Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Mit dem schlechten Gewissen auf den Berg

Sorgenfrei ist ein schönes Wort, dessen Anwendung jedoch allenfalls temprorär sein kann: Ein kleiner Zahnarztbesuch, und der Reiche wimmert schon vor Angst, eine Voruntersuchung, und schon befragt man Google nach günstigen Sargmachern. Und wenn alles gut und schön ist, trifft man unvermutet im Sonnenschein auf das kleine, schlechte Gewissen, das auch froh ist, endlich mal in bester Gesellschaft mit viel Zeit vor Traumlandschaft wirken zu können.

Zu wissen, dass es Leidenschaften gibt, und sie nicht zu empfinden, das ist schrecklich.
Boris Vian, Der Herzausreisser

Das schlechte Gewissen hat es nicht ganz einfach, nach oben zu kommen. Das schlechte Gewissen muss erst über München und die Oberlandbahn an den See anreisen, und dann jemand finden, der sich darum kümmert, es muss sein luftiges, korrektes Stadtkleidchen eintauschen gegen Bergschuhe und dicke Jacken, denn im Tal geht es erst los zum Tatort. Es muss hinaufsteigen durch einen Zauberwald und eisige Wege, es muss aus der Bahn springen, wenn Rodler hinabsausen, und sich über einen Schlussanstieg zum Gipfel quälen. Das schlechte Gewissen kennt dergleichen nicht aus Städten, wo es den Lift in die Büros nehmen kann, oder neben den Toiletten lungert und auf Besoffene wartet, und in der klaren Luft wird es sich ab und an die Existenzfrage stellen und dabei fast verschwinden, denn was könnte falsch sein hier oben, wo kein böses Wort fällt, da alle ergriffen sind von der Natur, dem Blitzen des Lichts auf Eis und Schnee und den buttrigen Wolken über dem Tal und dem Land, das sich nach Norden erstreckt, immer unter Wolken und voll mit jenem Eis, das sich hier oben gerade in der Wärme – 14 Grad in der Sonne an der Hauswand – mit kräftigen Hieben des Hüttenwirtes auflöst.

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Das schlechte Gewissen hatte enorme Pläne, als es sich auf den Weg machte, aber nun sitzt es, von Licht und klarer, silbriger Luft besoffen, auf der Holzbank und ruht sich etwas aus. Die Arbeit, ein nicht mehr ganz junger Mann mit wenig echter Beschäftigung und viel Zeit, sitzt daneben und läuft nicht weg, denn hier ist der Gipfel und die Bedienung, die ihn sogleich erkennt und fragt, was sie Gutes für ihn und das schlechte Gewissen tun kann. Der nicht mehr ganz junge Mann, gewissermassen das Rollenbild einer Generation, die immer weich fallen wird, aber nie ein Interesse hatte, dagegen zu rebellieren, und diese nicht eben spannende, aber doch sehr angenehme Existenzform als gegeben und normal betrachtet, bestellt einen Topfenstrudel und einen Tee. Er ist nicht dumm und nicht gefühllos, das schlechte Gewissen kann sich etwas Ruhe leisten, denn es weiss, wo es anpacken kann.

Nicht unbedingt bei den einfachen Phrasen mütterlicher Fürsorge, etwa an die hungrigen Kinder in Afrika zu denken, oder immer der Gefahr bewusst zu sein, dereinst von Federn auf Stroh zu kommen und deshalb endlich etwas für die Rente zu tun. Wo das mit der Rente endet, weiss man in jenem Zwischenalter nur zu gut in leicht zynischer Vergnügung, und Afrika hat der Westen, erschüttert von hausgemachter Finanzkrise und ugandischen Staatsdefiziten, ohnehin an die Chinesen verkauft. Auch nicht all die Mahnungen diverser Politiker nach Leistung, mehr Leistung für den globalen Wettbewerb. Wer heute, an einem Werktag hier oben ist, hat auf die ein oder andere Art längst mit dem Leistungsdruck der Globalisierung abgeschlossen. Die ist da irgendwo rechts unten, unter dem Weiss, München, Berlin, Frankfurt, Brüssel, weit weg, gut weit weg.

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Wie auch viele Freunde und Bekannte. Mitunter nämlich ist da auch die Frage, wer eigentlich sonst noch kommen könnte. Die P.? Ist gerade in Therapie nach ihrem Bandscheibenvorfall. Der K. würde es sicher auch gern noch mal probieren, nachdem er im letzten Jahr auf halber Höhe aufgab, aber die Zeiten sind schlecht, und er muss um seine Arbeit kämpfen. Die V. sagt nun schon seit zwei Jahren, dass sie gern kommen will, egal ob Rodeln im Winter oder Baden im Sommer, aber immer ist ein Schriftsatz im Weg. Wenn es mal jemand hierher schafft, dann nur mit noch grösseren Mühen als das schlechte Gewissen, es sind wahre Expeditionen, die zwischen all den Anforderungen des richtigen Lebens minutiös geplant werden müssen, als ginge es um die Verteidigungsstellung eines Grossverlages und diverser Helfer zur Rettung eines Plagiats vor dem Verriss. Es ist nicht so einfach, wenn man viele normale Leute kennt.

Und die klassische Lösung des Tegernseer Tals, die Randlage der Republik und die grosse Entfernung zu nutzen, um die einen Freundeskreise auslaufen zu lassen und die neuen Kreise mit ähnlich sorgenfreien Anwohnern zu konstruieren, ist auch kein echter Ausweg. Bei jedem Umzug bleiben Bekannte zurück, das Problem kennen all die jungen, mobilen und dynamischen Menschen, die unabhängig von Orten denken und sich nach oben orientieren. Aber nicht alle sind so. Viele Freunde bleiben erhalten, mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass sich die Welt aufteilt. Da sind jene Kreise, denen man qua Geburt nicht entgehen kann, von den alten Tanten bis zu jenen Klassenkameraden, die einen unbedingt in ihr berufliches Karrierenetzwerk einbinden wollen. Und die anderen Kreise, die durch die heute unvermeidlichen Jahre der Wanderung entstehen. Kreise, die nicht mehr nach den Regeln der Abschottung von Regionen und Klassen funktionieren, aber deshalb auch nicht die Möglichkeit haben, heute hier oben zu sein. Oder morgen. Oder in zwei Wochen.  Die vielleicht nie den Genuss eines Topfenstrudels am Berg kennen lernen werden.

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Viel, meldet sich dann das schlechte Gewissen eher beiläufig zu Wort, und putzt einen Krümel des Kuchens von der Jacke, viel wird ja über die Einsamkeit an der Spitze geschrieben. Über all die Vielverdiener, die in jedem anderen Manager einen potenziellen Feind sehen, über die reichen alten Männer, die von Erbschleicherinnen umgarnt werden, und von den Fussballern da unten in Bad Wiessee, die eine Karriereleiter für unfähige Ansagerinnen der TV-Trashs, aber keine Partner mehr sind. Dass Geld und Vermögen die Angriffspunkte für Neid und Missgunst sind, die jene an der Spitze umwabern wie die Inversionsschicht den Berg, für die da unten gleichermassen undurchdringlich und unschön, aber ebenso unvermeidlich. Tatsächlich aber ist es der banale Umstand, irgendwo zu sein, wo nicht jeder ist, an der Sonne und wärmer, zugleich aber auch etwas, nun, einsam?

Dann lehnt sich das schlechte Gewissen an die dunkle Holzwand, schliesst die Augen und bräunt etwas in der Sonne, denn so angenehm wie hier ist auch sein Beruf nicht immer; durchgemachte Nächte an hässlichen Designerbetten Frankfurter Banker und die Ungewissheit der Armen, ob sie sich nun noch diese Packung Zigaretten und Vergessen leisten können, sind weniger erfreuliche Momente des Berufslebens. Aber natürlich hat es recht:  Man kann  sich nur begrenzt vereinzeln, ohne nicht ab und an einsam zu sein angesichts all der Freunde, denen es nicht allzu gut, aber auch nicht schlecht geht, und auf diese Normalität, oder in ihren Augen Luxus, verzichten müssen. Und das schlechte Gewissen, wie es gegenüber an der Wand lehnt, ist nur begrenzt ein amüsanter Reisebegleiter. All das ist ungerecht, es ist wie die Widmung zu “Brideshead revisited”, die auf “for the happy few” lautet und einen Roman voller Einsamkeit eröffnet, was nützt es, auf der richtigen Seite zu sein und die, die man schätzt, auf der falschen Seite zu wissen, verstrickt in Zwänge und Verpflichtungen, die auch nicht die Wochenenden unberührt lassen, und im Urlaub – nun, da werden sie regelmässig krank.

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Dergestalt privilegiert und alleinstehend, von einem schlechten Gewissen und mit jenem Unwohlsein gesegnet, das sich immer einstellt, wenn man alles hat, aber davon keinen rechten Nutzen ziehen kann, folgt die rauschende Abfahrt, die heisse Jagd durch die Kurven, doch immer ist jene Verunsicherung dabei, die erst im Flachstück oberhalb des Abhangs hinunter nach Ostin verschwindet – dann nämlich, wenn man in leichter Unzufriedenheit den Rodel mit dem Fuss anstubst, und der ein wenig, wie man selbst in seiner Selbstzufriedenheit, vom Weg abkommt, eine Wurzel streift, noch etwas schräger weiterrutscht, auf den Abgrund zu und dann hinabkippt und über den Schnee, wie verhext Bäume vermeidend, nach unten saust, und man selbst, natürlich stets durch den Firn brechend, wie ein Wildschwein hinterher prescht und grunzt, um sich dann, den Rodel letztlich gefunden habend, 50 Höhenmeter über den Abhang nach zu kämpfen und zu japsen, gänzlich befreit von kleinen Sorgen und den baldigen Asthmatod fürchtend.

Niemand aber zahlt Nichtstuern Krankengeld und Kuren in Davos, und das schlechte Gewissen ist schon mal ins Tal vorgefahren, und trinkt eine heisse Zitrone.