Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Nah am Wasser gebaut

Die besten Freunde des Archäologen sind Brände und Überschwemmungen, denn in deren Schichten findet man von jenen Dingen am meisten, um die sich die Besitzer in der Not nicht kümmern konnten. Umgekehrt versuchte der Mensch der Vergangenheit, Exzessen von Feuer und Wasser so gut wie möglich vorzubeugen, und je mehr Besitz er hatte, desto besser gelang ihm dies. In unseren Zeiten jedoch verbrennt man sich in besserren Kreisen mit Aktien und Derivaten die gierigen Hände, und möchte partout dort wohnen, wo das Wasser ab und an in den Keller drückt. Erstaunlich.

  “Und was macht dein Daddy so?” “Zahnarztsohn.” “Hey! Sehr schön.”
Die Stehkrägen

In der Archäologie kennt man den Begriff der Ortskontinuität. Darunter versteht man die Neigung von Sozialsystemen – und hier besonders Städten – gewisse Einrichtungen immer am gleichen Ort zu errichten. Hat man also eine barocke Kirche, kann man davon ausgehen, dass sie auf den Fundamenten des gotischen Vorgängerbaus steht. Die alten Handwerkerviertel finden sich stets dort, wo auch heute noch Handwerkerhäuser stehen. Die Stadtverwaltung ist immer am gleichen, zentralen Platz. Und die Reichen –

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sind weg. Haben ihre Häuser in aller Regel nahe des Wassers errichtet. “Westviertel” sind fast immer “Seeviertel”, wenn ein stehendes Gewässer in der Nähe ist. Man überlässt keinen See den Armen. Baute man in allen Zeiten als Reicher gemeinhin direkt an den Hauptstrassen möglichst hohe Häuser, und galt im 19. Jahrhundert sogar das grosse Haus an der Eisenbahnstrecke als erste Adresse, verabschiedeten sich die Reichen mit dem Einsetzen der Industrialisierung aus ihren angestammten Gebieten, und zogen, soweit möglich, ans Wasser, wo zuvor nur Fischer, Gerber und arme Schlucker Angst vor dem nächsten Hochwasser hatten. Ausgerechnet die Stützen der Gesellschaft entflohen nach über einem Jahrtausend der urbanen Dominanz an einen Ort, wo bis dahin eigentlich keiner sein wollte.

Auf der Strecke bleibt dabei natürlich der offensichtliche Herrschaftsanspruch im urbanen Raum, der Prunk für alle, und mitunter auch die gezielte Anmassung von öffentlichem Raum in der Stadt mit Erkern über dem Gemeinschaftsbesitz der Strasse. Mit der Entflechtung von Kapital, das angelegt und ortsfremd um den Planeten getrieben wird, und dem realem Besitz der Klasse sind diese lokalen Machtbeweise überflüssig geworden. Das Piano Nobile, das Stockwerk der Hausbesitzer wurde aufgegeben und mit etwas anderem aufgefüllt, und dessen Besitzer zogen an das Wasser: Schwanenwerder bei der Berlin, der Starnberger See und der Tegernsee bei München, der Lago Maggiore nahe Mailand und die Goldküste bei Zürich, ja sogar der schnöde Baggersee in der kleinen, dummen Stadt an der Donau. Vielleicht ist noch eine Anwaltskanzlei oder eine Praxis in dem alten Haus in der Stadt. Das Leben jedoch findet am See statt. Man hinterfragt das nicht mehr, es ist einfach so.

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Natürlich nur solange kein Hochwasser kommt, die Seen aus ihren Betten drückt und den besseren Vierteln einen Besuch abstattet, typischerweise durch die Kellerwände oder dort unten eingebauten Schwimmbecken. Mitunter sitzen dann die Westviertel auf kleinen, künstlichen Inseln im ehemaligen – und jetzt wieder entstandenen – Überschwemmungsgebiet, und das beschauliche Leben weicht hektischer Betriebsamkeit. Das sind die Momente, da sich so mancher wieder der Gründe erinnert, warum früher die armen Schlucker am Stadtbach vegetierten und die Reichen die Hochufer besiedelten. Aber das passiert nur alle fünf Jahre einmal, danach verflüchtigt sich das Wasser wieder, die Keller werden ausgepumpt, und die Honoratioren sorgen für einen besseren Damm auf Gemeinschaftskosten.

Es ist dennoch nicht leicht, diese Veränderung hinreichend zu erklären. Der Trend zum See nämlich stammt noch aus einer Zeit, als man so gut wie nichts mit dem Gewässer anfangen konnte: Als das bayerische Herrscherhaus etwa im vorletzten Jahrhundert auf Sommerfrische an den Tegernsee zog, gab es dort keinerlei Badebetrieb. Noch heute ist der See so bitterkalt, dass man allenfalls zwei, drei Monate schwimmen gehen kann, ansonsten ist es eben nur ein mit Wasser gefülltes Tal, an dem jeder sein will, ganz ohne Planschen oder Segelboot. Auch ich gehe täglich zum See. Warum? Weil man das so macht. Ein sinnloses Gewässer treibt die Immobilienpreise auf das Doppelte dessen, was man 10 Kilometer weiter nördlich bezahlt. Man akzeptiert das trotzdem, selbst wenn man wegen des Preisunterschiedes jedes Jahr den Rest des Lebens vier Wochen am Meer sein könnte. Weil es ja am Tegernsee ist.

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Man denkt darüber nicht nach, es ist einfach so, als wäre es eine Tradition – die es offensichtlich nicht ist, ganz im Gegenteil, es ist ein klarer Traditionsbruch – und ganz sicher ist es nicht rational. Der Mensch sitzt auf einer Bank am Wasser, wendet sich von der Landschaft in seinem Rücken ab, und empfindet offensichtlich Täler voller Wasser schöner als banale Täler. Vielleicht ist es einfach die Distanz, die das Wasser schafft: Alles andere erscheint auf den ersten Blick sehr weit weg, der See hält Lärm, Hässlichkeiten und andere Ausdrucksformen der Menschen so weit weg, dass sie erträglich erscheinen. Der See ist ein Gegenentwurf zur Realität, gerade weil er so gut wie nichts darstellt, und nichts ausser Wasser ist. Eine Einladung zum Vergessen einer Welt, an deren relativer Spitze man steht, wenn man hier wohnt.

Es hilft, selbst wenn man nicht hier ist: In unschönen Situationen beruhigt der Gedanke, dass man bald wieder am See stehen wird. Es ist gleichermassen Ideal und eine Falle für Reiche, denn mit dieser Idee ist das krisengeschüttelte Dubai berühmt geworden: Die bekanntesten und im Ausland gern gekauften Objekte sind Inseln mit direktem Zugang zum Wasser und Hotels inmitten des Meeres. All die Gegenden mit dem Titel “Riviera” funktionieren nach diesem Prinzip, die Heiligendamms dieser Welt und die abgeschlossenen Viertel bei Potsdam. Die Geschäfte des Grauen Kapitalmarkts laufen am besten, wenn sie in Tagungshotels am See offeriert werden. Mit dem Bild der Seen wird für Fonds geworben, und der See darf in keiner besseren Heimatserie fehlen. Er ist Nichts, und gerade deshalb so gut zur Identitätsstiftung für Menschen geeignet, deren Identität gerade von der Globalisierung von Wirtschaft und Kultur weggefegt wird.

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Vielleicht aber ist es auch die Kontinuität der von dieser Klasse gewünschten Eigenschaften, die Innenstädte heute nicht mehr bieten können, wo Reifen geschlitzt und Bäuche mit billigem Fusel werden. Zudem hat der See den unschätzbaren Vorteil, ähnlich begrenzt zu sein wie die besseren Lagen der Städte – es wird nie genug für alle geben, es wird immer eine Mehrheit geben, die hier nicht sein kann. Es ändert sich nach einem Jahrtausend in den Städten und dem kurzen Irrweg des Hauses an der Bahntrasse die Lage, aber nicht der Anspruch an die Lage. Und in ein paar Generationen ist das alles so selbstverständlich, dass man sich nur noch darüber Gedanken macht, wenn die Tochter von jemandem schwanger wird, dessen Eltern nicht an einem See wohnen. Oder der See durch die Klimakatastrophe so unfreundlich ist, öfters uneingeladen vorbeizukommen, den Weinkeller zu durchwühlen und als Gastgeschenk den nicht gesellschaftsfähigen Schimmelpilz zu hinterlassen.