Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Kunst, Zeit durch Musik zu verlängern

Stress, Hektik, dauernder Handlungsdruck: Auch die klassische Musik hat sich mit der Zeiten beschleunigt. Wo das Barock noch verweilte, knattert im 19. Jahrhundert bereits die Industrialisierung.

Normalerweise führt dieses Blog in das Leben von Menschen, die viel Zeit, aber nicht wirklich viel störende Arbeit haben, was, ich sage das als Kurberichterstatter ehrlich, eine angenehme Art des Daseins ist. Aber wie wir hier leider mit einem Beitrag von Venezia Fröscher erfahren müssen, ist die Hektik auch in jene Stunden vorgedrungen, da wir uns mit klassischer Musik beschäftigen; und ich habe jetzt auch begriffen, warum ich so wenig mit Musik nach 1800 anfangen kann:

Was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Sie in ihrer ganzen Länge empfinden: (…) An der Theaterkasse Schlange stehen, und dann seine Karte nicht benutzen.
Albert Camus (Die Pest)

Wer ausreichend Zeit besitzt, benötigt sie wenig. Wer zu wenig von ihr hat, sucht sie. So wie ich nach einem hektischen 2011 zum Jahreswechsel , denn erst das Ende machte eine Bilanz möglich. Wo war sie geblieben, die Zeit? Das Jahr hat zwar angeblich laut Kalender 365 Tage, aber es schienen deutlich weniger gewesen zu sein, und gefühlt ratterte das Jahr im Schnelldurchlauf dahin. Gegen Jahresende legte es noch einen Zahn zu. Advent, Weihnachten, Silvester – schon war das Jahr nach drei Tagen vorbei. Ein eigentümliches Phänomen, das anscheinend nicht nur mich in regelmäßigen Abständen heimsucht. In solchen Momenten beneide ich all jene, denen Zeitnot unbekannt ist. Dabei ist der Mensch wohl das einzige Wesen, das Zeit hat. Oder eben gerade nicht. Wir erinnern uns nicht nur, das können Tiere ebenso, sondern wir sind uns der verstreichenden Zeit bewusst. „Ich habe keine Zeit.“ Nach dieser Erfahrung des letzten Jahres begab ich mich nun auf die Suche nach der fehlenden, niemals aber verlorenen Zeit.

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Ganz gleich, wie wir uns Zeit vorstellen, ob als abstrakte Größe, von der Uhr diktiert oder als Aufeinanderfolge von Erlebnissen und Erfahrungen – sie verläuft für uns linear. Was gestern war, ist heute vorbei und kehrt nicht zurück. Analog zum Charakter der modernen Wirtschaftswelt und ihrer auf Wachstum basierenden Dynamik, versuchen auch wir, unsere Zeit möglichst zu vermehren. Allgemein bekannt ist die exponentielle Relation zwischen der linear verlaufenden Zeit und der Wachstumskurve. Mehr Zeit – mehr Kapital. Das Kapital wiederum hat in steter Bewegung zu sein: Kaufen, verkaufen, reinvestieren. Aktien, Wertpapiere, Anleihen. Welcher Börsenspekulant käme heutzutage auf die Idee mit Fafners Worten aus Wagners Siegfried zu sprechen: „Ich lieg’ und besitz’: – lasst mich schlafen!“? In einem kreditbasierten Wirtschaftssystem ist es undenkbar, den Nibelungenschatz von Fafner lediglich bewachen zu lassen. Der Schatz darf nicht ruhen. In Form eines Kredites hat er zu arbeiten und sich dadurch zu vermehren. So sind Schatz und Besitzer stets in dynamischer Eile. Davon abgesehen, dass wohl ein Besitzer des Nibelungenschatzes heutzutage sein Eigentum nie als Hartgeld in Händen halten könnte.

Das ausgewiesene Vermögen ist ja fiktiv. Wachstum und Entwicklung als dynamisch verlaufender Prozess hat nicht nur für die wirtschaftliche Realität Gültigkeit, auch für die Kunstwelt: mehr, größer, weiter. Aus dem zarttönenden Cembalo des Barock und dem Fortepiano der Klassik wurde binnen weniger Jahrzehnte ein mehrere Meter langer Konzertflügel. Sogar die Anzahl der Tasten hat sich über die Jahrhunderte bis zu 97 ausgedehnt. Für den Musikliebhaber des Barock ist ein aus ca. 15 Musikern besetztes Ensemble schon ein Concerto grosso  – im 19. Jahrhundert steht diesem beispielsweise Mahlers Symphonie der Tausend gegenüber. Oder die Großbesetzung von Benjamin Brittens War Requiem: Vokalsolisten, Knabenchor, gemischter Chor, Kammer- und Sinfonieorchester. Nicht nur die Besetzungs- oder Instrumentengröße, auch die Musik nimmt in Relation zur Zeit wechselnde Gestalten an. Die Musik des Barock wurde durch die zyklische Form des Dacapos strukturiert, das sich am Ende auf den Anfang beruft.

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Dazwischen liegt die andere Welt des B-Teils. Auf dem Weg aus dem Barock hinaus wird dieser B-Teil zu einer „Durchführung“. Komponisten und Hörer glauben an das lineare Fortschreiten, an die Entwicklung musikalischer Parameter innerhalb eines Zeitabschnittes. Im Sinfoniesatz erwächst zwischen Exposition und Reprise die Verarbeitung des musikalischen Themas. Nur das Verstreichen der musikalischen Zeit macht dies möglich. So wird aus dem Kleinstmotiv des Kopfsatzes von Beethovens 5. Sinfonie in der Durchführung (ab ca. 3:50) ein ganzer Kosmos. In der Vokalmusik läuft die Zeit besonders hörbar ab. Gesagtes bzw. Gesungenes wird nicht, wie in einer Dacapo-Arie, wiederholt. Durchkomponierte Opern lassen einmal Gesungenes hinter sich. Eine Rückkehr an den Anfang ist ausgeschlossen; ein direktes musikalisches Rückbesinnen auf Geschehenes unmöglich. Die Zeit läuft. Der daraus resultierende Stress beim Hörer ist symptomatisch. Hat man auch jeglichen Textschnipsel mitbekommen, um späteren Handlungssträngen in der Oper folgend zu können?

Entspannend waren vergleichsweise die Zeiten des barocken Dacapos. Ob in der Musik oder auch in der Religion: Eine zyklische Form nimmt den zeitlichen Druck. Wenn etwas wiederkehrt, wenn es eine Wiederholung gibt, ist der Situation die zeitliche Einmaligkeit genommen. Gleichzeitig auch ihre Unwiederbringlichkeit. Die Möglichkeit. Zeit zu reproduzieren, erweckt ein Gefühl des Zeitbesitzens. Als Musikhörer kann man sich getrost zurücklehnen – die Passage wird schon noch einmal erklingen. Dieses Prinzip impliziert keine Stagnation. Nein, im B-Teil wird das Erlebte des ersten Teils gespiegelt, ver- und bearbeitet. Der Rückgriff ermöglicht mit Hilfe der neuen Einsicht aus dem B-Teil einen neuen Blick auf die einst erfahrene Situation des ersten Teils. So wird sich Sesto in Händels Giulio Cesare nach der Erfahrung des B-Teils seiner bevorstehenden Tat sicher sein: Er wird Tolomeo töten. Vertrat der A-Teil noch die Ansicht, der Despot Tolomeo habe es nicht verdient, zu atmen, wird aus dieser trivialen Feststellung durch die Erfahrungen des B-Teils ein Entschluss zum Mord. „Die Luft, die weht, hat der stolze Tyrann nicht verdient zu atmen.“ Der B-Teil wiederum personalisiert den Hass Sestos gegenüber Tolomeo: „(…) nur sein Tod kann mich versöhnen.“

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Wiederholung ermöglicht also ebenfalls Wachstum: Zuwachs an Erkenntnis. Im Unterschied zum linearen Zeitprinzip bietet die rhythmische Wiederkehr das Gefühl, die Zeit kehre zurück. In diesem Sinne funktioniert auch das Rondo als eine runde Sache, wie etwa in den Schlusssätzen von Beethovens Klavierkonzerten Nr. 1 oder Nr. 3. Auch die Musik des 20. Jahrhunderts entwickelt solch musikalische Zeitoasen. Die kreisförmige Anlage der Carmina Burana lullt einen durch den Fortuna-Chor am Ende und zu Beginn in eine Endlosschleife des Schicksals. Das Räderwerk des Lebens läuft immerwährend. Zeit läuft ab und kennt kein Ende. John Cage bietet mit seinen 4,33 viereinhalb Minuten Zeit für Gedanken über Musik und Stille. Oder auch Cages Organ2: Im Halberstädter Dom kann man alle Jahre mal wieder einem Tonwechsel der Komposition beiwohnen. Die gesamte Spieldauer des Werkes liegt bei 639 Jahren. Die Erfindung der Langsamkeit als Hörerlebnis.

Warum wir Menschen überhaupt ein Zeitbewusstsein entwickeln mussten und damit auch der Stress Einzug in unsere Welt fand, darüber gibt es quer durch Philosophie und Religion eine einleuchtende Antwort: Weil wir uns unserer Endlichkeit bewusst sind. Da die Zeit läuft, läuft sie uns davon. Es ist also alles eine Frage der Schlussgestaltung. Vielleicht halte ich es künftig wie zu Ende einer gelungenen Musikveranstaltung. Ich rufe mir entgegen: „Zugabe“ – „Dacapo“ – „Encore“ und unwillkürlich merke ich, wie sich Zeit für mich verlängert.

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Am Ende diesen Jahres soll es wieder einmal soweit sein: Es steht wieder ein Weltuntergang zu erwarten. Das Aus sämtlicher Zeiten. Vielleicht eröffnet das eine ganz neue Perspektive. Wie schon Carl Orff in seinem De Temporum fine comoedia – seinem Spiel vom Ende der Zeiten  – bemerkte: „Das Ende aller Dinge wird aller Schuld Vergessung sein.“ Auch das der Zeit,