Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die Beraubung der Europa

Das gnadenlose Exklusivinterview! Lesen Sie jetzt! Alles über die spektakuläre Abreise der Europa! Alle Hintergründe! Alle Skandale! Europa packt aus! Über Merkel, Sarkozy, Bankster, Sparsamkeit und ihre Entfremdung von dem Kontinent, der ihren Namen trägt!

Weiter sodann und weiter, und ganz in die Mitte der Meerflut, trägt er den Raub.
Ovid, Metamorphosen

Letzte Woche erreichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung durch einen Boten, wie wir ihn noch nie gesehen hatten – Flügel an den Schuhen und eine Figur wie ein junger Gott – eine blassrosa Papyrusrolle mit der Anfrage, ob wir nicht jemandem aus dem Feuilleton an den Strand von Matala auf Kreta entsenden könnten. Dort würde sich das Fräulein Europa nach Jahrtausenden zum ersten Mal dazu herablassen, im Beisein ihres Lebensbegleiters Zeus den Sterblichen ein Interview zu gewähren. Sie sei nämlich fest entschlossen, den nach ihr benannten Kontinent wieder zu verlassen, und würde der Bevölkerung zum Abschied gerne noch ein paar persönliche Dinge sagen. Unser Kurberichterstatter Don Alphonso machte sich also auf nach Kreta zum am traumhaft schönen Strand von Matala, wo Zeus dereinst die Königstochter Europa, aus Sidon kommend, an Land gebracht hatte. Er vertäute sein Ruderboot gleich neben der schon schwer mit Bibliotheken, Kunstwerken, Philosophen, die nicht Sloterdijk hiessen, und Kochbüchern beladenen Transportgaleere. Keine Frage, Europa meinte es ernst. In der idyllischen Villa „Elysium” auf den Ruinen der byzantinischen Stadt oberhalb von Matala wurde es unserem Reporter dann bei Himmelsklängen, Nektar und Ambrosium erlaubt, untertänigst einige Fragen an Europa zu richten, während Zeus den Abtransport der neueren Gemäldesammlung überwachte.

Bild zu: Die Beraubung der Europa

Europa: Nein, nicht alles, die Leipziger Schule kann hier bleiben! Ach, Sie sind der Herr von der FAZ? Guten Tag.

FAZ: Guten Tag. Sehen Sie mich von Ihrer Schönheit überwältigt, Madame.

Sie Schelm! Finden Sie?

Aber ja! Welch Ehre für unseren Kontinent, nach Ihnen benannt worden zu sein.

Naja, nicht ganz meinerseits, waren Sie schon mal in Hannover oder Wattenscheid? Aber das ist jetzt auch egal, Sie sehen ja, wir packen zusammen und verschwinden zurück nach Sidon, in meine alte Villa am Strand.

Ich darf Ihnen versichern, wir waren in der Redaktion alle schwer erschüttert, ich bin sofort losgerudert, und wenngleich es mir natürlich weltenfern, galaxienfern, gar amerikafern läge, Sie davon abhalten zu wollen, so wäre es mir und der Auflage doch sehr förderlich, wenn ich wenigstens einen Funken der Hoffnung einflechten könnte, dass Sie uns gewogen bleiben.

Junger Mann: Ich war Ihnen und Ihrem Kontinent Jahrtausende gewogen. Sicher, ich gebe zu, es hat mir anfänglich gefallen, dass gleich ein ganzer Kontinent nach mir benannt wurde, das war wirklich lieb von Zeus, ich fühlte mich geschätzt und geschmeichelt. Und historisch betrachtet muss man auch sagen, dass Europa seit meiner Ankunft eine grossartige Sache war.  Ist Ihnen das einmal aufgefallen? All die Lästerzungen der Literatur von Aristophanes bis Voltaire, von Alain Rene Lesage bin Tucholsky arbeiten sich an Nationen, Torheiten, Völkern, Kriegen, Katastrophen und Regierungen ab. Aber wenn es um den Kontinent geht, werden ihre Wort weich, warm und angenehm. Lesen Sie Heine, wenn er in Europa auf Reisen ist! Denken Sie an Sissi auf Korfu! Wir haben hier natürlich auch Zeitung gelesen und Götterboten beschäftigt, wir haben schon mitbekommen, was alles in Europa passiert ist – aber eben nicht durch Europa.

Bild zu: Die Beraubung der Europa

Europa war früher mehr ein Thema der Wissenschaften.

Der Forschung, der Geographie, der gebildeten Stände… Kriege führte man gegen Fürsten und Nationen, aber eine Grand Tour machte man in Europa. Seuchen holte man sich in Asien, aber künstlerische Anregungen in Europa. Der tumbe Graf in seinem Sumpfgebiet sah nur die Schweinehirten seines Dorfes, aber der Dichter schmachtete nach Anerkennung in diesem Kontinent. Ich hatte immer den Eindruck, für das Gute, das Gemeinsame, das Verbindende zu stehen, für eine Kulturraum, der in der Lage ist, all das Grausame, die Erbfeindschaften und Ideologien letztlich zu überwinden.

Lange Zeit sah es ja auch wirklich gut aus. Die europäische Einigung, die Revolutionen, zuerst in den Diktaturen des Westens in Spanien und Portugal, dann im Osten, mit dem Ende des Kommunismus, da waren wir recht weit.

Also ich fand diese europäische Einigung ja wirklich toll. Haben Sie mal einen Austausch mit einer Partnerstadt gemacht?

Ich war Ende der 80er Jahre Theaterspielen in Grasse, oberhalb der Cote d’Azur.

Oh lala! Na, dann werden Sie ja erlebt haben, wie das war. Sie haben Französinnen kennengelernt und angeschmachtet, Sie haben sich in die Landschaft verliebt und begriffen, dass Kulinarik nicht bei der Weisswurst endet, Sie werden schwermütig, wenn Sie die Immobilienangebote der Provence sehen, Sie könnten sich durchaus vorstellen, später einmal in ein anderes Land zu ziehen, die Sprache zu lernen und dort alt zu werden, weil Sie die richtigen Erinnerungen haben. Für Sie ist Europa die Heimat, Sie empfinden für Siena, Nizza, Helsinki mehr als vielleicht für Berlin, Düsseldorf oder Erding. Sie und Ihre Altersgenossen haben einen natürlichen und allgemein akzeptierten Begriff einer europäischen Heimat, der vor 100 Jahren das Privileg einiger weniger Exzentriker war. So schön kann Europa sein. Dachten Sie. Dachte ich. Und jetzt gehen Sie mal hinunter zum Hafen, in Richtung des kleinen Feuers, das mal Ihr Ruderboot war, und reden mit den Leuten mit den Fackeln und Mistgabeln, was die zu Europa sagen.

Oh, das war das Firmenboot. Ich glaube, das wäre jetzt nicht der richtige Augenblick…

Diese Leute sagen bei Europa nicht Cote d’Azur. Sie sagen was von Verarmung, von niedrigen Mindestlöhnen, vom gezwungenen Weg in die Schwarzarbeit, von ordentlich arbeitenden Leuten, die sich das Leben nicht mehr leisten können. Aber auch davon, dass die sogenannten Technokraten, die Europa ihnen aufgezwungen hat, überhaupt nicht daran denken, etwas gegen die Korruption zu tun, die hier alle bezahlen müssen, und von der nur wenige profitieren: Reiche, Politiker, und ihre Begünstigten im Ausland wie Siemens und die Waffenexporteure. Für die Leute hier ist Europa der Zwang, nach Resten in Mülltonnen zu suchen, und das Krepieren, weil sie keine Medikamente bekommen. Das mag vielleicht nicht ganz gerecht sein, aber es ist auch nicht ungerechter als die Illusion, die man früher von diesem Europa hatte.

Bild zu: Die Beraubung der Europa

Sicher,  das ist alles nicht schön, aber Europa, also der Kontinent, der kann doch nichts dafür, dass die Griechen sich so verschuldet haben.

Bitte, da ist die Tür, gehen Sie hinunter und sagen sie das nochmal zu jemandem, der gerade obdachlos wird. Sie verstehen offensichtlich nicht: Es ist mir vollkommen egal, wie hoch die Schulden der Griechen oder Italiener oder Briten sind. Mein Name, junger Mann, stand jahrzehntelang für den Glauben und die Hoffnung, dass es dieser Kontinent besser kann. Man sprach von mir mit Respekt und Zuversicht. Das lief alles blendend, das war alles richtig, da haben sich viele Leute darum verdient gemacht, von denen ich viele Büsten habe, die ich alle in Sidon aufstellen werde – Sie verstehen, ich bin nicht undankbar. Aber dann wurde an diese schöne Hoffnung der Menschen eine unschöne Vorstellung von wirtschaftlicher Liberalisierung drangehängt, von einem Wirtschaftsraum, von einer Administration in Brüssel, die für alle Menschen Entscheidungen trifft,  während es Banken und Firmen in Europa treiben konnten, wie sie wollten – hier eine Förderung kassieren, dort sich ein Werk schenken lassen, woanders Steuervorteile kassieren, oder Gesetze zu ihren Gunsten durchdrücken. Ich stand mal für Frieden, Zusammenarbeit, einen wunderbaren Urlaub bei Freunden. Und dann hat man meinen Namen für ein Konstrukt missbraucht, in dem Lobbyisten den Ton angeben, das den Banken die Macht gibt und die Demokratien aushöhlt. Europa ist auf dem besten Weg, zum Synonym für politisches Versagen, Sozialabbau und Zwangsmassnahmen zu werden. Und jetzt sagen Sie mal selbst: Sehe ich aus wie Sparsamkeit oder Austerität? Sie kennen doch die Gemälde, die Tizian, Veronese, Rembrandt und Boucher von mir angefertigt haben: Sitzt da eine verhungerte, schlecht gelaunte Lehman-Banksterbraut mit Beraterlaptop auf dem Stier? Mache ich den Eindruck, ich wäre der uneheliche Bankert von Merkel und Sarkozy?

Um des Olymps willen, natürlich nicht! So beruhigen Sie sich doch, und legen Sie das Blitzbündel wieder weg, Sie könnten den Falschen treffen. Meinen Sie nicht, dass sich das alles bald wieder legen könnte?

Was soll sich da legen? Seit 2008 ruinieren die Politiker meinen Ruf, und was tut dieser Schäuble, wenn es um die Zukunft geht? Spielt Sudoku! Macht ja nichts, wenn die Bundesbank eine Bilanz voller Ramsch und Müll hat, weil sie die anderen mitfinanzieren muss. Und wenn die Leute bei Ihnen erst mal merken, dass in Wirklichkeit nur faule Kredite aus Europa in der Bilanz stehen, die dort abgeladen wurden, und die die Steuerzahler werden ausgleichen müssen, schon wieder, für Europa – da mache ich mir keine Illusionen über die Wertschätzung meines Namens in Deutschland.

Ich möchte aber doch zu bedenken geben, dass man sich wirklich bei uns um Sie sorgt. Wir werden ja in den Rettungsschirm neue Abermilliarden einzahlen! Öffentlich hat die Kanzlerin betont, wenn der Euro scheitert, dann scheitert auch Eu—

Diese… Diese ver… Wo sind die Blitze… ich werde sie… sofort… Staub und Asche…

Aber nicht doch! Bitte! Contenance!

Was fällt dieser dahergelaufenen Person überhaupt ein? Hä? Warum sollte Europa scheitern, wenn dieses Frau zusammen mit den Banken und anderen Profiteuren wie schon Hunderte vor ihr eine lausige Währung vor die Wand fährt? Ich sag Ihnen was: Wenn ich irgendwas nicht leiden kann, dann ist es diese Behandlung, als wäre ich eine Hafenprostituierte in Piräus. Kein Geld? Dann ist Europa nichts mehr wert. Solche Leute interessieren sich einen tschuldigung feuchten Dreck für all das, was mich ausmacht. Für die bin ich eine Ware, ein Marktplatz, ein Stück Fleisch zum Verkaufen, die würden Banksti und Pleti über mich drüber lassen, wenn die Kohle stimmt. Man sieht doch, wie das läuft: Sie machen eine Fonds auf, von dem sie behaupten, er würde Europa absichern, und dann bekriechen sie die Chinesen und Russen und was da sonst noch allein Interesse an Profit hat. Dafür halten sie in Sachen Menschenrechte die Klappe, dafür ist ihnen die Demokratie egal, das alles wird weggeschoben, Hauptsache die Bilanzen stimmen für sie und ihre Technokraten und Freunde. Verstehen Sie, dass ich keine Lust habe, mich von diesen Amateurluden auf dem Weltmarkt verramschen zu lassen?

Bild zu: Die Beraubung der Europa

Sicher. Aber es wäre doch wirklich schade, wenn Sie… ich mein, so sind doch nicht alle hier…

Papperlapapp. Den Stier kennt man doch heute nur noch von den Börsensendungen. Wo sind denn die Demonstrationen für ein Europa der gemeinsamen Kultur und Werte? Statt dessen wird überall gehetzt, der Nationalismus kommt zurück, die Völker fangen an, sich zu hassen, die Rattenfänger sind auf dem Vormarsch: Macht das. Geht zurück, woher ihr gekommen seid, werdet wieder bornierte, chauvinistische Erfüllungsgehilfen von Einzelinteressen, macht da weiter, wo die Hooligans vormarschieren, kriecht von einem Schutzschild zum nächsten, verkauft Euch selbst an den Höchstbietenden, ich schaue mir das von Sidon aus an. Sie wissen ja nicht, wie reizend es dort im Frühling ist. So, ich glaube, wir haben alles an Bord. Leben Sie wohl, junger Mann. Und kommen Sie uns doch mal besuchen.

Gerne. Dürfte ich vielleicht auf Ihrem Schiff ein paar Seemeilen bis zum nächste Hafen mitrudern? Ich weiss auch nicht, aber wohl ist es mir hier nicht, angesichts von Teer und Federn dort unten bei jenen Herrschaften, die auf jemanden zu warten scheinen.

Oh, ich vergass, Sie Ärmster: Wenn wir hier weg sind, ist auf diesem Kontinent nur noch die Dummheit unsterblich. Na, kommen Sie mal mit, bei uns haben es die Galeerensklaven besser als bei der Finanzwirtschaft. Ihren Bericht kann der Hermes nach Frankfurt bringen, als Gott der Diebe ist er ja gern dort. Ts.

[Bildquelle: Wikimedia, Abbildungen geneinfrei, Bild 1, Bild 2, Bild 3, Bild 4]

———– o ———–

Epilog: Ja, sicher, es ist zu lang, und ich weiss, mal etwas ganz anderes: Borderlinejournalismus für die einen,
ein Rückgriff auf alte Erzählformen (Dante, Le Sage) für die anderen. Im Vorfeld
war nicht jedermann überzeugt, und ich bin mir natürlich auch nicht
sicher, ob das so in diesen heil’gen Hallen oder gar in
die gedruckte Zeitung könnte – ich
wäre also dankbar um Hinweise,
ob es zugesagt hat.