Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Der zivilisatorische Fortschritt des Lungentodes

Tuberkulose, Pest, Cholera - das waren früher zuverlässige Todesgrunde. Heute hat man diese Seuchen besiegt und sich neue zugelegt, die nicht mehr sofort bedient werden müssen. Heuschnupfen ist die perfekte Volksseuche für die Leasinggesellschaft.

für die einen und dessen nicht minder zivilisatorische Vermeidung für die anderen.

Chrchr aahrrr chch rrhchrarr.

Unsere Urgrosseltern kauften. Leasing war ihnen fremd, wie im Besitz, so auch in der Krankheit. Tuberkulose war eine typische Qualitätskrankheit jener Tage; wer sie bekam, konnte sich darauf verlassen, daran regelmässig und zuverlässig zugrunde zu gehen. Hier im Haus, im Dach, wo heute Junglehrer wüste Parties veranstalten, waren früher die Dienstboten und kleinen Leute untergebracht; so um 1900, erzählt die Familiengeschichte, starb in kurzer Zeit das ganze Stockwerk mitsamt bildhübscher Töchter an so einer Lungensache aus. Die Gewissheit des Todes hinterliess uns, den Vermietern, die Ungewissheit der Neuvermietung. So etwas vergisst man nicht so schnell. In eben jener Zeit jedoch verbrachte die Familie viel Zeit in den Bergen, wovon noch alte Bilder künden, und dort war es besser. Am besten war es natürlich in Davos, das den Lungengeplagten aus allen besseren Regionen Europas Rettung vor qualvollem Ersticken versprach, oder wenigstens eine angenehme Zeit im Kreise von Personen, die ihren Ehepartnern so oder so abhanden kommen würden.

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Ich denke, mit einer tödlichen Erkrankung begeht man in jüngeren Jahren und unter dem Eindruck einer gewissen Linderung auch sehr viel leichtsinniger Ehebruch, Liebeleien und Duelle, weil es ja eh schon egal ist, und die Hölle auch nicht schlimmer als das unausweichliche Ersticken sein kann. Die Spielkasinos sind immer dort, wo auch der Tod häufig zu Gast ist. Meines Erachtens kann man die mitunter doch sehr frivolen Aspekte des späten 19. Jahrhunderts nur verstehen, wenn man sich die ständige Nähe des Todes im Leben vor Augen führt, und die Unausweichlichkeit der damals neuen Zivilisationskrankheiten in stickigen, verrussten Städten. Existenzielle Erfahrungen ereilten die Menschen in einem guten Alter, als gebrochene Oberschenkelhälse und todsicherer Mindestrenten noch kein Thema waren. Ja, da kann man sich doch nicht nur hinlegen, ja, da muss man nicht gleich kalt sein.

Nun, 100 Jahre später, haben wir die Tuberkulose und das Asthma weitgehend besiegt, und wer sich statt dessen selbst in den Lungenkrebs raucht, tut das auf eigenes Risiko mit der Aussicht, trotzdem recht lang am Leben zu bleiben. Wir sind sauber und ordentlich, wir vertreiben die Milben, haben Filter in den Schornsteinen und Wissenschaftler, die uns garantieren, dass die hohe Blutkrebsrate rund um Atomkraftwerke und Endlager nichts damit zu tun hat. Es ist alles sehr sauber geworden. Meine Grossmutter sagte noch: Ein Pfund Dreck braucht der Mensch im Jahr. Ich selbst stand als Kind in Fieberbrunn mit anderen Verdammten in bitterster Winterkälte, weil unsere Mütter die Ferienwohnungen erst einmal – es ist ja alles für die Kinder – mit Sagrotan heimsuchten. Sauber wie die Luft in Davos sollte es werden. Sauber war es dann auch. Nicht wohlriechend, aber sauber.

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Wir holten uns beim Warten keine Lungenentzündung. Aber heute vermuten die Ärzte, dass es gerade diese Sauberkeit mancher besserer Familien war, die ihre Kinder quasi zu langjährigen Leasingpartnern des modernen Lungentodes machte. Ein Lungentod, dem man nicht bald gehört, sondern einer, der jedes Jahr ein, zwei Monate vom Leben einfordert, mit steigender Tendenz unter der Bevölkerung und, leider auch, bei mir. Manchmal, wenn ich im Frühjahr zu japsen beginne, denke ich, die Natur hat einen Sinn für Ironie: Wir haben sie so sehr vertrieben, dass unser eigener Körper Zeug enthält, das mit dem Fehlen der Erfahrung von Dreck nicht umgehen kann, und dann in einer Art Beschäftigungstherapie auf harmlosen Blütenstaub zu reagieren beginnt. Guter Witz. Der eine kann sich desensibilisieren lassen, der andere schluckt Wunderpillen, der dritte quält sich mit Tabletten durch den Tag, und ich – nun, mir hilft das alles nichts, ich neige schon immer dazu, diese Frühlingsmonate halbtot herumzuliegen und meine Nächsten mit unschönen Details zu erfreuen, die Sie, liebe Leser, vermutlich gar nicht wissen wollen.

Was Sie aber fraglos wissen dürfen: Das hat so gar nichts von der Leichtigkeit alter Kuraufenthalte. Diese Leasingkrankheit nagelt einen allein ins Bett oder in die Wanne, man sagt Termine ab und fürchtet den elterlichen Garten, es ist heiß, aber das Cabrio bleibt geschlossen, es ist wie ein mittleres Endstadium eines nachgerade klassischen Lungenleidens, nur dass es kommt, eine Weile bleibt, einen zum Wahnsinn treibt und dann, wenn man aufgegeben hat, einen vorerst nicht abmurkst, sondern wieder geht, bis zum nächsten Jahr. Man kann in den Kalender schauen und sich danach richten, solange der Körper nicht auch noch einen Deal mit dem Ozon macht, der einen bis zum Hochsommer beschäftigt. Ob diese Krankheit nun TBC. Asthma, eine schlimme Allergie oder was auch immer ist: Das Lungenleiden hat sich erfolgreich den neuen Gegebenheiten angepasst. Und, wie mir meine Mutter berichtet, rufen in den Mittagssendungen im Radio Betroffene an, die Wundermittel anpreisen, die so phantastisch sind wie jene Pillen, die ein Jahrhundert früher jenen verkauft wurden, die nicht auf Jahre nach Davos gingen. Ich selbst kann das nicht hören. Denn so, wie sich die Zivilisationskrankheit dem Menschen anpasst, zivilisiert sich der Mensch weg davon. In meinem Fall: Nach Oberitalien.

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Denn so, wie es in Davos keine Milbe und keine Luftverschmutzung gab, gibt es in Italien kaum eine Polle, die mich schädigt. Während das besonders gute Klima früher nur an besonderen Orten zu finden waren, sind die problematischen Pflanzen nirgendwo, nicht in den Reisfeldern bei Roverbella, nicht am See bei Salo’, nicht im Dom von Parma und auch nicht in den Abgasen alter Rennwägen am kommenden Freitag in Rom. So flexibel wie das Leasing der Krankheit ist auch der Umgang mit derselben, man hat einen Bereich, in dem man frei agieren kann, man muss nicht in einem Davos bleiben oder in Lugano verröcheln, man hat die Wahl: Heute hier, morgen dort, ein Spaziergang unter Palmen oder die Hatz durch Kurven. Einen Kursaal, ein Kasino, eine Promenade, ein Wasserbecken – das war einmal. Der Todesleaser von heute kann sich weitgehend frei bewegen.

Nur hinterlässt er dabei auch wenig, was kulturell von Bedeutung ist. Für solche Krankheiten braucht man eben auch keine Kurorte mit Zuckerbäckerstil. Keine pompös ausgeformte Infrastruktur, kein Grandhotel, weil sich alle, die es sich leisten können, dort treffen müssen. Die Strukturen wollen nicht mehr entstehen, und so gibt es auch keinen Kurschatten, keine verdächtigen Blicke, keine Zauberberge und Prominentenfriedhöfe. Man bezahlt die Freiheit im Zwang mit einem Verschwinden der Möglichkeiten; legt man wert auf Damenunterhaltung, sollte man sich dergleichen selbstversorgend mitnehmen, denn in den Weiten Oberitaliens verlieren sich die wenigen Glücklichen, die nicht daheim leiden, in all den schönen Orten, und kaum gibt es eine Gelegenheit, sie zu finden. Vielleicht, denke ich mir manchmal, sollte man für the happy few eine Art Internetbörse einrichten, so eine Art moderne Kurzeitung, damit all die Verstreuten sich sammeln und austauschen können, oder was man sonst so macht, wenn man die Leasingrate für den Tod stark drückt und viel Zeit und eine eigene Wohnung hat.

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So könnte man denn durch Parma wandeln oder in Brescia die Konzertreihe zu Liszt und Mahler besuchen, sicher sind manche auch an der Küste bei Venedig, in Vicenza etwa kenne ich ein sehr schönes Cafe, an dem man sich treffen und Leidensgeschichten austauschen könnte – Leidensgeschichten all jener, die auch leasen, aber die Modalitäten nicht bestimmen können. Es muss nicht der Heuschnupfen sein: Übler dran und ohne die italienische Option sind beispielsweise Diabetiker. Oder Menschen mit Bandscheibenproblemen durch das viele Rumsitzen am Rechn

Oh, mein Fahrer will aufbrechen, wir müssen los, weg vom Rechner, nach Brescia, Rom, und beneiden Sie uns nicht zu sehr: Wir entgehen der Allergie, aber in den nächsten Tagen leasen wir uns eine akute Abgasvergiftung auf der Mille Miglia dazu. Kunden bei den letzten Dingen sind wir alle. Nur das Produkt können die Glücklichen frei wählen.