Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Briefe aus Stresa III: Die Villa Bersani im Hotel du Parc

In den letzten Jahren habe ich viele Hotels erlebt, und zu den meisten habe ich geschwiegen: Mieträume auf Zeit, Zimmer für Tage, man zahlt und bekommt eine Dienstleistung, vom komplett heizungsfrei erhaltenen Gasthof im novemberlichen Wienerwald bis zum komplett charakterlosen Fünfstern-Hotel in einem lausigen Kaff namens Köln a. Rhein. In Stresa am Lago Maggiore jedoch gibt es ein Hotel, da bucht man ein Zimmer und bekommt einen mondänen Salon der Zeit um 1900, in dem man auch schlimmste Regentage gern verweilt und mit der Chefin des Hauses über die grosse Vergangenheit plaudert

Mir ist es nicht selbstverständlich, im Hotel du Palais abzusteigen, der Apparat würde auf mir lasten.
Kurt Tucholsky, Ein Pyrenäenbuch

Fährt man von Scoul über Zuoz nach St. Moritz und weiter zum Malojapass und dann hinunter an den Comer See, liegen die alten Palasthotels wie an einer Perlenkette nebeneinander, mit St. Moritz als reichlich misslungenem, weil zu protzigen und nach saudischem Geschmack aufgedonnerten Diadem in der Mitte. Bei manchen weiss es der Kundige, weil es mitunter von Kollegen als Investmentgelegenheit angepriesen wird, bei anderen hängen riesige Plakate an den Seitenfassaden und verkünden es: Hier kann man nicht nur Urlaub machen. Man kann hier auch komplette Wohnungen bekommen; manchmal, wie im Des Bains in St. Moritz, in einem extra angebauten Flügel, manchmal aber auch, und da verschweigt man die Namen, innerhalb des Hotels. Mitunter ist es sogar so, dass man die alten Gebäude komplett in Wohnungen zerlegt und den Hotelbetrieb, der den grossen, alten Namen nicht mehr verdient, in einem modernen Anbau abwickelt.

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Anders, versichern einem die verantwortlichen Manager, könne man heute Grand Hotels oft nicht mehr betreiben, denn der bessere Tourist Europas sei nicht mehr das, was er einmal war: Aus dem Reisenden, der in der Sommerfrische in gemietetem Prunk residieren möchte, wurde der Besitzer, für den die Zweit- oder Drittwohnung ebenso sein muss, wie die eigene Einrichtung. Das Schwimmbad, das Restaurant, die Tennis- und Golfplätze und das Personal nimmt er gerne mit, aber des Abends tanzt er nicht mehr im Ballsaal, er will auch keinen festen Essenszeiten mehr folgen, und ausserdem, wenn er mal alt und krank wird und wirklich nicht mehr reisen kann, wird es seine Luxusseniorenresidenz. Das sagt keiner offen, aber es ist so: Das Schicksal der Grand Hotels ist die Verwandlung in bessere Gerontologieabteilungen. Entsprechend wird entkernt und umgebaut, verändert und angepasst, und von der originalen Einrichtung überlebt ohnehin so gut wie nichts die diversen Modernisierungen. Kurz, es bleibt vom Grand Hotel nur der grosse Name, der Anspruch und die Fassade. Der Verfasser dieser Zeilen, der ebenfalls zwischen vier Wohnungen an drei Orten wählen könnte, wäre im Übrigen der Letzte, der sich über diese Entwicklung beschweren könnte – auch, wenn sie ihm nicht gefällt.

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Die Lösung des Problems wäre also eher ein Hotel, das exakt jenen gewünschten Eindruck eines Rückzugsortes der besseren Gesellschaft bietet, die Grösse und Behaglichkeit einer Villa und eine ungebrochene Tradition von der grossen Zeit des Reisens um 1900 bis heute. Und während draussen im schönen Stresa zwei Tage lang monsunartige Regenfälle niedergingen, hatte ich Gelegenheit, so ein Konzept – das eigentlich gar keines ist, sondern gelebte Geschichte – auszuprobieren, und mit der Chefin des Hauses zu reden. Sie ist zu Beginn noch verhindert, denn der Gast in Zimmer Nummer 5 weist sie darauf hin, dass es in diesem Hause spuke, was angesichts der Geschichte der Villa Bersani – seit 1952 Hotel du Parc – nicht sonderlich überraschend wäre. Wir treffen uns nicht in der Lobby, denn der Empfangsraum des Hotels ist sehr klein, sondern im Salon. Der Salon ist nicht, wie in Hotels üblich, ein Ort des Transits, der die Möglichkeit des Verweilens für eine begrenzte Zeit erlaubt, sondern der Salon der Villa Bersani. Seit der Zeit um 1900 hat sich hier nicht mehr als gerade nötig getan.

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Denn bevor das Hotel du Parc entstand, war das Gebäude und der hauseigene Park eine Sommervilla einer reichen Schneiderfamilie aus Mailand. Der beauftragte Architekt musste nicht sparen und schuf eines jener Sommerhäuser, die nicht nur ein Zweitwohnsitz für das Grossbürgertum, sondern auch öffentliche Manifestation eines bestimmten Bewusstseins sind: Eine Selbstsicherheit, eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung, eine innere Haltung, die entsteht, wenn man sich mit eigener Kraft wirklich etwas Besonderes geleistet hat. Ausgewogen könnte man die Villa Bersani nennen, im Gleichgewicht, ein Ort für die unbeschwerte Kindheit und ein geruhsames Alter, für die schönen Seiten des Lebens – 1952 starb der Sohn der Familie in jenem Haus frühzeitig, ein grosses Unglück, erzählt die Signora, und nie wieder sollte die Familie das Haus betreten. Es wurde geschlossen und an den Schwiegervater der Signora verkauft, der in ein Hotel als Ergänzung zu seinem feinen Restaurant umwandelte.

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Aber nicht wirklich umbaute. Und so sind die Salons der grossen Zeit der Bürgertums erhalten geblieben, mit ihren venezianischen Leuchtern, den Imaritellern an den Wänden, dem wunderbaren Parkett mit seinen kleinen Einlegearbeiten, den innenliegenden Fentserläden, den Doppelflügeltüren, mit denen man aus den Salons einen grossen Ballsaal machen kann, und mehr noch: Was verändert und angebaut werden musste, wurde ausgehend vom Geist des Salons entwickelt. Niemand beging das Verbrechen, die alten Fenstergläser auszutauschen, und der Tisch, an dem wir sitzen, trägt die Patina von mehr als 100 Jahren mit Würde. Dem ältesten Muranoleuchter fehlen, wie das immer so ist, ein paar Teile, es ist wie bei mir daheim, man kennt das: Nichts durchschreitet die Zeiten ohne Spuren, aber manches besteht gegen die Schleifsteine der Alterung, wo anderes zerrieben wird. Die Villa Bersani hatte das seltene Glück, Besitzer zu finden, die nicht wie heutige Hotelmanager alles nach Renditegesichtspunkten entscheiden; sonst wäre der später angebaute Frühstücksraum sicher schlichter und moderner, oder, um das schlimme Wort in den Mund zu nehmen, praktischer ausgefallen.

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Man kann lange Regentage damit zubringen, all die Details zu entdecken; die schmiedeeisernen Jugendstilgeländer etwa mit ihren hölzernen Handläufen, die nach 100 Jahren Benutzung die immense Qualität erfahren lassen; die geschwungenen Fensterlaibungen und die verspielten Fenstergriffe. Die Signora sagt, dass sie Auflagen wie Brandschutztüren natürlich erfüllen muss, und man merkt, dass sie dem Haus und seiner Substanz dabei keinen Schaden zufügen will. Es gibt gewisse alte Häuser, die so hochwertig sind, dass sie auch mit solchen Veränderungen, so sie behutsam und mit Augenmass eingefügt sind, spielend fertig werden. Es mag sein, dass dieses Hotel für Freunde schlichten Designs und moderner Kühle ein Horror ist, aber, möchte man ihnen zurufen, nach zwei Tage Dauerregen sucht man in einem kühlen Designhotel mit grossen Fensterflächen einen Designerhaken, um sich daran mit einem Designerstrick aufzuhängen – im Hotel du Park setzt man sich den grossbürgerlichen Salon der Villa Bersani und hat, nebenbei bemerkt, jenes kostenlose WLAN, wegen dessen extrem kostenpflichtigen Cousins im Designhotel es beim Aufhängen vermutlich bei den verknoteten Ärmeln des letzten Hemdes bleiben muss.

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Gewisse Dinge – kann man so und so sehen. In Stresa hat man die Wahl zwischen dem ungedämpften Strassenlärm der Hotels vorne zum See und manchmal vorbeifahrenden Zügen hinten bei den Zimmern zum Park wie unsere grosszügige Räumlichkeit, die aber auch Seeblick hatte – hier jedoch dämpft der Park. Manche werden anmerken, dass die feinen Kiesel am Ende der Auffahrt – ein begrünter Traum mit Serpentine! Man wünscht sich sofort einen alten Bentley, und mindestens einen Tag nur zum auf- und abfahren – trolleyfeindlich sind; wir aber, die wir im Regen der im Wagen sitzenden Dame den französischen Schweinslederkoffer hinterher tragen, sagen: Geschieht Euch recht! Reist gefälligst wie alte Europäer und erfreut Euch am Knirschen! Freunde zubetonierter Landschaften und Gewerbeparks werden vielleicht den üppigst wuchernden Park als zu grün ansehen, und die ebene Fläche für das Federballspiel findet man nur, wenn man die im Park des Hotels versteckte Tür zum ehemaligen Küchengarten aufdrückt.

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Kurz, wir haben den Aufenthalt im alten Europa sehr genossen und hoffen, dass die Villa Bersani noch lange als Hotel du Parc bestehen bleibt, mit einer verständigen Signora und einer Tradition fern aller Kommerzimmobilien. Man kann sich in Luxushotels wie ein russischer Oligarch oder deutscher Startup-Unternehmer ausnehmen lassen, man kann den *****-Prunk von Fondsbetrügern mieten, oder den Plunder hochbezahlter Modeinnenarchitekten: Wie schon im Fall der Villa Saxifaga bei Meran ist es hier das Beste unserer eigenen Geschichte, in dem man die Regentage staunend und, nachdem man keinen Kronleuchter mitnehmen kann, auch sehr neiderfüllt zubringt.

https://www.duparc.it/index.html, geöffnet von März bis Oktober.