Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Privilegierung der Unterprivilegierten

Jeder will Privilegien haben, aber niemand will sie anderen gönnen - aus diesem Konflikt erwachsen die Spaltkräfte unserer Gesellschaft. Dummerweise sind es vor allem meine Privilegien, nach denen anderen Leuten der Sinn steht. Insofern fände ich es gar nicht schlecht, würde man ihnen vermitteln, dass ihre eigenen Privilegien letztlich doch sehr viel besser als die meinigen sind. Und alle wären zufrieden.

Energieeffizienzklasse: A (sogar 10% sparsamer als der Grenzwert zur Energieeffizienzklasse »A«), Waschwirkungsklasse: A
Waschmaschine Privileg PWF 1525

Ich stelle erstaunt fest, dass die Taschen immer noch zugenäht sind. Ein Jahr ist es her, da ich diese Jacke kaufte und an den Tegernsee brachte, weil sie mit mit ihrem Stoff von Loro Piana passend für diese Umgebung erschien. Das Privileg, mich in Merinowolle  nach draussen zu setzen oder am See zu spazieren, habe ich offensichtlich nie in Anspruch genommen. Mit einem leisen Gefühl des Unverständnisses für mich selbst schneide ich die Taschen auf, während draussen der Besuch am Frühstückstisch wartet. Es ist der 5. November, im Norden regnet es wohl, aber hier scheint die Sonne, und schon bald ziehe ich die Jacke wieder aus: Zu warm ist es an der dunklen Holzwand. Langsam fällt mir wieder ein, warum ich die Jacke nicht getragen habe: Wenn ich hier war, war eigentlich immer das Wetter zu schön für Merino. Ich glaube, das ist es, was mit dem Wort “privilegiert” in unserem Kulturkreis heutzutage wirklich umschrieben wird: Über so viele Privilegien zu verfügen, dass man sie gar nicht mehr wahrnehmen kann.

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Das hat sich übrigens in meiner Schicht in den letzten 100 Jahren radikal geändert. Um 1910 herum waren es noch Privilegien, TBC und Cholera entfliehen zu können, ohne Hunger über die eigene Ernährung zu befinden, und all die Annehmlichkeiten zu geniessen, die die Heimatstadt der jeweiligen Honoratiorenschicht angeboten hat. Was die Oberschicht, vom Goldrandgeschirr und den wertvollen Nussbaummöbeln abgesehen, tatsächlich für sich in Anspruch nehmen konnte, entspricht nach heutiger Vorstellung gerade mal dem Existenzminimum. Existenzminimum vor 100 Jahren sehe ich, wenn ich in die Küche gehe: Damals wohnten auf diesen 10 Quadratmetern zwei Menschen mit ihrem ganzen Besitz; es war das zum Betrieb des Hauses nötige Personal, und das war schon erheblich besser gestellt als die Wechselbeleger von Betten, wie man sie in Berlin kannte.

Wir sind also alle recht weit gekommen, in den letzten 100 Jahren. Ich muss mich entscheiden, ob ich mit dem Gast am nächsten Tag zum Leonhardiritt nach Kreuth, zum Einkaufen nach Brixen oder am Abend doch lieber auf das Konzert in Schloss Tegernsee will, und finde es auch hart und ungerecht, wenn darüber debattiert wird, ob man einem alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher nur maximal 25 Quadratmeter Wohnraum zugestehen soll. Man kann – und das wird oft genug bei Sozialdebatten getan – auch das als Privileg betrachten, eben das Vorrecht, nicht auf der Strasse krepieren zu müssen, ein Vorrecht auch vor anderen Bürgern der Europäischen Union: In Italien etwa, nur 150 Kilometer von hier, würden solche Zustände als fast paradiesisch gelten. Allein, es schweift der Blick vor allem im eigenen Land, und dort erscheinen die einen als privilegiert, und andere eben nicht.

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Oder, vielleicht zutreffender: Unterprivilegiert und überprivilegiert. Tatsächlich haben wir ja alle unserer Privilegien, nur sind die einen beliebt und die anderen  – weniger beliebt. Privilegien der Unterprivilegierten sind halt jene Vorrechte, für die sich niemand erwärmen kann, der andere in Anpruch nehmen möchte. Und es steht zu befürchten, dass es mir nicht gelingen mag, meine Situation als für jene anderen ohnehin nicht förderlich zu umschreiben: Ständig muss ich zum Erhalt meines Rufes als Gastgeber Ländergrenzen überwinden, ich muss nach den richtigen Spezialitätengeschäften suchen und darf nicht auf Abzocker hereinfallen, eine falsche Haltung zu Tisch würde sofort Missbilligung auslösen, und undenkbar wäre es, meinem schnellen Hunger nachzugeben und, durch die Öffentlichkeit laufend, mir einen triefenden Döner in den Mund und auf die Kleidung zu schmieren.

Das Problem ist: Die Folgen meiner Überprivilegien, die Zwänge und die Verärgerung über sinnlosen Konsum, den ich gar nicht mehr merke – das alles ist den Unterprivilegierten zumindest zu Beginn, bei der Eroberung meiner Möglichkeiten egal. Sie hätten gerne die angenehmen Seiten, würden gern im offenen Sportwagen über die Alpen brausen, aber dabei nicht Messen von Biber, sondern die neueste CD aus Mallorca hören. Sie würden sich nichts dabei denken, wenn sie in Brixen am kleinen Käseladen von Maria Rossi, Grosse Lauben 14 achtlos vorbei gingen und auf dem Weg zum Parkplatz den dortigen Dönerstand frequentierten. Auch wären sie nicht angetan vom Angebot bei Hutter, die keine Baseballkappen mit buntem Aufdruck führen. Sprich, ihr eigenes Privileg, sich nicht meiner Schicht entsprechend benehmen zu müssen, würde nicht dadurch verschwinden, dass sie über meine Privilegien verfügen könnten. Umgekehrt, fürchte ich, könnte ich nur wenig mit dem Recht anfangen, ohne gesellschaftliche Ächtung den Inhalt aller Folgen von RTL-II-Trash mit Frau zu Guttenberg aufsagen zu dürfen und das in einem Umfeld zu tun, das ein Oktoberfest für kein Verbrechen an München, sondern für eine Möglichkeit der Abendgestaltung hält.

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Kurz, ich habe ernste Zweifel, ob man mit einer Privilegierung der Unterprivilegierten zwangsläufig die Welt zu einem besseren Ort machen würde. Als ich dann so im Sonnenschein durch das spätherbstliche Südtirol gleite und der warme Wind die Musik von Rameau in die Landschaft unter ersten verschneiten Gipfel trägt, als ich sehr zufrieden und im Reinen mit mir bin, denn nun trage ich die vergessene Jacke – da frage ich mich trotzdem, ob diese Ausdiffernzierung der Gesellschaft in Besitzer beliebter Privilegien und Inhaber weniger beliebter, aber übrig bleibender Vorrechte nicht auch meine Schuld ist. Weil ich das nicht nur so sehe, sondern auch so kommuniziere. Ich rede verächtlich über anderer Leute Betragen, nur weil ich zufällig durch kulturelle Prägung anders bin. Ich bin im Glauben gefangen, die richtige Privilegien zu besitzen, wie sie von der Mehrheit der bürgerlichen Gesellschaft definiert werden, ich füge mich diesen Vorurteilen und versuche, der Aufhübschung anderer Möglichkeiten durch Werbung und PR – man schaue nur mal in die Werbeprospekte von Discountern, Billigfliegern, Massenveranstaltungen und Möbelhäusern – meine Weltsicht entgegen zu setzen. Und wundere mich dann, wenn manche sich dann tatsächlich um meine Privilegien mit bisweilen wenig schönen Mitteln bemühen, und bemühen müssen, denn es sind nun mal Privilegien, die nur einer begrenzten Zahl von Menschen offen stehen können.

Kurz, es werden – auch von mir – Privilegien propagiert, die ohne Verdrängung, Übergriffe oder Umverteilung gar nicht für andere verfügbar sind. Vielleicht sollte man deshalb genau den anderen Weg gehen, und jenen, die die Märkte der anderen aus Eigeninteresse bespielen und ihnen einreden, Hackfleisch für 2,99 das Kilo wäre eine gute Sache – einfach das Feld überlassen. Vielleicht sollte man ruhig MTV junge Herren versenden lassen, die der Existenz in Rostock, Marzahn, Neukölln und Frankfurt (Oder oder Main, suchen Sie sich eines nach Blieben raus) sprechsingend gute Seiten abgewinnen. Möglicherweise sollte man allen Menschen mehr Zufriedenheit mit ihrer Situation predigen, statt mit sehr viel mehr Leistung mehr an Möglichkeiten zu versprechen, mit denen sie sich nur begrenzt wohlfühlen werden. Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, die Privilegien der Oberschicht gar nicht mehr als Ziel darzustellen und vielmehr andere Priviligien – pro forma natürlich – als gleichwertig hinzustellen. Mit der deutschen Leitkultur, die man ja angeblich hat und die jeden Bierdimpfl nach der 10. Mass immer noch dem muslimischen Universitätsprofessor voranstellt – nedamoi an deitschn Oighohoi dean de dringa, de kenna goa koa Kuitua hom – sieht man ja: Es funktioniert gar nicht so schlecht.

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Da muss man weitermachen. Letzthin schrieb ich am Rande in dieser Zeitung über Berliner Jungvolk, das überhaupt keine Lust hat, eine normale Existenz mit normalen Umgangsformen zu führen – man lobe sie dafür. Im Viertel meiner Eltern versuchen Bauträger gerade, grosse Grundstücke mit Toskanabunkern zuzupflastern, damit sich auch weniger begüterte Zeitgenossen den Traum vom Westviertel gönnen können, wenngleich auch nur in niedrigen Gelassen mit Gartenanteil – man sage ihnen, dass die anderen Viertel doch auch hübsch und freundlich sind. Zufriedene Menschen betrachten ihre Zufriedenheit als wichtigstes Privileg, dorthin müssen wir kommen, dann ist auch keiner mehr unterprivilegiert.

Und in meiner Jacke, von einer Bekannten wenig liebevoll als “Rottacher Hundedecke” tituliert, würden andere in anderen Regionen sowieso nicht gut aussehen, und am Ende sich noch gegen Träger eines Urban Street Chics unterprivilegiert vorkommen. Es passt schon alles, wie es ist, würde ich sagen.