Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das Festmahl der Gerontokraten

Es gibt Vergnügen, die so üppig sind, dass man gar nicht mehr bemerkt, wie allein man damit ist. Zu diesen Ergötzungen gehören ohne jeden Zweifel Delikatessenläden, die jeden Wunsch erfüllen können. Ausser dem Verlangen, darin junge, adrette Kundschaft zu sehen. Sie sindeher eine Sache für alte, reiche Leute.

Gott, ach Gott! Wir wandeln wie aufgeblasene Schläuche umher.
Petronius, Cena Trimalchionis

 

In italienischen Delikatessengeschäften gibt es drei Arten von Menschen. Nach Häufigkeit sortiert: Alte Frauen, die einkaufen. Alte Männer, die einkaufen. Junge Menschen. Die jungen Menschen teilen sich ebenfalls in drei Gruppen auf: Bedienpersonal. Touristen. Söhne, Töchter und Geliebte älterer Menschen. Sehr selten aber: Junge Menschen, die dort selbst einkaufen.

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Zugegeben, solche Erkenntnisse gelingen dem Betrachter erst, wenn er eine Vielzahl von Spezialitätengeschäften aufgesucht und das blanke Erstaunen ob der Preise überwunden hat. Cremona, Reggio, Parma und gewisse Vororte von Mantua, deren Namen wir hier nicht verraten wollen, warten mit einer Kombination aus Qualität und Preisen auf, die blind macht für Überlegungen jenseits von “Wem könnte ich eigentlich noch den Lardo und ein Kilo Grana mitbringen” und “wie packe ich das alles in 1 kleines Auto?. Ich gebe gerne zu, dass ich im Frühjahr auf einen Schwung meinen Bedarf an eingelegten Trüffeln, Caccioricotta, in Buchenholzfeuer geräuchertem und geaschten Scamorza – ich glaube das wollen Sie alles gar nicht so genau wissen – für die Sommermonate decke. Das ist kurzfristig nicht ganz billig, langfristig ist diese Art der Vorratshaltung aber sehr besucherfreundlich und die unbezahlbare Rettung an jenen Sonntagen, da man etwas Besonderes braucht und vor verschlossenen Läden steht. Trüffel mit Irgendwas geht immer.

Und natürlich sind manche dieser Geschäfte geradezu obszön und anbiedernd. Es gibt keinen echten Grund, den Parmaschinken so, wie er ist, im Verkaufsraum aufzuhängen. Die alten Geschäfte hatten noch eine Trennung zwischen Kunde auf der einen und Verkäufer und Waren auf der anderen Seite. Die neue Geschäftsarchitektur ist reine Pornografie, alles schreit danach, angefasst, bedrückt, an sich gerissen und geleckt zu werden. Jedes Mass, jede Zurückhaltung wird abgelehnt, man soll möglichst viel kaufen. 30 Monate alten Parmigiano Reggiano mindestens im Kilopack. Zwei Kilo Coppa Parma eingeschweisst. Sechs Flaschen Wein. Würste in dichten Paketen verschnürt. Nicht gerade die Mengen, die alte Damen und Herren auf die Schnelle konsumieren könnten. Aber man probiere es ruhig aus und verlange nach 150 Gramm Grana Padano: Geht nicht, sagen die Verkäufer. Zu wenig.

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Geht nicht, würden junge Kunden sagen, zu viel. Die allgegenwärtigen Taschen von Louis Vuitton an jungen Frauen täuschen ein wenig über eine Realität hinweg, in der Akademiker mit durchschnittlich 1000 Euro netto im Monat im Beruf anfangen. Im Norden ist es etwas mehr, dafür sind auch die Preise höher. Italien ist, daran kann kein Zweifel in solchen Geschäften sein, ein durchaus reiches Land, aber die Löhne und Gehälter sind im europäischen Vergleich sehr niedrig. All die Schinken, die Käseleibe, die Stoffe aus Biella und die Schuhe von Mantelassi werden verkauft – aber eher nicht an die Jungen. Wenn man die Üppigkeit mal eben ignoriert, erscheint dieses Land eher wie eine Zukunftsvision für ein überalterndes Deutschland.

Denn ob nun das Einkommen niedrig ist, oder niedrig gemacht wird, weil die Kosten der Altersversorgung vergleichsweise reicher Menschen irgendwie erwirtschaftet werden müssen, ist den Betreffenden vermutlich egal. Die besitzende Klasse wächst aus dem Status der vererbenden Klasse hinaus ins hohe Alter, die Jungen werden dafür in die Pflicht genommen. Den nächsten Schritt sieht man im an sich kinderlieben und katholischen Italien auch schon: Die Geburtenrate ist demographisch nicht wirklich angenehm mit weniger als 1500 Kindern auf 1000 Frauen. Und das liegt auch in besseren Kreisen nicht, wie in Deutschland, an der Unvereinbarkeit von Kind und Karriere, sondern in der Unvereinbarkeit von Kind und Einkommen. Die alten Tanten, die in solchen Geschäften, die Wartenummer in der Hand und dicht gedrängt, über den Kinderwagen herfallen, wenn doch einmal eine – oft gar nicht mehr so junge – Mutter erscheint, wirken nur im ersten Moment drollig. Sie tun es in Ermangelung von Alternativen. Es ist kein Platz der Jugend. Die verbliebene Jugend kauft eher draussen ein, in den Betonbunkern der endlosen Industriegebiete.

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Oh, wir hassen ihn so sehr, sagt S. und meint den alten, gestrafften Mann an der Spitze der Regierung. S. ist ein schönes Beispiel für die Jugend, sie hat zwei bis drei Jobs, manche am Tag und einen in der Nacht, und auch noch eine Theatergruppe, sie wohnt bei ihren Eltern, hat aber immerhin in deren Haus eine eigene Wohnung mit eigener Tür. Sie hassen ihn so sehr, sie wollen ihn endlich weg haben, den Multimilliardär mit seinen Hofschranzen, Skandalen und Rechtsbeugungen. Für die einen ist er die Nemesis, der Inbegriff einer verkrusteten Gesellschaft, für die anderen dagegen eine Chance, ein patriarchales System, mit dem man leben kann und entsprechend belohnt wird, wenn man nur spurt und beizeiten die Kleider oder jeden Anstand fallen lässt. Teurer Schmuck, ein eigenes Apartment, jede Menge Geld, Luxus, oder gar Posten in Staat und Partei: Der alte Mann ist eine Chance, diesen Aufstieg am System vorbei zu bewirken. Die einen machen dafür Bunga Bunga, die anderen schreiben, sagen, urteilen und beschliessen, was gewünscht ist.Das ist obszön, aber obszön ist auch der Überfluss in den Schlemmergeschäften, und obszön ist auch das rabattierte Treiben mit Chipkarten draussen in den Supermärkten: Nur eben arm. Die Gerontokratie des “faltigen *rsches”, um ein Abhörprotokoll zu zitieren, ist auch nur ein Angebot wie ein Kilo Coppa Parma. Man muss nicht, man kann auch anders. Billige Jobs gibt es wie Würste im Laden.

Also, ein Kilo Parmigiano mit 30 Monaten und eines mit 18 Monaten, die Mortadella bitte aufschneiden und einschweissen, wer kann, der kann, und wer nicht kann, muss eben schauen, wo er bleibt, beim Nudelkäse und Wurst, die ganz sicher nicht mehr von freilaufenden Tieren, aber aus der Grossfabrik und dem Verkaufslager kommt, in dem man bitte nur so lange bleiben soll, bis man alles Geld ausgegeben hat. Derweilen reicht man den Alten über die Theke Brocken von gebrochenem Käse, man kann probieren und entscheiden, was geschmacklich besser passt; zwei, drei Euro auf das Kilo sind nicht so wichtig. Sie auch? Gerne. Man ist ja Gast, man kann schlecht Nein sagen beim Fest der Gerontokraten, es hat ja seinen lasziv-dekadenten Reiz, mehr zumindest als das, was draussen vor der Stadt passiert, oder gegenüber vor der Kirche, wo sich Trinker und Afrikaner beim Betteln Konkurrenz machen – solange nicht eine Stadtregierung der Lega Nord die Sache auf ihre Art löst.

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Ob das bei uns demnächst, weicher natürlich und einfach über die Altersentwicklung, auch kommt? Ob die verbrauchten Politiker aller Parteien und Verbände, die schon immer vorhanden gewesen sind, so ein Regime dann auch aufbauen, besser getarnt und mit einer preussisch-genügsamen Assistentin anstelle der Mädchenscharen aus schlechten Vierteln? Wer weiss. bei uns gehen ja alle zu den Discountern, die Dekadenz des Reichtums haben wir kaum als Grundprinzip, statt dessen die Wohlanständigkeit des Geizes um jeden Preis, den Grana bekommt man doch auch schon gerieben in Plastiksackerl. Ich weiss es nicht. Aber was mir auffällt, sind die Damenschuhe. Es war lange Zeit so gut wie unmöglich, in Italien schöne, flache Damenschuhe zu finden. Wenn, dann waren sie für alte Frauen. Junge Frauen trugen sehr oft hochhackige Schuhe, die einen am angeblich so guten Geschmack der Italiener zweifeln liessen. Das hat sich geändert, dieses Jahr gibt es sehr viele flache, nachgerade züchtige und seriöse Schuhe, die nicht im Mindesten wie “so eine” aussehen. Sie hassen ihn und das, was er symbolisiert. Vielleicht brauchen sie das gute Schuhwerk, um darüber und all die Feiern der alten, reichen Leute hinweg zu gehen. Wer sagt denn, dass nicht auch alle Wege der Revolutionen im Mittelmeerraum nach Rom gehen.