Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Hoffnung mit der zertrümmerten Hand

Oberitalien ist übervoll mit Kulturgütern, und so kann es schon mal passieren, dass man an einem Dorf vorbei fährt, ohne die Kirche zu beachten. Natürlich ist auch nicht jede Kirche grandios, aber in Breda Cisoni sollte man unbedingt halten, wenn man von Mantua nach Parma fährt. Dort ist ein Rokokojuwel zu finden, das auch nach einem Viertel Jahrtausend des Zerfalls sehr viel über unser Leben erzählt.

Denn durch Gottes wunderbares Gericht wird ein Jeder getrieben, auf eben dem Wege, auf dem er der verwirkten Strafe zu entfliehen vermeint, sich derselben schwerer entgegenzustürzen.
Dante Alighieri an die Florentiner, 1310.

Nur zu gern würde die Allegorie der Hoffnung dorthin zeigen, wo das ewige Leben verkündet wird, aber man hat ihr irgendwann die Finger abgebrochen, und so ist es nur noch ein verstümmelter Handstumpen ohne Aussicht auf Heilung, den sie nach oben, Richtung Heilsgeschehen hebt, während sie sich mit der anderen Hand auf ihr Symbol, den Anker stützt.

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Ein Anker oder etwas anderes, das Haltekräfte hat, wäre auch eine feine Sache für andere Bereiche gewesen. Sieht man den ersten Schaden, fallen im Halbdunkel weitere Fehlstellen auf. Der künstliche Marmor und der Stuck lösen sich auf, grosse Bereiche sind abgefallen. Wenn man nach dem Staub geht, der sich auf den aufgelesenen Fragmenten gesammelt hat, muss es schon ziemlich lang schlimm um die Substanz bestellt sein.

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Was einst eine prächtige Barockkirche war, und was auf den ersten Blick, beim Betreten des Kirchenraumes immer noch so erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Abfolge von Schäden, die sich über alle Bereiche ziehen. Überall bröckelt etwas, die Farben sind verschmutzt, Risse ziehen sich über den Putz, und in den Putten hängen staubschwere Spinnennetze. All der Prunk und der Luxus von San Giorgio in Breda Cisoni, einer ausnehmend prunkvollen Kirche in einem scheinbar belanglosen Kaff, das man auf dem Weg von Mantua nach Sabbioneta und weiter nach Parma gerne übersieht, all der Glanz des Rokoko ist auf der Kippe, und ich frage mich, wo hier  noch die Hoffnung sein kann.

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Hoffnung ist ohnehin so ein seltsamer Begriff geworden, nicht nur wegen des Wahlkampfgetöses eines Präsidenten, der Hope und Change versprach. Gehofft wird ziemlich viel, gerade Eltern belieben es, ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben. Zumeist ist es eine Hoffnung, dass nicht. Da ist ein klarer Wechsel in der Bedeutung, Hoffnung ist im christlichen Kontext als eine positive Erwartungshaltung definiert, und deshalb hat die Allegorie der Hoffnung auch einen Anker: Weil sie dem Menschen Sicherheit und Halt gibt. Eine Hoffnung, dass nicht, impliziert ein Ende der Sicherheiten. Dass die Tochter nicht ledig bleibt, dass sie die Arbeit nicht verliert, dass sie später einmal nicht Armut erleidet, dass die Inflation nicht kommt, dass sie nicht aufgrund des Drucks zusammenbricht, dass sie nicht so viel arbeitet und noch einen anderen Sinn im Leben sieht. Und dass die Opferbereitschaft der Eltern nicht sinnlos war, weil sich die Zustände so geändert haben, dass die Kinder es einmal nicht so gut haben werden.

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Da jedoch ist der Markt vor, der neue Gott dieser Epoche, vor dem alle gleich sind, und der mit seinen Scoringtabellen und Zielvorgaben nicht gnädiger als jene jüngsten Gerichte sind, derer man sich im Rokoko und seinen Freunde nur zu gern enthalten hat, das würde ja nur die Gläubigen beunruhigen. Der Markt stellt höhere Anforderungen bei gleichen Angeboten, was nur logisch ist, denn es ist immer noch die gleiche, alte Welt mit mehr Menschen und Möglichkeiten, überall Menschen gleich sein zu lassen, oder eben auch ungleich, wenn sie nicht spuren und funktionieren. Wenn sie funktionieren, müssen sie besser sein als alle anderen, und wenn im Rokoko das “besser” nur bedeutete, dass sich zwei Architekten um einen Auftrag balgten, kann der Bessere heute in Bangalore sitzen, in einem billigeren Redaktionsbüro, oder in einem Code einer Maschine, die nicht besser, aber schneller und vertrauenserweckender ist. Alles will möglichst weit weg vom Unten, wo die Feuchtigkeit aus dem Boden die Mauern schimmeln lässt, und drängt nach oben, wo die Putten von den Wassereinbrüchen im Dach aufquellen unter dem Blattgold ihrer Flügel, während die gemalten Himmel über ihnen platzen und zu Boden stürzen, wo sie zertrümmert liegen bleiben.

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Um das alles zu erkennen, braucht man natürlich Zeit, die Geheimnisse des Zerfalls und den Niedergangs offenbaren sich nicht in den 10, 15 Minuten, die ein in diesem Kirchenraum Tourist allenfalls hat, wenn er neben Sabbioneta noch das Umland besucht. Man muss nah an die einzelnen Stellen gehen, auch wenn das flüchtige Gesamtbild weiterhin beeindrucken kann, man muss aus vielen, kleinen Veränderungen zum Schlimmen, den banalen Rissen und Brüchen ein Verständnis dafür entwickeln, dass hier kein überzeugender Raum mit einer Vision mehr steht, sondern ein Sanierungsfall, und wenn nicht genug Geld da ist, wird man sich eben überlegen müssen, was besonders wichtig und wertvoll ist, um den Glauben im Gesamtsystem zu halten, und was man weiterhin vor die Hunde gehen lassen kann, ohne dass es auffällt, bis vielleicht irgendwann doch ein paar Spenden kommen, oder auch nicht, dann geht der Verfall weiter, und man muss hoffen, dass nicht, auch wenn die Illusion des Raumes immer noch wirkt, nur eben für einen selbst nicht, weil man herausbröckelt, und es niemand merkt, weil noch so viel da ist.

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Ich glaube nicht an einen Gott und an die Kirche und vor allem nicht an die Menschen, als Kulturhistoriker würde man mit so einer Haltung kein Proseminar in Waffenkunde des dorischen Griechenlandes durchstehen, und keine Ausgrabung eines bajuwarischen Gräberfeldes. Aber nicht alle Eltern hatten die Möglichkeit, etwas vollkommen sinnloses zu studieren, sie haben einfach nur gearbeitet, Ziele verfolgt, Voraussetzungen geschaffen, ihren Kindern Startbedingungen geschaffen und sicher nicht gedacht, dass sie eines Tages einen Bekannten ihrer Tochter bitten werden, für sie eine Kerze anzuzünden, weil der Burnout nicht mehr die Zukunftshoffnung des Rokoko verspricht, sondern nur die Ausweglosigkeit einer vermauerten Krypta, tief unten in der Erde, keine Gerechtigkeit bewegte ihren Bauherrn, die Dummheit des Marktes schüttete sie zu, und jemand hat darüber Überstundenabrechnung gelegt, worauf geschrieben steht, wieviel Leben und Hoffnung man hier bitte abtun möchte, um nicht ins Hintertreffen zu geraten und in einen anderen Höllenkreis durchgereicht zu werden. Eine Kerze also, unter der ausnehmend hübschen Hoffnung mit dem jugendlichen Lächeln und der zertrümmerten Hand. Immerhin, etwas Hoffnung ist immer.

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Denn von aussen ist die Kirche eingerüstet, man hat sich, da die Region vor zwei Jahren zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt wurde, endlich entschlossen, die Kirche von aussen wieder ansehlich zu machen, und sie neu zu decken und schön zu streichen. Dann sieht alles wieder überzeugend aus, und oben regnet es nicht mehr hinein, während unten, im Schatten der Altäre, weiter der künstliche Marmor ausbrechen wird.