Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Bedenken der Veränderung

Unter Kohl war Konservativismus eine einfache Sache: Es war, wie es war. Ein paar Geschichtsumdrehungen weiter ist gar nichts mehr, wie es einmal gewesen ist, und Frau Merkel fordert, Veränderungen zu bedenken. Natürlich muss sie sich da die Frage gefallen lassen, warum man das als normaler Polizeirufer bei nächtlicher Ruhestörung tun sollte - würde man das wollen, wäre man doch Trotzkist, Anarchist oder wenigstens Entwicker riskanter Derivate an der Wall Street geworden, aber sicher nicht konservativ.

Konservativ heißt also nicht, dass alles so bleibt, wie es ist, sondern das man mit Bedacht verändert.
Angela Merkel

Letzthin konnte man viele bedauernde Worte über den Umstand lesen, dass Helmut Kohl, Bundeskanzler a. D. und immer noch mit dem machiavellistischen Mangelwohlgeruch der schwarzen Kassen behaftet, schon wieder nicht den Friedensnobelpreis bekommen hat. Es wäre doch endlich mal Zeit, seine Leistung bei der Wiedervereinigung zu würdigen. Mir mag scheinen, damit ist die Hoffnung verbunden, dass Kohl, historisch an den richtigen Platz gerückt, wieder eine Sehnsuchtsfigur werden kann, wie es in Deutschland die Bundeskanzler Schmidt und Brandt und in Bayern der Franz Josef längst geworden sind. Ein wenig schwingt herbstschwere Nostalgik mit; damals konnte man noch konservativ sein, ohne sich um die Veränderungen aussenrum kümmern zu müssen. Es gab keinen echten Modernisierungsdruck jenseits der Frage, ob man die neue, rundgelutschte S-Klasse ab 1991 gegen die alte, kantige, aber auch imposante Version eintauschen sollte. Die Mehrheit blieb dann bis 200.000 Kilometer noch bei der alten Baureihe, und erst dann durften die Töchter den blaugrauen Wohlstandstraum zwischen Nürnberg und Würzburg in die Leitplanke setzen.

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Anstelle des Modernisierungsdrucks gab es dafür einen gewissen gesellschaftlichen Druck der Beharrung. Denn im Gegensatz zu der in besseren Kreisen verbreiteten Ansicht ging es draussen, jenseits der Gärten und Konzertvereine, natürlich weiter mit der Entwicklung. Und, so mag sich auch mancher gedacht haben, manche konservative Überzeugung ist vielleicht doch etwas zu hart. Die Haltung zur Abtreibung etwa ändert sich rapide, wenn die eigene Tochter unter den falschen Mann ohne Heiratsabsichten und Karrierechancen gefallen ist. Die Haltung zur Atomkraft bleibt nicht gleich, wenn nebenan eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut wird. Die Haltung zum Wehrdienst hat nur begrenzt Bestand, wenn das eigene Kind nach vier Wochen Pornokonsument, nach vier Monaten Kettenraucher und nach Abschluss des Dienstes ein Fall für Station 36 ist. Die Sache der Konservativen wäre einfacher gewesen, wenn sie auf Kinder verzichtet hätten. Durch die Kinder kamen die Veränderungen der Welt auch in die Familien, denen Kohl profitable Stagnation versprochen hatte.

Denn an den Kinder dieser Generation konnte man in besseren Kreisen erleben, dass die vollmundigen Versprechen dieser Bewahrung nicht für alle Zeiten und Nachkommen galten. Apotheker kratzten sich erstaunt am Kopf, wenn sie von den neuen Anforderungen ihres alten Studiums erfuhren. Anwälte wunderten sich über die enormen Rechnungen der Repetitorien, die aus München kamen. Und während manche Eltern ihre Kinder noch zum klassischen Medizinstudium drängten, machten manche Chefärzte ihren Töchtern klar, dass sie im Dentalbereich, wenn überhaupt, bessere Chancen für ein gutes Leben haben würden, in dem man ohne Sorgen langfristig Karten für die Opernfestspiele in München bestellen konnte. In den späten Jahren der Kohlregierung stellten Kinder und Eltern dann gleichermassen überrascht fest, dass die 50-Stunden-Wochen der als arbeitsam geltenden Eltern in vielen Branchen für Neueinsteiger gar nicht vorgesehen waren – bei weitaus geringeren Löhnen.

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Kurz, die moderne Welt hatte sich entschlossen, die Familien wie eine Auster zu knacken – unbarmherig an ihrer weichsten Stelle, unter Missachtung der festgefügten, lange gebauten und falsch schimmernden Schale konservativer Gewissheiten. Und Herr Kohl, dem man vieles vorwerfen kann, aber nicht die Veränderungen der Welt, konnte nichts dagegen tun, oder wollte es nicht, denn das hätte für ihn bedeutet, die Veränderungen anzuerkennen und seinen Wählern nahezubringen, dass sie sich damit auseinander setzen müssen – und dass ihnen diesmal kein Staat und keine Wahl dabei helfen kann, egal wie konservativ das Ergebnis formal ist. Logischerweise entscheidet man sich nicht für einen konservativen Lebensstil, um dann gezwungen zu werden, alles und sich selbst dauernd neu zu überdenken. Man ist vielleicht, allenfalls, noch liberal-konservativ, um anderen Strömungen liberal zu gestatten, sich mal testweise die Finger an dieser Moderne zu verbrennen, damit man sich überlegen kann, was man davon gefahrlos integrieren kann.

Davon ist, ausser vielleicht ein paar wenig glaubwürdigen Werbesprüchen einiger Investmentfonds, wenig geblieben. Und so muss sich in Zeiten von Bankenkrisen und Währungsentwertung, von Pr0n im TV und von der Polizei blindgeprügelten Rentnern, unter verschärftem Druck der Aussenwelt jeder selbst ein paar halbwegs schlüssige Fragen einfallen lassen, wie er es mit den veränderten Umständen hält. Wenn er nicht gleich den einzig legitimen Erben Kohls, den schöpfungsbewahrenden und dennoch in Afghanistan Krieg führenden Grünen und deren neuen Gewissheiten  – ja, ihr bekommt eine geförderte Solaranlage auf das Dach, garantiert biologisch-dynamisch eingeflogene Äpfel und das gefühl der Welt etwas Gutes zu tun – gemütlich in die Arme und Kirchkernkissen zu sinken.

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Nachdem aber die Herausforderungen sehr unterschiedlicher Natur sind, ist es für die Restkonservativen gar nicht so einfach, gemeinsame Antworten zu finden: Gibt man sich der Logik der globalen Märkte hin, oder möchte man lieber die gute, alte Raiffeisenbank? Ist man weiterhin strikt antikommunistisch, oder lebt man damit, dass die neue Kamera aus einer kommunistischen Diktatur kommt? Will man Frauen lieber am Herd sehen, oder kann man sich mit Frau Merkel arrangieren? Sind Osteuropäer die Diebe des deutschen Ostens oder nicht doch willkommene Pflegekräfte? Will man einen neuen Bahnhof oder einen alten Schlosspark? Geht man noch in die Kirche, oder tritt man aus? Ist eine Scheidung schlimmer als der Depp, den die Tochter geheiratet hat? Wirft man das alte Goldrandgeschirr endlich weg, oder findet man neues Porzellan wie Maria weiss viel zu modisch? Ist die Waldorfschule wirklich noch der kommunistische Unsinn, der sie früher gewesen ist, als nicht überall über die Deutschfeindlichkeit auf den Schulhöfen zu lesen war? Darf die Gattin eines Ministers eine TV-Show eines Gossensenders moderieren? Ist das deutsche Produkt noch führend, wenn seine Innereien mehrheitlich aus dem Ausland kommen? Und: Ist der A5 nicht doch schicker als die dicke, neue S-Klasse?

Man kann jede Frage so oder so beantworten, aber mit etwas Pech steht dann der parkschützende A5-Fahrer, während daheim die Rumänin den Haushalt besorgt, nicht nur in der Frage der Religion dem Bahnhofsfreund mit der S-Klasse und dritter Ehe gegenüber. Und das, obwohl beide mit Fug und Recht und besten Argumenten eine durchgehend konservative Haltung für sich in Anspruch nehmen können. Was immer aber die Antwort auf die Frage nach der richtigen Lösung sein mag: Es ist vermutlich auch vielen Konservativen klar, dass die Antwort nicht die heimelige Ignoranz sein kann, der man sich unter Kohl stets hingeben durfte, ohne dass es jemand gewagt hätte, allzu sehr zu stören. Es ist keine Frage einer Partei, oder einer Person, oder eines Systems, oder eines Wertekanons, oder einer Weltanschauung, oder der 68er, oder der Kochs oder der Merzens. Und schon gar keine Frage einer Reideologisierung gesellschaftlicher Konflikte: Da bräuchte man welche, die mitmachen, aber ein Blick in die enorme Zubehörliste von Audi zeigt, wie wenig Zeit heute für andere Dinge bleibt. In Variantengewittern! Allein die Ledersorten! Auch das war unter Kohl bei der S-Klasse noch anders. Aber unter Frau Merkel muss man mit Bedacht die Farben verändern.

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Doch ist dies, in Wählerstimmen ausgedrückt, nur eine kleine Gruppe in kleinen Vierteln am Rande kleiner Städte: andernorts, bei den Schützenvereinen und Kriegerorganisationen, im Vorstand der Raiba und den Bierbänken der Volksfeste mag das noch anders sein. Dort blickt man nur mit Verachtung auf die Entscheidungsnöte derer, die ihren Abend nicht beim Schafskopfturnier zubringen, die schon immer irgendwie anders waren, aber sich inzwischen auch sehr anders benehmen, die sich früher besser fühlten und inzwischen auch zu gut für eine anständige Haltung, was immer die gerade sein mag. Es wird gerade etwas einsam, wenn man konservative Seiten an sich trägt, man verliert mit dem Nachdenken die gesicherte Basis und mit den Entscheidungen die unbedingte Richtigkeit, und keine Bildzeitung, kein Sarrazin, kein neoconservativer Spiegelautor und kein Nobelpreis für Kohl kann die Scherben der garantierten Sicherheiten kitten, die unter den Kronleuchtern drohend funkeln, wie das zertrümmerte Goldrandgeschirr nach einem erbitterten Erbschaftsstreit.