälfte meiner Zeit direkt auf dem ersten Nordhang der Alpen. Das ist alles wirklich hübsch, nur die Österreicher, diese Schluchten-Ossis, die hätte es nicht, aber gut… Tirol mit seinen Gartenzwergfaschisten ist nicht mein Ding, aber Südtirol, das ist es. Es riecht anders, die Luft ist leichter, der Himmel ist wirklich blauer, nicht das schmutzige Graublau von Berlin oder das bayerische Hellblau, es ist ein schon mediterranes Reinbeissblau, satt und kräftig. Am Brenner lebe ich auf und am Jaufenpass denke ich immer an Heines Italienreise, wo zu Beginn ein Bayer, der das Ziel vernimmt, aufspringt, sich dreht und dreimal Tirili singt. 

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Natürlich hat sich vieles verändert. Die altem Landgasthäuser am Brenner sind aufgegeben und zerfallen, der Gastwirt und die meisten Gäste von damals sind tot, der Hof wurde umgebaut und umgebracht, ich esse keinen Speck mehr, der damals im Rauchfang über dem Feuer hing, und der signalgrüne Audi 100 ging den Weg allen Rostes. Aber Meran ist immer noch so kitschig schön wie zu meiner Kindheit, der Wein riecht immer noch betörend, und selbst in meinen schwärzesten Momenten fällt mir nichts Böses über die Bewohner ein. Ich verliere hier jedes Interesse an Nachrichten, Hauptsache, es gibt im Cafe Imperial noch Haselnusscremetorte. Ich werde ein freundlicher Mensch, ich freue mich über stilsichere alte Damen mit viel Schmuck und Terrier, für den sie ein Tuch dabei haben, um ihn auf den Schuss und ihre Marlene-Dietrich-Hose zu nehmen, und Rollstuhlschieber am Ende des gemeinsamen Lebens. Ich höre sogar auf, mich über Kinder zu ärgern. Meistens.

Und ich kann nicht verstehen, wie man das alles nicht lieben kann. Als ich zum ersten Mal mit der Reisebegleiterin nach Italien fuhr, machte ich ihr den Vorschlag, doch über Meran zu fahren. Hätte ich ihr vorgeschlagen, zu Roland Kochs Sommerfest zu fahren, wäre die Begeisterung nicht kleiner gewesen. Scheinbar ist es möglich, sogar hier möglich, Menschen dieses Land zu verleiden. Für mich, der ich um all die einfachen Herrlichkeiten der alten Sommerfrische weiss, ohne ihre Schattenseiten wie Tuberkulose, Aderlässe oder Klassendiktatur erdulden zu müssen – für mich war es herrlich. Es ist vom Kartenzinken über die Preiselbeeren bis zum Geschirr abwaschen der ideale Ort der Herzensbildung der Kinder der besseren Gesellschaft, wo sie alles lernen, was sie später brauchen können.

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Natürlich brüllten wir auf der Heimfahrt nicht Schnel-ler Schnel-ler. Niemand wollte heim, in die Unfreiheit der Schule, in den engen Rahmen des Lebens in der Stadt, in die Verpflichtungen und, wenn ich ehrlich bin, auch nicht in die Sonntagskonzerte. Ich glaube, es ist ein guter Ort, um der Pandemie zu entgehen, und sicher kein schlechter Ort, um den Nachwuchs meiner Gesellschaftsklasse ordentlich aufzuziehen. Im Idealfall blicken die Kinder später voller Verachtung auf jene herab, die in die Spiesser- und Piercinghochburg Mallorca fliegen und sich dort an Schweinegrippe anstecken müssen, weil sie es nicht anders kennen. Aber bitte – sollen sie. Vor hundert Jahren war Südtirol bei meiner Klasse beliebt, weil nicht jeder kommen konnte. Heute schätze ich es, weil nicht jeder kommt.

(Morgen folgt von Andrea Diener nach diesem Traum Südtirol das Trauma Südtirol)