Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Im Halbdunkel der Aufklärung

Niemand geht in die Oper, um sich die volle Wahrheit anzuschauen. Man geht in die Oper für die Musik, die Phantasie, die Koloratur der Diva, für Kostüme und idealerweise nicht für neuartige Regieeinfälle auf dem Buckel freundlicher Dramen. Im Teatro Bibiena in Mantua kann man diese alte Opernherrlichkeit noch fühlen, denn alles ist so, wie es sein soll: Fassade: Täuschung. Lüge. Kein Wunder also, dass es auch "Theater der Wissenschaft" heisst.

Italien! Licht! Dieses unfassbare Blau, das sich im Firmament über dem Besucher wölbt! Ist es nicht phantastisch?

Bild zu: Im Halbdunkel der Aufklärung

Also beeilen wir uns, dass wir in ein finsteres Loch kommen. Finstere Löcher gibt es in Mantua so einige, eine berühmte Kirche von Alberti zum Beispiel, und die Verliesse des Palazzo Ducale, in die kaum je ein Sonnenstrahl dringt. Aber fast nichts ist so finster, düster und vollkommen frei vom Tageslicht wie das Teatro Bibiena, das zudem in einer engen Strasse fernab der Touristenströme liegt (allein der Umstand, dass Mantua nun von den Berlusconistas regimet wird, ist noch finsterer). Zwei Euro kostet der Eintritt, und damit hat man in dieser Jahreszeit den Raum als exklusives Vergnügen für sich. Nur hinter einer Säule spielt die Wächterin gelangweilt mit dem Iphone. Aber in welcher Pracht!

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Das Teatro Bibiena, oder wie es eigentlich heisst, das Teatro Scientifico dell’Accademia, ist einer der seltenen Glücksfälle der Geschichte alter Theatergebäude, die allzu grosser Veränderung oder Zerstörung in späterer Zeit entgangen sind. Das Cuvilliestheater in München mag prächtiger sein – aber es ist nur die alte, hölzerne Verzierung vor einer Rekonstruktion. Andernorts hat man die Bühnenräume verlängert, um Platz für jene Maschinerien zu schaffen, die uns heute die ganzen Freuden des Regiemetheaters erst ermöglichen, man hat Orchestergräben angelegt, als gelte es, mit Bratschen und Oboen die Sommefront zu halten, und man hat die Logenwände herausgerissen, um mehr Platz für mehr Besucher zu schaffen – das Ergebnis solcher unbeschränkter Offenheit für die Masse kann man sehen, wenn man den durchschnittlichen Besucher an einer Berliner Oper betrachtet. Das Teatro Bibiena dagegen gelangte ohne grosse Veränderung durch die Zeiten. Mit seiner Glockenform und der kurzen Bühne, die allenfalls Platz für ein gemaltes, aber dafür um so prachtvolleres Bühnenbild lässt, steht es in der ganzen Lust des späten Rokoko vor uns.

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Für solche Aufgaben kannte man im 18. Jahrhundert eine besonders gute Adresse: Die Familie Galli Bibbiena, die sich von reichlich banaler Malerei zu Stars der Dekoratorenszene aufgeschwungen hatten. Feuerwerke, Hochzeitszüge, Begräbnisarchitekturen, Umzüge, Feste, Konzerte, Theater, Inneneinrichtung, Fresken, Kirchen, Paläste, Fassaden: In jener überschwänglich dekorfreudigen Epoche gab es wohl nichts, was die Familie Bibbiena nicht übernommen hätte, wenn nur die Bezahlung stimmte. So, wie Figaro das grosse Faktotum der Stadt Sevilla war, waren die Bibbiena das grosse Faktotum der schnell hingeworfenen Illusion, des Prunks und der Verschwendung. Dergleichen sinnliche Leichtigkeit verzeiht die Kunstgeschichte natürlich nicht, und so fristet das von Antonio Luigi Bibiena in nur zwei Jahren von 1767 bis 1769 eilig vollendete Theater ein Schattendasein neben den Werken von Pisanello, Alberti, Mantegna, Romano und Rubens, mit denen Mantua aufwarten kann.

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Freundlicherweise hat man auch darauf verzichtet, das Theater hell auszuleuchten. Man muss sich Zeit lassen, die Augen müssen sich an das Halbdunkel gewöhnen, das immer noch heller als all die flackernden Talglichter ist, die man hier früher entzündete – Kerzen waren damals so teuer, dass man sie bei Hofe oft vom Verwalter des Tafelsilbers schützen liess, und wenn einmal eine Theateraufführung wirklich von Kerzen illuminiert wurde, galt das als Gipfel der Verschwendung. Aber das menschliche Auge vermag durchaus mit der Finsternis umgehen, und Konturen und Kontraste erkennen, die imposanten Türfüllungen, die Säulen und den Deckenstuck der Logen, die Quader mit ihren diamantförmigen Bossen, alles ist eine Einheit, man merkt im Halbdunkel, wie gekonnt Bibiena hier aus dem Vollen der Ornamente geschöpft und gebaut hat. Und man muss wirklich sehr, sehr nahe herangehen, um in diesem Halbdunkel zu erkennen, dass hier nicht die Verschwendung das oberste Gestaltungsprinzip war: Türfüllungen, Stuck, Quader, Goldornamente, Marmor, das ist alles nur geschickt gemalt und auf wenig Licht berechnet. Die Theaterdekoration im Teatro Bibiena endet nicht an der Bühne, die Illusion – und sie ist wirklich so gut gemacht, dass auch der heutige Mensch gar nicht anders kann, als sich täuschen zu lassen – umfasst Schauspiel und Zuschauer.

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Es dauert eine Weile, bis man diese gebaute Ironie versteht: Der Bau ist zwar durch die Bauherren ganz der Lehre, der Wissenschaft und der Bildung im Sinne der Aufklärung gewidmet, aber Bibiena treibt mit diesem nüchternen Ideal noch einmal den grossartigen Spott des Rokoko. Gleichzeitig ist der Umstand, dass in den besseren Logen nur die üppigeren Täuschungen an die Wand und Decke gepinselt sind, schon wieder eine Ironie der Aufklärung: Wer genau hinschaut, erkennt, dass auch in der Hierarchie der besten Plätze alle Menschen gleich sind, wenn man die Illusion beiseite lässt. Und gerade diese Erkenntnis würde für alle ohne Mühe und Gedanken offensichtlich werden, wäre der Raum hell erleuchtet. Lässt man ihn jedoch im Halbdunkel, kann sich jeder heraussuchen, was er will: Die Freude über die Täuschung, oder die Freude über die Erkenntnis, dass alles nur Täuschung ist. Womit das Teatro Bibiena ein endgültiger Raum der Aufklärung im Sinne des vorbürgerlichen Zeitalters ist. Es wahrt die alte Form, und treibt ihre Scherze damit. Leopold Mozart war davon übrigens genauso hingerissen wie getäuscht.

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Nun sitzen wir also in der Loge in einem halbdunklen Raum, der seinen feinen Spott an uns und unseren Augen auslässt, blicken auf die leere Bühne, und würden uns vielleicht wünschen, dass jemand käme und eine Arie sänge; Simone Kermes in einem funkelnden Barockkostüm zum Beispiel, Tu me da me dividi von Pergolesi. Aber das geschieht leider nicht, und so streift der Blick über leere Logen und sanft glimmende venezianische Leuchter, und wünscht sich weitere, schönere Illusionen; wie wäre es, wenn sie jetzt alle wieder erschienen, die Auftraggeber dieses Baus mit ihren Frauen, den Perücken, den festlichen Seidengewändern und all den Schleifen und funkelnden Steinen, den matt schimmernden Perlen und der Haltung, die zu jener Zeit unverzichtbar war, als man die Falten mit Wachs und Puder zum verschwinden brachte und sich Schönheitsflecke auf die Wangen malte, eine Welt, die nur dann makellos und prunkvoll erschien, wenn man sie nicht zu sehr ausleuchtete, die die Abwesenheit von zu viel Helligkeit brauchte, um über das Parkett mit dem Fächer, Blicken, Gesten und kleinen, durch die Gänge zugestellten Papieren zu kommunizieren, und das mit Galanterie zur Kunst erhob, was die Sitten der Zeit nicht erlaubten. Nun – es ist vorbei. Das Theater ist leer, die Aufklärung und die Wissenschaften, die hier mit begründet wurden, haben uns das elektrische Licht durch den Halogenspot im Bad und dahinter das Atomkraftwerk gebracht, und jedes Fältchen, jeden Krähenfuss kann man ausmachen und überlegen, wie man es wegspritzen lässt.

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Nur des Nachts, wenn es darum geht, Don Giovanni oder der philosophischen Therese nachzueifern und Eroberungen zu machen, greift man doch wieder zu Kerzen, und übersieht die kleinen Makel, die nicht zur Perfektion unserer 90-60-90-Gesellschaft mit Megawattgarantie passen – so klug wie Bibiena sind wir, wenn es wirklich darauf ankommt, dann doch. Man erzählt uns, dass wir vielleicht bald unseren Wohlstand verlieren, dass der Strom mehr kostet und wir deshalb vielleicht nicht mehr jedes Jahr ein Mobiltelefon kaufen können, es soll dunkel werden in einem Deutschland, das Angst hat, so sagen es zumindest manche Leute in den Medien. Aber ich sitze noch lange allein im Teatro Bibiena in Mantua im Halbdunkel und denke mir, dass der Mensch im Talglicht glücklich war, im Kerzenschein und unter der Glühbirne, wenn er nur die richtigen Illusionen hatte. Und die gestalten wir uns je nach Möglichkeit. Kommen Sie nach Mantua, staunen Sie im Teatro Bibiena, gehen Sie dann in ein Geschäft von Möbel XXL, in dem begeistert, mit Leuchten in den Augen weitaus weniger kunstvolle Möbelillusionen aus Pressspan gekauft werden. Es stimmt, wir haben Atomkraft und technische Geräte, wir haben wissenschaftlich belegbare Verluste durch AKW-Abschaltungen und einen grenzenlosen Hunger nach Energie. Wir haben neue Illusionen wie etwa die, dass ein Atomkraftwerk nie wie ein altes Theater abbrennen wird, und passend zur Ausleuchtung gnadenlose Ideale von Form, Funktion und Verschwendung, die darin bestehen können. Nur die Aufklärung, da sind wir noch nicht ganz so weit, um es so höflich zu plaudern, wie es dieser Ort gebietet. Ich finde es jedenfalls nett, dass es heute “Teatro Bibiena” heisst; Theater der Wissenschaft, ach du liebe Güte, wie Berliner Opernbesucher angezogene Männer erfachwörtern im Neonlicht Modelle und Berechnungen, wer sollte sich das in Zeiten wie diesen anschauen. Hier mag ich der einzige sein, dort jedoch – niemand. Nun kommen italienische Besucher, und es ist Zeit, den Ort zu verlassen.

Begleitmusik: Simone Kermes kommt zwar nicht, aber Mantua hat gerade sehr feine Tage der alten Musik, nicht nur, aber auch im Teatro Bibiena.