Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Hilfreiche Sekundäruntugenden III: Nicht vorgestellt werden

Die besten Konflikte sind die, die man nicht austragen muss, und die besten unerträglichen Personen sind jene, die einem erst gar nicht vorgestellt werden. Das war früher verhältnismässig einfach möglich, denn in den Zeiten intakter Klassengrenzen hatte man einfach keinen Grund, andere nahe kommen zu lassen, und für den Rest galten strenge Regeln. Man kann das für archaisch halten, aber nach ein paar Wirtschaftskrisen und einer "Business"-Elite, die Massenabspeisung vom Buffet an Stehtischen für "Essen" hält, gewinnen die alten Formen durchaus an Charme - und am nötigen Abgrenzungspotenzial.

I never forget a face, but in your case I’ll be glad to make an exception.
Groucho Marx

Wenn hier desöfteren vom Klassenkampf von Oben gesprochen wird, ist es vielleicht ganz hilfreich, sich die Konflikte wirklich wie einen Kampf vorzustellen, und dabei auch gleich zu den unerfreulicheren Kriegserfahrungen zu greifen: Denen des Grabenkampfes im Ersten Weltkrieg nämlich, der für das bürgerliche Selbstverständnis einen enorme Schlappe war – waren doch nicht nur vor dem Maschinengewehr alle gleich, nein, man erlebte auch, wie dünn doch die zivilisatorische Kruste all derjenigen war, die 1913 noch über der Lektüre von Rilke, Mann, Maupassant und Galsworthy hingebungsvoll seufzten. Nun denn, wenn wir auch heute wieder gezwungen sind, die anstürmenden Neureichen mit Diskriminierungssalven in die Löcher zu schicken, aus dem sie kamen, und sehen wir uns gezwungen, sie in den Gräben an unseren Tischen mit Lügen zu abzuwimmeln – dann liegt das nicht daran, dass wir schlecht oder gar schlecht erzogen sind. Nein, man respektiert einfach nicht mehr unseren Wunsch, dass die anderen bitte auf ihrer Seite in ihren eigenen Gräben bleiben sollen, und statt zu seufzen, greift man eben zu Sekundäruntugenden.

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Man kann von Aufsteigern natürlich nicht erwarten, dass sie das wissen – aber früher war es, und ist es in besseren Kreisen bis heute so, dass man nicht einfach mal rüberkommt und wildfremde Leute anquatscht. Idealtypischerweise wird das einem als Kind nämlich so ausgetrieben, dass man auch Jahrzehnte später nur unter sehr schlechten Gefühlen in der Lage wäre, wildfremde Menschen auf der Strasse um die Uhrzeit zu fragen. Diese Haltung speist sich aus drei Quellen: Man möchte andere nicht belästigen, denn vielleicht sind sie in Eile, oder in Gedanken. Man möchte Abstand wahren. Und man möchte möglichst autonom und ohne Eingeständnis einer Schwäche sein. Als ich das letzte Mal ohne Benzin liegen blieb und das Mobiltelefon nicht dabei hatte, bin ich eben 3 Kilometer bis zur nächsten Tankstelle gelaufen. Ich kann nicht anders. Es ist mir auch entsetzlich peinlich, den ADAC zu rufen, was mich eigentlich als Besitzer eines Sunbeams von 1955 disqualifiziert.

In einem formalem Rahmen ist das anders. Ich habe natürlich schon vor der Tanzschule gelernt, wann und wie ich mich selbst vorstelle: Man nimmt Blickkontakt auf, wartet auf gewisse Zeichen – was übrigens in den Zeiten der Fächer und meiner Grosstanten noch sehr viel einfacher war – nähert sich dezent, stellt sich knapp und unaufdringlich vor, lässt immer Möglichkeiten des Rückzugs – “ich hoffe, ich störe nicht” – und hofft auf das Beste. Wie es nicht geht, weiss man ja seit der Faustlektüre:

“Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Arm und Geleit ihr anzutragen?”
“Bin weder Fräulein, weder schön,
kann ungeleit nach Hause gehn.”

Faust stellt sich nicht einmal vor, sondern macht sich sofort anheischig, sie zu begleiten. Er nimmt ihr mit seinem Angebot alle Freiräume, woraufhin sie ihm den verdienten Korb gibt. Aber die ungehobelte Person hat nach eigenem Bekunden auch Jura und Theologie studiert, woher sollte er Stil haben.

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Es geht um die Freiräume. Weshalb die ideale Vorstellung eigentlich gar keine ist. Die perfekte Vorstellung basiert auf der Idee, zwei Menschen so zusammenzubringen, dass weder sie selbst noch der Vorstellende je einen Gesichtsverlust erleiden können. Nehmen wir also an, ich habe mich von einer geschiedenen Freundin dazu breit schlagen lassen, auf eine Hochzeit zu gehen. Dort ist auch ein Bekannter, der, von der erwartungsfrohen Stimmung übermannt, ein Auge auf sie wirft. Er würde mich beobachten – küsse ich sie? Lässt mein Verhalten auf Vertraulichkeiten schliessen? – und wenn dem nicht so ist, würde er mich in einem geeigneten Moment abfangen und mir Komplimente zu meiner Begleitung machen. Ach, würde ich verstehend sagen, die I., ja, eine tragische Geschichte, ihm nur das erzählen, was der Tratsch ohnehin weiss, und darauf achten, ob er dann den Ex-Mann von I. auch mit der angemessenen Empörung bedenkt.

Tut er das, würde ich noch ein wenig plaudern, und mich dann zu I. zurückbegeben und einfliessen lassen, dass zwar alle Bankster Verbrecher sind, aber nur der Bekannte, mit dem ich sprach, eine rühmliche Ausnahme darstellt und allenfalls eine Bewährungsstrafe verdiente. Sollte I. dann tieferes Interesse zeigen, und ein paar Details wissen wollen, die für ein Gespräch zwischen beiden sinnvoll sind, würde ich ihren Wünschen nachkommen und mich anheischig machen, sie einander vorzustellen. Mein nächster Weg mit I. würde dann in seine Nähe führen, ich würde ein paar unverbindliche Worte sagen, sie einander vorstellen – und wenn ich merke, dass es klappt, mich unter einem Vorwand zurückziehen. Wenn I. aber doch Geschmack haben sollte, und nach ihrem Ex-Mann nicht schon wieder von einem Erbsenzähler gelangweilt werden möchte, würde sie das dezent anzeigen. Ich würde sagen, dass wir nun noch unbedingt zum Brautpaar müssten, bis bald – und ihn stehen lassen. Alles wäre gesagt, niemand hätte das Gesicht verloren, jeder hätte sich zu jeder Zeit zurückziehen können, ohne andere zu insultieren.

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Das mag kompliziert sein. Aber wenn man den Ablauf vereinfacht, wie etwa bei der direkten, jemanden mitschleifenden Vorstellung, fallen Optionen weg, und es wird schwieriger, ohne Ansehensverlust heraus zu kommen. Das geht wie bei der Mafia: Nur ein vermittelnder Freund kann einem anderen Freund einen Freund direkt vorstellen. Das garantiert in der Mafia und in Bayern zuerst einmal, dass der Vorgestellte nach Ansicht des Vermittlers ein Ehrenmann wie man selbst ist. Es ist aber gleichzeitig auch einen Aufforderung, den anderen als Ehrenmann zu akzeptieren. Tut man das nicht, beleidigt man auch den Vorstellenden. Man kann bei der sizilianischen Methode immer noch ausweichen, indem man den anderen mit den üblichen Floskeln bedenkt. Aber letztlich werden sich da Leute gegenseitig vorgeworfen, die beide voneinander wenig wissen und entscheidend von der Qualität des Vorstellenden – in Bayern nennt man die “Gschaftlhuber” – abhängig sind. Mafiakriege, Wirtshausschlägereien, das Engagement der Bayern bei der Hypo Alpe Adria – das alles muss nicht sein, wenn man nicht wie ein Mafioso vorgestellt wird.

Trotzdem gab und gibt es in Deutschland sog. “Business Wettbewerbe”. In denen wird Studierenden, deren Eltern ihren Sprösslingen offensichtlich keine solide kulturhistorische Ausbildung angedeihen lassen konnten, und die oft genug auch in Käffern wie St. Gallen oder Vallendar hocken müssen, die Abfassung von sog “Business Plänen” und anderer Trödel der Globalisierung beigebracht: Das überzeugende Vortragen einer hirnlosen Powerpoint-Präsentation, am Ende auch ohne Nasebohren, das gewinnende Auftreten der Privatradiomoderatoren, U-Bahn-Schnorrer und Verkäufer sinnloser Versicherungen, und der “Elevator-Pitch”: Jenes Verkaufsgespräch einer Geschäftsidee, bei der man sichvorstellen sollte, man träfe im Aufzug zufälligerweise einen Investor und würde den nun in den nächsten 60 Sekunden seine Idee genial aufschwatzen. So, genau so stellt sich diese Generation dann auch die Annäherung und Kontaktaufnahme vor. Laut, aggressiv, wahllos, arrogant, gerne aber mit etwas Stalken und Ausforschen über Google und soziale Netzwerke, und wer die meisten Freunde und Follower hat, zählt auch am meisten. Niemand würde einfach jemanden öffentlich antippen, um sie vorzustellen, auch sonst würde das nur im äussersten Notfall tun – aber bei Gründertreffen, wo die Elite, die Macher von Morgen zusammenkommen, gilt das alles nicht mehr. Jeder mit jedem über alles: So werden Projekte entworfen und Ideen gestaltet, Börsengänge geplant und, man erinnert sich vielleicht noch an die New Economy, Milliarden von Leuten verbrannt, die daheim im Westviertel keine Ahnung hatten, was für einer ungezogenen, im Stehen mit den Fingern fressenden Bagage sie da ihr Geld anvertraute.

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Seitdem sollte man sich nicht wundern, wenn in unseren Vorkriegszeiten eben nicht mehr einfach “alles geht”. All diese Tschackaschreier, die Börsenbäcker, die überblonden Parkettschnöselinen, die Renditeversprecher, diese Staubsaugervertreter der besseren Kreise – gäbe es da einen  Mittelsmann, man würde ihn bitten, den anderen klarzumachen, dass man ihnen nicht vorgestellt werden möchte. Sie möchten nach all den Krisen doch bitte in ihren Gräben bleiben. Man wäre wirklich, wirklich dankbar, man hat noch so schrecklich viel zu tun und Migräne – manchmal klappt es, manchmal funktionieren die Mechanismen noch, weil Vermittler Anstand haben, oder vielleicht selbst nachdenken, ob die Idee mit den Schiffsfonds, die sie weitertragen wollten, wirklich so klug war. Niemand muss deshalb das Gesicht verlieren. Solange er respektiert, dass die anderen nicht gestört werden wollen, Abstand brauchen und autark sind, ist alles bestens, solange bin auch ich der höflichste Mensch von der Welt, und nie würde man erwarten, dass ich dieses Pack ohne alle Rücksichten auch als solches behandle, wenn es nicht bereit ist, meine Grenzen zu respektieren.

Es sind, das gebe ich zu, Untugenden. Aber man kann nicht immer nur Galsworthy lesen, man muss ihn auch ab und an praktizieren.

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(Alle Bilder sind Ausschnitte des Deckengemäldes der Kirche Sant’Ignazio in Rom, gemalt von Andrea Pozzo, um 1690)