Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Jung, dumm und glücklich dank 68

Also, ich finde die 68er sicher besser als die 18er, die 28er, die 38er sowieso, die 48er sollen auch nicht so prickelnd gewesen sein, und die 58er hatten gerade mal ein Goggombil. Die 68er dagegen hatten Spass und waren auch so freundlich, ihren Kindern etwas davon mit ins Leben zu geben, wie das Versprechen, dass sie eines Tages einfach aufbrechen würden, die Heimat hinter sich lassen und auf einem Berg sitzen und meditieren. Das mit dem Meditieren hat zumindest in meinem Fall nicht funktioniert, aber dafür geht es mir prima, der Kofferraum ist voller Speck, und ich verstehe überhaupt nicht, was all die Gegner von 68 überhaupt dagegen haben können.

Die Welt hatte aber gar nicht die Absicht zusammenzustürzen, ob nun Paolo Rubini ins Büro ging oder nicht.
Silvio Toddi, Einmal Venedig und zurück

Gemeinhin wird in gewissen deutschen Medien bis hinab zu den Wurmgebüchsen der Oligarchie behauptet, die 68er hätten Deutschland so umluxuriös, gleichmacherisch und genussfeindlich gemacht, ganz so, als hätte es zu Adenauers Zeiten kein Eisbein in Aspik gegeben. Dabei wurde das logistische Rückgrat der besseren, eisbeinfreien Gesellschaft – die im Übrigen am eigenen Leib von 68 so viel merkte wie von einer Hungersnot in Nordkorea – durch den Kapitalismus gebrochen. Denn mit dem Kaufhäusern und ihren Feinkostabteilungen wurden in den Städten die Feinkostläden umgebracht und ausgerottet, und sobald die Konkurrenz weg war, verschwand in den Kaufhäusern auch die Feinkostabteilung, da es sich angeblich nicht lohnte. Italien hatte 68 die Roten Brigarden, Frankreich schwere Strassenschlachten, Österreich eine dicke braune Tradition, und alle haben sie trotzdem ihre kleinen Feinkostläden behalten. In Deutschland gibt es noch ein paar grosse Feinkosthändler und Markthallen mit extrem überzogenen Preisen, wo man banalsten Südtiroler Speck für eine exklusive Sache hält und Hirschwurzen der Ortlerregion als Delikatesse anpreist, obwohl man in den Bergen die zu zahlreichen Tiere zwangsweise abschiessen muss.

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Im übrigen war 68 eine kurzlebige Erscheinung ohne tiefere Bedeutung, ausser dass man Willy Brandt wählte, Kinder nicht mehr prügelte und Mao vermutlich mit weniger Begeisterung lass, als heute Merz und Hayek. Kann ja sein, dass man der Jugend in den 60ern die Weltrevolution und in den 70ern die freie Liebe versprach, wie man ihnen in den 30ern Lebensraum im Osten zusagte, und ab Mitte der 40er ein paar Konservendosen. In den 80ern lautete das allgemeine Versprechen an die immer noch, aber nicht mehr ganz so dumme Jugend mit 68er-Eltern schon: Eines Tages wirst du mit deinem Sportwagen nach Italien fahren, das Wetter wird grandios sein und der Anlass vollkommen nichtig. Du wirst den Anlass einfach konstruieren. Du wirst deine Freunde in Berlin und Frankfurt fragen, was dort für italienische Spezialitäten verlangt wird und was sie haben wollen, du wirst merken, dass deine Frau Mama den ganzen Espresso aufgebraucht hat, und wenn sie am nächsten Tag zu Besuch kommt, möchtest du mit Parmaschinken aufwarten. Aus Italien. Und so kommt es auch. Man fühlt sich wieder jung und angenehm dumm, als man die Ausfahrt zu einem Akt des Widerstandes gegen das Diktat der Warenhäuser und das von Unkundigen inszenierte Geschmäcklertum in Frankfurts Kleinmarkthalle deklariert.

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Also, ich weiss zwischen den Kurven und Rampen oberhalb von Innsbruck wirklich nicht, was die alle mit ihrem Hass auf die 68er haben.  Dass ich hier bin, verdanke ich nicht dem Kapitalismus, der mir Schinken für 69 Cent aus Formfleisch anbietet, ich verdanke es einer gewissen Grosszügigkeit der Erziehung, Kinder einfach mal was machen zu lassen. Als ich 16 war, hatten meine Eltern nichts dagegen, dass ich nach Südfrankreich geradelt bin. Ich durfte allein nach Florenz und mich dort selbst durchschlagen, auch wenn ich die wichtigsten Punkte – die Museen, die Kirchen, Pineider, ein paar Restaurants – schon von meinen Eltern her kannte. Vielleicht liegt der Hass einfach daran, dass die damals andere Eltern hatten, die ihnen all das nicht erlaubten. Ich kannte einen Jungen, dessen strenge Eltern zwei Drogeriemärkte hatten, die von den Ketten in den Ruin getrieben wurden, und die Leuchtreklame lag bei denen im Garten – der ging dann zur Jungen Union. Wir nicht. Wir waren links, und heute fliege ich über den Brenner und dann hinunter nach Sterzing. Vielleicht sammelt er heute Wahlplakate ein. Was weiss ich.

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Ich weiss allerdings genau, wo ich amSonntag in Sterzing Apfelstrudel bekomme, selbst wenn die beliebte Konditorei Häusler, bei der wir immer waren, geschlossen hat. Weiter oben ist die Konditorei Prenn, die auch nicht schlechter ist. Es ist wie früher, ich kaufe den Strudel gleich nach Kilo, das macht man hier so. Dass vor mir ältere italienische Männer in Jeans und mit Baseball-Kappen sind, finde ich jetzt nicht so toll, früher trugen die meistens noch Anzüge wie Marcello Mastroianni, aber das liegt vermutlich nicht an 68, sondern am amerikanischen Beitrag zur Globalisierung. Zufrieden gehe ich zurück zum Wagen, fahre wieder Richtung Brenner und halte an einem Ort, an dem man mich nach den Äusserlichkeiten nicht erwarten würde, aber so ist das eben, wenn man der Globalisierung und dem Diktat der Märkte entgehen will.

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In diesem niedrigen Betonbunker nämlich, der die Kulisse eines Südtiroler Road Movies abgeben könnte, gibt es auch am Sonntag die typischen Produkte des Landes. Speck von Rossi aus Sterzing, Kaminwurzen von Gasser aus Klausen, und Hirschwurzen von Siebenförcher, deren Laden unter den Lauben von Meran – so könnte man das schwärmerisch in der Kleinmarkthalle anpreisen und an Banker verkaufen, die Qualität preisen und winzige Stückchen zum Probieren hinlegen und danach auch noch einen überteuerten Modewein anbieten – nun ja. Hier ist es normal. Ich nehme gleich etwas mehr mit. Auf der anderen Seite der Berge gibt es davon vermutlich nie genug.

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Natürlich kann man auch auf der anderen Seite der Berge Speck räuchern, aber der schmeckt dann nicht nach dem Holz der Berge, und statt der Gewissheit, dass die Tiere ein sauberes Leben in den Bergen hatte, bekommt man irgendwelche Nachweiszertifikate. Aber auch das ist so eine 68er-Haltung, der manche einen schnellen Tod wünschen, zusammen mit der Einführung von genetisch veränderten Nahrungsmitteln und –  angeblich keinesfalls schlechterer – Massenproduktion.  Ich finde ja, dass man allen Öko-Kritikern, die heute etwas gegen ökologische Ernährung vorbringen und meinen, damit solle jetzt wieder Schluss sein, lebenslang altdeutsches Eisbein in Aspik geben sollte, damit sie mit gutem Beispiel vorangehen. Ich denke, sie werden das als “lecker” bezeichnen, oder in ihren proamerikanischen Varianten “yummie“, das passt zu ihnen. Ab und zu gibt es ein Hähnchen aus weissrussischen Beständen, die mit dem Medikamentencocktail. “Heute bleibt die Küche kalt, heut gehen wir in den Wienerwald”, titelte in den 70ern ein dem Franz Josef Strauss nahestehender Hendlbrater. Das war Anti-68. Bei uns wurde immer mit drei Gängen gekocht.

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Voll beladen bedaure ich es fast, keine Hemden mitgenommen zu haben. Wie wäre es jetzt, denke ich mir, spontan noch zu bleiben, wie meine Eltern das auch taten, die sich nie an exakte Zeitpläne hielten, und die Gelegenheiten nutzten, statt im Pauschalurlaub zu nehmen, wofür man bezahlt hatte. Nach links ist die Strasse gerade frei, es ist erst halb zwei, ich muss noch nicht zurück, also biege ich nach Süden ab und dann nach Westen, Richtung Jaufenpass. Man hat es uns versprochen, die Sache mit dem Cabrio, dem Süden, dem schönen Wetter, tu was du willst, und das mache ich auch, und die Mariazeller Messe lässt mich hinauf zum Pass fliegen, weit entfernt all der vernünftigen Volvos und was sonst man so fahren mag, wenn man sein eigenes Leben und das der anderen gern in globalisierten Blau- und Grautönen haben möchte, ein Dasein wie in der Bankenwerbung. Entsetzlich unbunt ist dieser neue Konservativismus, finde ich, so steif, so gebügelt, und mir ist es im Licht so egal, so unfassbar egal, dass mein Leinensakko gerade beim Schleudern durch die Kurven knittert.

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Dann bin ich oben. Vor mir das Passeier Tal, in 30 Kilometer Entfernung wäre Meran. Hätte ich nur Hemden dabei, dann könnte ich… aber wohin dann mit dem Käse und dem Fleisch, wie von dort wieder loskommen, wenn man schon mal dort ist. Manchmal frage ich mich, ob diese korrekten Leute in ihren korrekten Anzügen nicht auch die Lust verspüren, so etwas zu tun, oder ob sie einfach nur indolent sind wie jener Einkaufsmanager der kleinen, dummen Stadt an der Donau, der sich laut Anklage mit über 800.000 Euro hat bestechen lassen und ohne Schuldbewusstsein argumentiert, davon habe ja auch seine Firma profitiert, und das sei so üblich gewesen, altes Herkommen gar. Wie wird man so? Wieso macht man es sich so einfach? Ich fühle mich recht jung und etwas dumm hier oben, glücklich sicher auch – ich nehme einen Schieferstein von der Höhe mit, um ihn in meinen Garten zu legen, um mich an diesen Tag zu erinnern. Ein Stein als Andenken. Das ist sehr 68, nehme ich an, und nicht Feng Shui, aber ich mag es.

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Natürlich brauche ich, wie die anderen auch, solche Orte zur Selbstvergewisserung. In meiner Berliner Zeit habe ich diese Höhlen der neukonservativen Entscheider auch besucht, ich fand das Essen in der Bertelsmannstiftung nicht so gut, die Hostessen irgendwie zu devot und charakterlos – wie hält man diese Männer dort eigentlich den ganzen Tag aus, ohne Gemeinheiten zu tuscheln? – und das gegenseitige Bestätigen der Transatlantiker sehr gezwungen. Ich mag deren Stilbaukästen mit USM und Eames seitdem nicht mehr besonders, und auch nicht diese massgeschneiderten Lebensläufe und die vereinheitlichte Ausdrucksweise, die ziemlich sicher den Funktionen von Powerpoint geschuldet ist. In zwanzig, dreissig Jahren, nehme ich an, wird uns diese Ästhetik erscheinen wie alte Aufnahmen aus dem Politbüro der DDR, dessen Insassen – übrigens, dass diese neuen Konservativen auch ein Faible für die Jagd entwickeln, ist auch so eine Sache, die sie mit den nach oben gespülten Kadern der DDR gemein haben. Drüben an der Strasse kommt etwas, was eher mein Rollenmodell für das Alter wäre, da grauschiebelt es aus einem quietschroten 911er Targa aus den 70er Jahren.

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Die kommen sicher von Meran zurück, fein für sie, sie hatten Wäsche dabei. Daheim stand mein Louis-Vuitton-Koffer mit den Hemden, den ich nicht mitgenommen habe. Das ist übrigens auch so eine Sache, natürlich haben die 68er mein Leben positiv geprägt und das Land zu seinem Besten verändert, aber deshalb laufe ich nicht mit Latzhosen rum oder bohre mir wie gewisse Leute das Schmalz aus den Ohren, wenn der Saal für die Präsentation verdunkelt wird, bestes Berlin mit Blick auf die Spree. Die Batiktaschen sind verschwunden, ein Irrweg, aber ich glaube nicht, dass die Klapprechnertaschen der entscheidenden Bürosklaven später mal dem gleichen Schicksal negativer Beurteilung entgehen werden. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das Photoalbum so eines Anti-68ers aussieht; vermutlich wie eine Bewerbungsmappe für eine Beratungsklitsche.

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Ich drehe um, ärgere mich noch ein wenig über die vergeudete Gelegenheit für eine Nacht in Meran, gleite entlang den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs hinunter ins Inntal, und über dem bergklaren Zillertal steht später der Vollmond. Es ist bitterkalt, aber ich fahre immer noch offen, ganz eins mit den Bergen und der kalten Luft über mir, und packe am Tegernsee aus. Unter dem Strudel und den restlichen Einkäufen ist eine grosse, flache Ledertasche; meine seit Wochen vermisste Steamerbag jenes beliebten Luxushauses, die ich verzweifelt suchte, weil darin ein paar neue Hemden und andere Wäsche verstaut waren. Und sogar eine Krawatte, etwa für ein Kurkonzert in Meran.