Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Gott, König, Vaterland

Der Trödelladen der Reaktion hat alte Werte für alle Anlässe, aber in unserer Zeit sind sie wertlos: Sie reichen gerade noch für den innerreaktionären Bruderkrieg aus, aber weder für einen Backlash noch für Merkel.

außerdem: perpetuierst du doch selbst reaktionäre werte.

sagte mir gestern jemand, und es war nicht wirklich nett gemeint. Mit den reaktionären Werten ist das natürlich so eine Sache, denn allgemein ist man lieber modern und fortschrittlich. Tatsächlich bin ich aber teilweise reaktionär und überhaupt nicht modern, und ich kann das auch historisch begründen: Zu allen Zeiten hat es die Menschheit blendend geschafft, unter ihren Möglichkeiten zu bleiben. Es gibt wirklich einen Fortschritt in Sachen Technik und Kultur, und hinter diesem Schneepflug der Weisheit ganz entsetzlich viele Idioten, die alles wieder ruinieren.

Hurra wir können Beile aus Bronze giessen! Und Schädel spalten. Hurra wir können Kathedralen bauen! Und davor Ketzer verbrennen. Hurra wir können drucken! Etwa, was man mit den Juden machen soll. Hurra wir können mit Medizin Krankheiten kurieren! Machen wir ein Patent, dass viele sie nicht kriegen und krepieren. Hurra wir können Fluggeräte fernsteuern! Kann uns da jemand eine Bombe hinbauen? Das mit dem Schädel spalten und dem Ketzer verbrennen hat sich erledigt, man kann als reaktionärer Mensch also problem- und bedenkenlos die Kirchweih besuchen und sich am Klang der Glocken erfreuen. Denn, wie gesagt, die grössten Deppen sind immer ganz vorn, weil sie da am meisten auffallen und ruinieren. Hurra wir müssen das Internet schutzen! Gründen wir eine Piratenpartei und machen uns gegenseitig zum Obst.

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Der Reaktionär also hat den Vorteil, dass er gemütlich jenen Teil der Zivilisation preist, bei dem sich das alles schon mit viel Blut und Tränen erledigt hat. Um mal ein ganz einfaches Beispiel zu nehmen: Vor der Bergwanderung servierte ich ein durchwegs biologisch erstelltes Galette auf Porzellan aus Limoges von 1820. Sicher, die Arbeitsbedingungen von 1820 waren abscheulich, und es ist überhaupt nicht nett, wenn ich bei der Gelegenheit von meinem Sessel aus mit dem Finger auf Berliner weise, die ganz modern und unter Ausnutzung des enormen Fortschritts zweier Jahrhunderte bestellte und gelieferte Dinge essen. Tatsächlich ist die mögliche Ungerechtigkeit, aus der mein Porzellan entstanden ist, durch Hingabe und die Schonung der Schöpfung und Ressourcen in den vergangenen 2 Jahrhunderten irgendwie begründbar.

Aber diese fortschrittlichen Berliner essen aus Einwegverpackungen. Mit allen Problemen, die daraus erwachsen, vom Fracking in den USA oder dem Ölschlamm im Nigerdelta über die Perversion unserer Billignahrungserzeugung und der Verkehrsproblematik in Berlin bis hin zur Müll”entsorgung” und dem Elend der sog. „Verwertung” über den grünen Punkt, so sie ihren Müll denn sortieren und nicht einfach aus dem Fenster werfen. Und das in einer Epoche, in einem Land, in dem eigentlich jeder wissen kann, wie sich das auswirkt, über dieses Internet, in dem man nicht nur Frass, Viagra und Pr0neaux bestellen kann. Es geschieht in einer Zivilisation, die so vermögend ist, dass sich eigentlich jeder sich normales Geschirr leisten kann, was 1820, als man Töpfe noch flickte, vollkommen unvorstellbar gewesen ist. Das ist eines der reichsten Länder der Erde, und sie sitzen auf dem Boden im Müll und freuen sich vermutlich, dass sie mit ihrem Geld keinerlei Stress und Abspülerei gekauft haben. Fortschritt. Das ist der Grund, warum ich reaktionär bin und solche Werte wie Porzellan und Silberbesteck vertrete. Und, zugegeben, voller Verachtung auf solche Individuen schaue, die das auch noch „heimlich” ablichten und ins Netz stellen. Benehmen geht meines Wissens anders.

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Wir sind jetzt ganz vorne auf dem Berg und blicken ins Tal, und vermutlich würden mir die meisten da unten recht geben. Der letzte Döneranbieter steht in Dürnbach, in Gmund gab es eine Aufschrei, als ein Burger King eröffnen sollte, mich schaut hier niemand komisch an, wenn ich einen – in diesem Klima sehr praktischen – Trachtenhut trage, und alles in allem könnte man jetzt glauben, unter all den Dächern würden die gleichen Meinungen herrschen. Es ist das bayerische Oberland, und weil es reich ist und gleichzeitig traditionell, hat sich eben auch noch vieles gehalten. Man geht an Allerseelen zum Totengedenken auf den Friedhof. Wer hier lebt, kann davon ausgehen, dass viele Werte geteilt werden. Wenn ich da unten schreibe, hängt über mir ein Biedermeierportrait von 1820, und das wird allgemein wohlwollend zur Kenntnis genommen. Wir verstehen uns. In einigen Punkten.

Aber das ändert nichts daran, dass uns Teilzeitreaktionäre, alles in allem, weniger verbindet als trennt. Was uns zusammenhält, ist eine gewisse Verachtung für Veränderungen und ihre negativen Folgen, während wir, wenn es sich anbietet, ihre Annehmlichkeiten gern in Kauf nehmen. Das Fracking in den USA stört uns bei der Einwegverpackung, aber weder im Styropor, in dem die Gemälde angeliefert werden, noch im Verbrennungsraum des Kunsttransporters, den meine neuen Nachbarn aus Hamburg kommen liessen: Das nimmt man hier wohlwollend zur Kenntnis. Man ist, grob gesagt, dort reaktionär, wo es nicht schadet und der Bequemlichkeit dient. Ansonsten ist man opportunistisch wie ein hungriger Berliner, der einen weggeworfenen Joint auf der Strasse aufklaubt. Nur mit Geld und Substanz. Weil aber die Menschen verschieden sind, ist man nicht überall gleich reaktionär und fortschrittlich. Und deshalb muss man das genau so sagen: Wir perpetuieren nur ein paar reaktionäre Werte. Und gehen anderen an die Gurgel, wenn es bei denen in der Mischung eine andere Art des teilreaktionären Daseins ist.

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Denn früher – in jener Zeit, aus der weite Teile unserer Sachkultur und Werte stanmen – war reaktionär nicht nur normal. Es hatte drei Klammern um sich, Gott, König, Vaterland, an denen nur ganz wenige rüttelten. Es gab drei Instanzen, aus denen die reaktionäre Haltung entstand, und an denen man sich orientieren konnte. Nützt es dem Vaterland? Ehrt es Gott? Ist es für den König? Mit diesen drei Fragen konnte man das Leben und alle moralischen Fragen meistern. Heute kann man fragen: Nützt es diesem Land, das uns zu diesem Finanzausgleich zwingt, nützt es uns am Hindukusch oder in Graubünden, wo das Geld liegt? Ehrt es Gott oder doch eher diesen Papst oder spart man nicht besser Steuern und den Kindern ist es ohnehin egal, die wollen lieber ein Pferd und einen Roller? Ist es für die Merkel oder die EU-Bürokraten oder für die Bankster, die die Wasserversorgung übernehmen wollen? Da kann man sich jetzt einige Antworten heraussuchen, alle lassen sich reaktionär, heimatliebend und standesbewusst begründen. Aber man kann sich dafür auch hingeben, empören und abschlachten.

Davor schützt einen natürlich zumeist das gute Benehmen und, wie man von oben sieht, die Weitläufigkeit der Anwesen. Vermögen mag ideologische Abgründe überwinden, aber trotzdem geht es auch in diesem Tal bei den Baumassnahmen drunter und drüber, die einen Reaktionäre wollen Investoren und die anderen einen Minengürtel gegen die Chinesen bei Waakirchen, die einen freuen sich über mehr Tourismus und die anderen verlangen weniger Verkehr, die einen gehen in die Überfahrt zum Feiern und die anderen würden den elenden Klotz am Malerwinkel am liebsten planieren lassen (ich neige übrigens jeweils zur zweiten Antwort). Man geht sich nicht an die Gurgel, aber mit dem Anwalt zur Bürgerversammlung. Und alle singen sie dann das Hohelied der reaktionären Werte und dass der jeweils andere doch verschwinden soll, wenn es nicht die seinen sind. Früher wäre vielleicht der König gekommen, hätte sich das alles angehört und gesagt: Meine lieben Landeskinder. So schön ist es hier. Ihr habt alles, was ihr braucht. Ich gebe deshalb allen Recht und auch keinem. Alle hätten Vivat! gerufen, die Böller hätte man abgefeuert und der Priester hätte eine ergreifende Rede gehalten. Weil es nicht nur reaktionäre Werte gab, sondern übergeordnete reaktionäre Werte. Es ist, weil es ein paar allgemeine reaktionäre Restwerte gibt, nicht so übel wie bei den Piraten. Man grüsst sich am Berg. Man bewundert die Geranien der anderen und trägt in der Öffentlichkeit keine Bierflasche. Es ist besser, reaktionär zu sein, zumindest hier, wo das Geld viele Freiheiten zulässt.

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Aber das ist nicht „die Reaktion”. Daher kommt auch kein wie auch immer gearteter Backlash, weil man sich hier auf gemeinsame Ziele verständigen müsste. Weil die einen doch die Ehe hochhalten möchten und die anderen Platz für ihre über diese Hochhaltung allein bleibende Tochter mit unehelichem Kind suchen, ist man auch gut beschäftigt, viel zu gut, als dass man sich hinter einem neuen Führer mit ganzem Herzen sammeln würde. Es gibt draussen vor dem Tal und in den Medien ein paar reaktionäre Marketinggags, wie es manche halt piratig oder sozialdemokratisch sind, Mancher Reaktionär würde ohne mit der Wimper zu zucken ein Dutzend Teller von 1820 auf einen Schädel zertrümmern, wenn ihm nur der richtige falsche Reaktionär im Dunkeln des Weges käme. Ich nicht, ich würde Ikea nehmen. Aber natürlich bekämpfe ich nicht nur Berliner aufs Blut, sondern auch die Golfplatzfreunde in Valley, und das Haus vom Hitlerfreund Amann, in dem eine bayerische Staatspartei zu tagen beliebt, liegt direkt unter dem felsigen Steilhang bei Gasse, wo sie gerade heute das Holz herausschlagen.

Kummt do nix owi? habe ich gefragt.

Woass ma ned, sagte die Jungbäuerin.

Und lächelnd ging ich zum Kerzenanzünden in der Kapelle meines Weges.