Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Das große musikalische Fressen

Keine Spur von Kulturertragungsstarre: Mit der sinnlichen Tafelmusik haben Komponisten den barocken Gaumenfreuden ein bleibendes Denkmal in der Kulturgeschichte hinterlassen, das auch heute noch jenseits des Konzertsaales zu gefallen weiss.

Nachdem dieses Blog Beitrag mit echten Menscheneingeweiden im Kochtopf und geschmacklosen Investioren aufwartete, kommen nun erheblich angenehmere Gaumenfreuden: Venezia Fröscher mit der passenden Musik für grosse Tafeln

Ich bin auf der Suche nach [musikalischen] Motiven,aber es kommen mir ständig nur Pasteten, Trüffel und ähnliche Dinge in den Sinn.
Gioachino Rossini

hors d’œuvre

„Grand Manier und Portwein hinzufügen; die blanchierten Orangenzesten hinzugeben. Soße reduzieren.” Reduzieren? Den Alkohol hatte ich jedenfalls nicht reduziert. Im Gegenteil. Nun entstieg eine Alkoholwolke der Pfanne. Mein erster Versuch an Canard a l’orange schien kläglich gescheitert. Nächstes Mal doch lieber wieder die mir vertraute italienische Küche? Doch da wurde ich Zeuge eines kulinarischen Wunders. Das Sößchen reduzierte sich, der Alkohol verdampfte und übrig blieb pure Gaumenfreude. Seit dieser Kocherfahrung unternehme ich wieder mehr für meine „gute Figur”. Einige Tage später legte ich nach. Diesmal Tafelfreuden à la altdeutsch: üppig und deftig. Wildschweinbraten, Rotkohl, Kroketten, Böhnchen. Ich fühlte mich wie im Schlaraffenland.

Es gab Zeiten da war das Märchen vom Tischleindeckdich das Utopia der hungernden Leute. Vom Hunger getrieben, erträumten sie sich eine essbare Welt: Flüsse voller Milch, Honig und Wein, Käsebrocken anstelle von Steinen, Häuser aus duftendem Lebkuchen. Heute ist Hunger in unserer massenproduzierten Lebensmittelwelt ein Fremdwort. Alles ist im Überfluss vorhanden. Nur die Zeit, die fehlt. Von einem Termin zum nächsten eilend, sieht man auf den Straßen die zahlreichen Gehetzten, die sich im Vorrübergehen noch schnell ein kleines Mittagessen hineinschieben. Ohne Genuss. Ohne Bewusstsein. Leidenschaftslos.

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amuse gueule

Essen ist zum naturbedingten Balast degradiert. Die Lust am Geschmack, am puren Essgenuss scheint in den Rezepten der heutigen Gesellschaft nicht mehr notiert. Es sprießen neurdings Kochsendungen wie Pilze aus dem Boden und mit ihnen all die kleinen kochenden Feinschmecker. Ausgiebig wird die teure Kücheneinrichtung vorgezeigt, wie auch das koordinierte Schwingen der ebenso kostspieligen Küchengeräte. Die luxoriöse Küche hat das Auto als Prestigeobkejt längst abgelöst. Im Fernsehen wird nach etwa 30 Minuten Kochsendung dann die produzierte in die Kamera gehalten. Es folgt ein kleiner Happen zum Probieren. Daraufhin ertönt pflichtbewußt das Biolecksche “Mmmh”. Fertig. Der Appetit und die Sendezeit sind verdampft. Die Zeit nach dem Kochen, das genussvolle Schlemmen, ist keines Bildes wert. Damit erlischt auch die Auseinandersetzung mit der kulturellen Komponente, die hinter einem ordentlichen Fressgelage steckt. Essen ist eine Kombination aus Natur und Kultur. Unser natürliches Verlangen nach der lebenswichtigen Nahrungsaufnahme verbindet sich mit unserem kulturellen Hunger nach sozialer Gemeinschaft und Kommunikation. Dinieren ist menschlich.

Kunstfertig angerichtet findet die Art des richtigen Tafelns durchaus einen ehrenwerten Platz auf dem Kulturteller. Insbesondere wird dabei gerne die Komposition von kulinarischen Menükreationen mit der von Musik in einen Topf geworfen. Zumal Ernährungspsychologen herausgefunden zu haben meinen, dass die Musikauswahl Einfluss auf unser Essverhalten nimmt. Hektische Musik sei eher unappetitlich. Sie lässt uns hastiger futtern und weniger kauen. Speiseaufnahme in stressigen Musiksituationen mache demnach dick und krank. Entspannende Musik habe da einen weitaus gesünderen und verschlankenderen Effekt. Für besonders figurbewußte Esser mag diese Theorie beruhigend wirken. Schlank durch Musik. Für Gourmets ist die musikalische Einlage ein zusätzlicher Genusshappen. Dieses Rezept ist nicht neu. Die Musikgeschichte hält einige Köstlichkeiten bereit.

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Entrée

Zuerst Kirschen, dann junge dicke Bohnen in Milch, Fische und Krebse, Eierkuchen mit Honig und Weinbeeren, gebratener Hering, Aalpastete, kleine Fische mit Rosen, Schweinefleisch, gebratene Gans mit roten Rüben, gesalzene Hechte mit Petersilie, Salat mit Eiern, Torten, Kuchen und schließlich Früchte. An den Adelshöfen des Barock schlemmte man bis zum Erbrechen. Parallel dazu spielte Musik im Hintergrund. Sie war die unabkömmliche Dekoration für die Feier auf der barocken Weltbühne. Musik in Kombination mit Essen manifestierte die Lust am Leben. Dabei verfolgte weder das Menü noch die Musik einen absolut künstlerischen Anspruch. Beides war vielmehr für das “dolce far niente” zuständig. Für den süßen Zeitvertreib. Für die Versüßung des Tages und des Lebens. Georg Philipp Telemanns musikalische Menüabfolge der Musique de table ist das heute bekannteste Beispiel jener höfischen Tafelmusik. Daneben existieren Werke mit programmatischen Titeln wie Banchetto musicale von Johann Hermann Schein oder die Musicalische Tafelfreudt von Isaak Posch. Der Komponist am Hofe Ludwig des XIV., Michel-Richard Delalande, kreierte seinem verfressenen König gleich ganze Symphonien für dessen Tafelgelage: Symphonies pour les soupers du roy – Essen wie ein Sonnengott in Frankreich.

Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erhält die barocke Tafelmusik einen neuen, italienischen Namen: Divertimento. Der neue Name benennt es passend: Es handelt sich hierbei um reine “Vergnügungssmusik”. Divertieren und amüsieren soll man sich. Der ehemalige Gattungsname ist nun zwar pürriert, die Erinnerung an den Geschmack der barocken Tafeln und ihrer Musik bleibt jedoch bestehen. Mozart greift beispielsweise in seinem Don Giovanni auf jene Tradition von Musik und Essen zurück: Don Giovanni begibt sich zu Tisch. Ein eigens dafür engagiertes Holzbläser-Ensemble spielt auf. Bekannte Melodien aus Figaro und Martín y Solers Oper Una cosa rara erklingen. Don Giovanni schreitet nach diesem reichhaltigen Genuss seinem Untergang entgegen, denn der im ersten Akt vom Friedhof geladene Gast wird bald eintreffen.

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plat principal

Huîtres à la Vénitienne, gefolgt von Asperges au parmesan, danach Cannelloni mit Gänseleber, Tournedos à la Rossini und Apfeltart. Bereits an der Wende zum 15. Jahrhundert wurde das Nationalgericht der Italiener besungen: die Pasta. Einige Pergamentdoppelblätter des Codex Lucca im Archiv von Perugia beherbergen eine Kanzonette, die eine Lobeshymne auf die Lasagne anstimmt. Mit dem richtigen Mehl, gelingt die Lasagne zu einem Festschmaus. Die Italiener wußten schon früh, wie man vom Einfachen das Beste herstellt. In Italien des 19. Jahrhunderts kulminiert die Kennerschaft von musikalischen und gastronomischen Freuden dann in einer Person: Gioachino Rossini (www.rossinigesellschaft.de). Seiner Nachwelt ist er durch seine 39 Opernwerke in köstlicher Erinnerung geblieben. Allerdings hängte er mit 37 Jahren die Opernwelt an den Nagel. Er zog nach Paris und widmete sich fortan fast ausschließlich den Freuden eines Gourmets.

Gutes Essen war Rossini ein existenzielles Bedürfnis. Kamen Freunde zu Besuch, schickte er ihnen im Vorfeld umfangreiche Einkaufslisten. Diese Briefe sind wahre literarische Leckerbissen: Trüffel aus der Toskana, Panettone aus Mailand, Balsamico-Essig aus Modena, Mortadella, Oliven, Gorgonzola, getrocknete Steinpilze. Aber auch Schinken aus Sevilla oder Nougat aus Marseille erreichten den Feinschmecker. Seine Lieblingsspeisen hatten alle einen ordentlichen Anteil an Trüffel. Maccaroni mit Trüffelfarce oder die berühmten Tournedos: Rinderfilet mit Trüffeln und Gänseleber in Madeira. Als erfahrener Esser widmete Rossini den kulinarischen Orgien ein musikalisches Potpourri. In der Sammlung von Kabinettstücken Die Sünden des Alters tummeln sich auf dem Klavier Variationen von Butter, Anchovis-Themen, Radieschen und Cornichons.

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fromages

“Alles Käse” – dachten sich die Dadaisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wollten die Musik aus ihrem hoch artifizellem Kunsttempel herausholen. Wie in alten Zeiten des Barock sollte Musik auch wieder zur Begleitung außermusikalischer Ereignisse brauchbar sein. So fand die Tafelmusik wieder ihren Platz am Esstisch. Erik Satie schrieb in dieser Tradition seine Musique d’ameublement  – die sogenannte “Möbelmusik”. Eine Musik, die ausschließlich “nützlich” sein sollte; die peinliche Konversationspausen beim Abendessen zu füllen oder unangenehme Nebengeräusche zu überdecken wusste. Komfort in jeder Form. Saties Experiment ging allerdings dem Bericht von Darius Milhaud zufolge schief. Satie konnte die Esser nicht davon abbringen, der Musik zuzuhören.

Nach dem zweiten Weltkrieg griffen Minimalisten wie John Cage die Idee der Hintergrundmusik wieder auf. 1980 entstand Cages “Möbelmusik” Ecetera, und Bernd Alois Zimmermann komponierte in Anlehnung an die barocke Tafelmusik eines Delalande Musik für das Souper des Königs Ubu.

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dessert

Zum süßen Abschluss kulinarischer Tafelaufwartungen ein “Ohren-vergnügendes und Gemüth-ergötzendes Tafel-Confect”. Der deutsche Benediktinermönch Johann Valentin Rathgeber bietet zum Dessert delikate, zum Teil amüsante, immer aber unterhaltende Musik aus seinem Augsburger Tafel-Confect. Wie Rathgeber erkannte 1672 auch Wolfgang Carl Briegel in Frankfurt die genussvolle Kombination aus Confect und süßester Musik. Vielleicht war die Musik animierend gedacht, sich die sündige Kallorienbombe am Ende eines Mehrgängemenüs nun auch noch einzuverleiben. Einfach aus purer Lust am Genuss und am Essen. Gesättigt war man sicherlich ohnehin bereits. Dank Musik wurde die heute weit verbreitete Angst vor dem ansetzenden Hüftgold schlichtweg übertönt. Wer auf das Dessert verzichtet, setzt ein Zeichen: Lustempfinden, Genusserleben und Geschmacksfreuden zugunsten eines vergänglichen Körper- und Schönheitsideals. Welch ein freudloses Leben. Ein jeder entscheide darüber natürlich selbst, demjenigen sei allerdings das Bonmot des französischen Gastronomiekritiker Jean Anthelme Brillat-Savarin aus dem späten 18. Jahrhundert auf den leeren Teller gelegt: „Ein gutes Essen ohne Dessert ist wie eine einäugige Schönheit.”

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