Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die hohe Kunst des Aufhörens

Nur weil man begnadet ist, muss man noch lange nicht sein Leben danach ausrichten, wenn man reich genug ist. Es gibt nichts, was einen zwingen könnte, etwas für andere zu tun, wenn man etwas Besseres für sich selbst tun kann. Der Vordenker derartiger Lebensmaximen war der Komponist Gioachino Rossini, und ihm in Tun und Aufhören nachzueifern, kann ob all der Trüffel gar nicht falsch sein.

you think you’re mad too unstable
kicking in chairs and knocking down tables
in a restaurant in a west end town call the police there’s a mad man around
running down underground to a dive bar in a west end town.
Pet Shop Boys, West End Girls

Sein Vater hatte von Berufs wegen ein grosses Horn, und seine Mutter juchzte als Sängerin in höchsten Tönen; es ist keine Überraschung, dass der aus dieser Verbindung entsprungene Sohn sehr musikalisch und kaum weniger sinnlich ausgefallen ist. Zudem war sein Grossvater Bäcker. Mitunter stellt man sich ja die Frage, mit welchem historischen Prominenten man gerne einmal Essen gehen würde: Bei mir wäre es Rossini. Und obwohl ich so gar nichts von Pornographie halte, wüsste ich wirklich nur zu gerne, wie es bei der Zeugung so eines Mannes zugegangen ist. Das war im Frühsommer 1791 in Pesaro, man ahnt einen sattblauen Himmel über der azurnen Adria am Tag, vielleicht eine Opernauführung am Abend, und danach die erhitzte Sängerin, die nach dem Jubelrausch –

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ich höre ja schon auf. Denn eigentlich geht es mir gar nicht so um die Entstehung des Herrn Rossini, sondern vielmehr genau darum, um das Aufhören. Da hat also einer die Begabung, ganz Europa im aufkommenden bürgerlichen Zeitalter zu entzücken, alle liegen sie ihm vor den Füssen, die Opernhäuser schreien nach seinen leicht und blitzschnell hingeschmierten Meisterwerken, man überschüttet ihn mit Geld, Ehrungen, Einladungen, als er noch nicht 40 Jahre alt ist.

Und dann hört er einfach auf.

Und macht etwas anderes.

Gemeinhin komponieren sich begnadete Musiker bis ins eigene Grab, wie man es von der Legende des Requiems von Mozart zu kennen meint, aber Rossini schrieb einfach keine seiner bejubelten Opern mehr.

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Es gibt in der Italienerin in Algier das Finale des ersten Aktes; und wie nicht selten bei Rossini, ist dieses Finale sehr viel besser geraten als das grosse Finale am glücklichen Ende. Dabei – Video nach dem Klick – handelt es sich um eine Stretta, ein Stück Vollgasmusik der besonderen Sorte, denn in dieser Oper drehen alle Beteiligten durch: Schon davor waren die Verwicklungen und Täuschungen zu viel, alle wichtigen Personen begreifen gar nichts mehr und fangen an, in ihrem Kopf das Tock Tock Tock einer Uhr zu hören. Sie sind am Rande des Nervenzusammenbruchs. Und die Stretta schubst sie über den Rand, die Uhrwerke werden unbarmherzig vorangetrieben, bis die Hirnmechanik platzt und die Federn reissen, und nichts, wirklich nichts mehr geht.

Es wird viel gerätselt über die tieferen Gründe des erstaunlichen Endes des Komponisten, man denkt an eine Erkrankung oder Depression, aber ich fände es schön, wenn Rossini sein Leben bis zu diesem Punkt wie eine Stretta gesehen hätte: Ein Rausch, ein rasender Irrsinn, ein Vollbad der Gefühle, ein erfülltes Dasein, in dem nichts ausgelassen, nichts verschmäht wurde. Stendhal will Rossini auf seiner italienischen Reise zufällig getroffen haben, und beschreibt ihn als ideensprühenden Wonneproppen, und wie anders sollte man an ihn denken, eingesperrt mit viel Essen im Speicher des Theaters, wo er Notenblatt um Notenblatt vollschmiert, es zum Fenster hinaus wirft, und unten sammelt der Theaterdirektor und Kerkermeister die Blätter auf, um sie zu den hektischen Proben zu tragen, denn am Abend ist die Premiere. Die Stretta, das war sein Metier, sein innerster Wesenskern in frühen Jahren.

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Aber jede Stretta hat auch mal ein Ende, irgendwann kann sie nicht mehr anschwellen, lauter werden, mehr toben und wüten, irgendwann hat sie alle Spielarten der Vernunft und des Irrsinns durch, und auch Rossini hatte alles schon erlebt. Er war ganz oben, man hätte von ihm leere Blätter gekauft, er hätte sich nur vor ein Orchester stellen müssen, und der Saal hätte gejubelt. Rossini war auf seinem Höhepunkt eine europäische Hysterie. Nur in Deutschland bekamen sich ein paar mürrische Kritiker in verwanzten Stuben und mit billigem Bodenbelag nicht ein vor Hass, und verstanden nicht, wieso dieser Rossini. Und nicht sie und ihre teutschte Nationalhirnmusik. Sie hassten ihn damals, und sie verachten ihn bis heute. Es gibt einen Hass, den man sich seit jeher verdienen muss; der Hass deutscher Kulturschreiberlinge gehörte damals ganz sicher dazu.

Vielleicht hat sich Rossini einfach gefragt, warum er, der er alles erreicht und gesehen hat, unbedingt weiter machen sollte. Wenn es doch so viel anderes an Möglichkeiten gibt. Es ist nicht so, dass Rossini verschwunden wäre: Er hat gekocht, geliebt, gearbeitet, gefaulenzt, sich ein Haus beschafft und Rezepte erfunden, und vieles andere, was die Kritiker noch mehr als seine Musik hassten: Er hat gelebt. Warum? Nun, ich denke, weil er konnte. Er war ein Kind des bürgerlichen Zeitalters, in dem das bis dahin Unerhörte möglich war: Selbst entscheiden. Es bleiben lassen. Einfach aufhören. Ab und zu komponierte er Petitessen, die er selbst als Alterssünden bezeichnete, und mitunter sogar grosse geistliche Sünden. Er war nicht weg. Er entschied sich nur für einen ihm genehmen Weg.

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Ich halte Rossini für einen grossen Komponisten, ich versuche ein wenig, Texte zu schreiben, wie er manche Stretta komponiert hat: Verrückt, verspielt, gerne irrwitzig und zum Teufel mit den Regeln. Aber vor allem halte ich ihn für einen grossen Bonvivant. Ein Bürger, ein Grossbürger sogar, der die Möglichkeiten des Reichtums für sich selbst nutzte. Ein Mann, der über sein Schicksal selbst entschied. Das war in seiner Zeit noch nicht lange selbstverständlich, und heute, in unserer Zeit, sind wir wieder dabei, diese Fähigkeit, diese waghalsige Beziehung auf die eigenen Wünsche und Launen, zu vergessen. Für globalisierte Karrieren von Gaddafis Ölhäfen bis zu den rauchenden Trümmern von Fukushima, für vergängliche Arroganz auf ungelesenen Blättern bis zu wertlosem Papier aus Zentralbanken. Man muss auf die Karriere achten, wie man im Feudalismus auf den Patron achten musste, es gab Regeln und Zwänge, und wer einmal einen Platz erreicht hatte, klammerte sich daran und krepierte lieber, als dass er auf dessen Unerquicklichkeiten verzichtete. Rossini hätte jedes Amt haben können. Er stopfte lieber Truthähne mit Trüffeln. Das ist grossartig, finden Sie nicht?

Besonders, wenn man sich als Kontrast die armen, ihn hassenden Figuren auf dem billigen Bodenbelag vorstellt. Er hat sich ihnen entzogen, aber vielleicht ahnten sie ja, was er da in Paris, in seiner Villa trieb, und hassten ihn noch ein klein wenig mehr. Vielleicht dachte Rossini auch spöttisch an die anderen, die ihm und seinem federleichten, schnellen und so liebenswerten Ruhm vergeblich nachzueifern versuchten; so manche feinsinnig-bösartige Bemerkung ist da verbürgt: Man könne Wagners Lohengrin nicht nach dem ersten Hören beurteilen, und er gedenke nicht, sich das ein zweites Mal anzutun. Es ist nur Musik, alle haben die gleichen Tonarten und Tasten, es ist alles irgendwie Musik, und sicher glauben viele, dass die hingeworfene Leichtigkeit des Maestro doch nicht so schwer sein kann – in etwa so, wie wir heute alle die gleichen Tasten auf dem Rechner haben, und trotzdem, der eine kann es, der andere – etwas weniger. Jede Musik ist gut, ausser langweilige Musik, sagte Rossini, und ich denke, das kann man auf vieles übertragen.

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Rossini hat sich einfach anders entschieden. Er hat das eine beendet, und etwas anderes begonnen. Ja, ich finde es auch schlimm, dass die eine oder andere Italienerin in Algier nie geschrieben wurde, und anderes nicht entstanden ist, auf dass man später gesagt hätte: Ach, zum Teufel mit diesem komischen Weiaowallewagner, wir spielen weiter Rossini! Schade. Aber nichts ist ewig auf dieser Welt, nur die tristen, hassenden Gestalten sind nicht ausgestorben, während andere, eine Stretta laut aufgedreht, bald Deutschland verlassen und gen Italien über schneefreie Pässe fliegen. Ohne Verpflichtung, ohne Zwang, zufrieden mit sich selbst und dem, was gewesen ist, und mit tiefer Dankbarkeit, liebe Leser, für all die angeregten Gespräche und den Applaus, die Zuneigung, das Engagement und die Kritik bei 299 Beiträgen und aus über 40.000 Kommentaren.

Danach? Keine Ahnung. Vielleicht Beitrag Nummer 300, vielleicht auch nicht. Rossini wusste auch nicht, was er später alles kochen würde.