Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Schule der Arroganz

Gerne gibt man sich in besseren Kreisen - wohl abgeschottet und in bevorzugten Wohnlagen - dem Sozialutopismus hin, und überlegt, ob es denn wirklich gerecht zugeht auf dieser Welt, und ob jene, die noch reicher sind, als man selbst, nicht mehr zur Gerechtigkeit beitragen sollten. Die Antwort ist nach einem Besuch eines Weihers in Gerolfing, einem unbedeutenden Dorf nahe der Kleinstadt Ingolstadt in einer hübschen, aber rückschrittlichen Region Namens Oberbayern ganz klar: Nein.

Staat und Gemeinde sind berechtigt und verpflichtet, der Allgemeinheit die Zugänge zu Bergen, Seen, Flüssen und sonstigen landschaftlichen Schönheiten freizuhalten und allenfalls durch Einschränkungen des Eigentumsrechtes freizumachen sowie Wanderwege und Erholungsparks anzulegen.
Die Verfassung des Freistaates Bayern

Lass uns, sagt sie, doch einfach zum Baden fahren. Lass uns die alten Räder nehmen, über Wiesen und Feldwege zu einem hübschen See, mit einsamen Buchten, grünem Wasser und sattem Gras. Und Ameisen und schreienden Kindern und hoffentlich nicht zu vielen Scherben im Wasser, könnte man anmerken, aber es ist heiss, die Altstadt ist stickig, und draussen im Auwald, unter mächtigen Eichen, reihen sich entlang der Donau die Seen und Altwasser aneinander. Er ist eine ganz eigene Schönheit, dieser naturbelassene Wald, und unten im Wasser grundelt der Waller, bis zu vier Meter lang und 80 Jahre alt, ein urtümliches Tier, und anderes, das man in überfüllten Freibädern für Eintritt nicht zu sehen bekommt. Und so pumpe ich Reifen auf, stelle ihren Sattel ein, und schnell haben wir die Stadt, den Lärm und die schlechte Luft hinter uns gelassen.

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Der Weg führt durch das Westviertel, ich zeige auf Häuser und erzähle die Geschichten ihrer Bewohner, der Apothekertöchter und Unternehmersöhne, die heute in alle Welt verstreut sind, ich berichte von früher und dem Altern, und dann biegen wir ab in den Wald, wo es nur noch Natur, den Fluss und den Feldweg gibt. Keine Klassen mehr, keine Frage nach PS und Preis, nur noch sirrende Speichen in der Sonne. Das Westviertel mit seinen Standesunterschieden fällt zurück, und am Ende wartet nicht der Tegernsee mit seinen Topwohnlagen am Wasser auf uns, sondern nur ein grosser Weiher ohne Anwohner, aber dafür mit vielen kleinen Buchten zwischen Schilf. Zwei Menschen auf dem Rad auf dem Weg zum See, das ist alles.

Alles andere ist in diesem Augenblick unwichtig. Die Herkunft, die Erziehung, die Karriere, die man zu machen gedenkt, oder auch nicht, die Marke der Schuhe und Reisepläne für ein grosses, wohlgebildetes Vielleicht, wenn man eine passende Zeit für Beide finden sollte. Nut zwei Radler in der Natur, so wie jeder, es ist eine simple Freude und jeder, der entgegenkommt, scheint sie auch so zu empfinden. Auch darf jeder an den See, was man erst zu schätzen lernt, wenn man in einer Gegend wohnt, wo der Zugang trotz anderslautender bayerischer Verfassung teilweise verwehrt wird. Fast könnte man sozialromantisch werden, und sich freuen über die Freiheit von irgendwelchen Klassen und Grenzen, die überall trennen, nur hier, am See, am Samstag nicht, da kann jeder, niemand muss, und alle haben nur die Fläche des Badetuches als ihren geliehenen Besitz.

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Man sucht sich einfach sein Platzerl, es ist genug für alle da, manche mögen es eben mit Trubel, andere möchten nicht gestört werden, der See hat für alle genug zu bieten, fast wie eine ideale Gesellschaft. Man liegt, man liest, man tut niemandem etwas zuleide, die Sonne scheint für alle, und so könnte man natürlich auch auf Ideen kommen wie: Mehr Allgemeineigentum. Vielleicht auch: Mehr Chancengleichheit. Wenn jeder zum See kann, warum sollte nicht auch jeder reich oder gebildet werden können? Theoretisch geht es schon jetzt, aber man sieht allenthalben, dass der Staat zur Oligarchie verkommt, man spottet der Aufsteiger und achtet nicht der Mittelschichten Ängste, dass es wieder wie 1929 wird. In den folgenden Sommern waren hier am See auch viele Leute, die ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen konnten und hier draussen kampierten; das war weniger schön, und es sollte schon so bleiben, wie es ist.

Ausserdem, diese unerträgliche Arroganz, die man mitunter für Angehörige anderer Schichten empfindet: Was ist denn schon der Unterschied zwischen uns? Jeder hat so seine Vorurteile, jeder möchte seine Eigenheiten behaupten, aber hier am See sieht man doch, dass es auf der untersten Ebene des Wohlbefindens sehr gut geht, das Wasser ist bacherlwarm, und freundlicherweise halten sich auch alle an das Gebot, im Auwald nicht zu grillen. Leben, leben lassen, die eigenen Dünkel ob der eigenen, klassischen Bildung bleiben genauso zurück wie der tiefergelegte Golf der anderen am Parkplatz. Ab und an geht jemand vorbei, alle sind zufrieden, Badende, Radler, und oh, da halten ja auch welche an. Am Weg hinter der gut 20 Meter breiten Bucht, neben der noch eine andere wäre. Sie haben Transportanhänger an den Rädern, laden ein Zelt ab, und dann kommt ein vielleicht 18-jähriger zu See und stellt keinen halben Meter von meinem Handtuch entfernt seine Angeln auf, mit einem hochtechnisierten Alugestell, und wirft sein Blei direkt neben mir ins Wasser.

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Er, lässt er mich feixend wissen, gedenke nun das ganze Wochenende hier zu bleiben und genau hier zu angeln, er gedenke auch nicht wegzugehen, denn er habe d’Fisch ogfuadad, und wir könnten schon schwimnmen, ihm sei das egal, er würde dann einfach über uns hinwegwerfen. Mit welchem Recht? Nun, natürlich gar keinem, hier ist Baden und Angeln gleichermassen erlaubt, aber es ist eine schöne Bucht, und es ist offensichtlich seine Absicht, mit seinem Freund hier zu bleiben. Der feixt von seinem Klappstuhl, den er in den Weg gestellt hat, und raucht. Sie sind offenkundig der Meinung, dass es ihr See ist. Und dass wir stören.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, wie sich diese Leute das Leben hier vorstellen, denn sie haben alles dabei, was man nach ihrem Ermessen für einen angenehmen Abend braucht: Ein Hackl zum Fischetotmachen, Plastikstühle, ihre lächerlichen Gameboyangeln, jede Menge Bier und vermutlich auch einige Lacher, wenn sie erzählen, wie der Anführer hier den See von Anderen gereinigt hat. Dreist, rücksichtslos, ohne falsche Bescheidenheit oder jeden Anflug von Höflichkeit. Ich weiss nicht, ob alle Mitglieder des Anglerclubs von Gerolfing so sind. Vielleicht liegt es am Sport, an den Eltern, am TV-Konsum, an der Schicht, ich weiss es nicht.

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Aber ich weiss, dass jeder Einzelne bei uns im Westviertel massivste Probleme bekommen hätte, wenn wir uns jemals so benommen hätten wie diese, dem Aktivwortschatz nach zu beurteilen, Angehörigen der nicht Allerbesten Kreise. Über dem Sirren der Speichen zurück nach Hause muss ich mir wirklich Mühe geben, mir zu sagen, dass es dennoch ein paar sehr schöne Stunden am See waren, dass nicht alle so sind, dass sie nichts dafür könn – nein, das kann ich wiederum nicht. Natürlich können die was dafür. Und natürlich bin ich froh, dass es Regeln, Immobilienpreise, gesellschaftliche Ächtung und Chancenungleichheit gibt, die dafür sorgen, dass ich normalerweise nur mit Leuten zu tun haben, die ihre Schlechtigkeit, wenn sie denn vorhanden ist, zumindest verbergen müssen. Dass ein Bewusstsein für das da ist, was man tut, und was nicht. Arroganz als Lebenskonzept ist ohnehin eine simple Lösung für alle Fragen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, und wie leicht, wie spielend leicht könnte man sich bei jeder Gelegenheit diese Angler vorstellen und sich denken: Sollen sie doch mehr Steuern zahlen, wenn sie sich solche Angeln leisten können. Sollen sie doch bis 75 arbeiten, dann stören sie auch nicht als fiese Frührentner. Man muss an sich arbeiten, um all das wegzuschieben. Es ist nicht leicht, es ist so schwer, wie der Sommertag davor schön war.

 Unten im See aber treibt der Waller dahin, und träumt von einer Anglerwasserleiche, aufgequollen, violett und butterweich.