Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Sushi, Sex und Sittlichkeit

Vorbemerkung: Vor 200 Jahren starb, verhasst und bewundert gleichermassen, Marquis de Sade. In der folgenden Epoche, die wir, von einigen massenmörderischen Aussetzern abgesehen, gern als aufgeklärte Neuzeit betrachten, hat sich viel getan, und die einst so gefürchteten Werke des Marquis sind in jedem Buchladen wohlfeil erhältlich. Noch leichter ist es, im Internet Pornographie zu konsumieren, auf Plakaten räkeln sich halbnackte Frauen in Posen, die zu Urgrossvaters Zeiten, der dem Franzosen den Bauch im Krieg bedenkenlos aufschlitzte wie eine Wurst, noch unsittlich gewesen wären. Und wer das Pech hat, unter dem rotgrünen Regime in Kreuzberg zu leben, muss gerade feststellen, dass man sich Uropas Sichtweise wieder zu eigen macht: Dort nämlich sind Plakate verboten, die nach Meinung der dortigen Inquisition Frauen sexistisch darstellen. Wir sind zwar weit gekommen, wir sind wirklich nicht mehr prüde, Sex ist ein ganz normales Thema und auch die FAZ hatte heute eine Bildstrecke des Pirelli-Kalenders. Man tut gut daran, sie sich anzuschauen, so lange es noch geht: Denn die Zeiten ändern sich.

Beispiele gibt es zuhauf. In Australien wurde nach einer Internetkampagne das Videospiel GTA V aus den Regalen geräumt, weil es Szenen sexistischer Gewalt und Darstellung von Prostitution bringt. In England veröffentlichte die Regierung eine Liste der sexuellen Praktiken, die nun nicht mehr öffentlich dargestellt werden sollten. Einen Nichtnur-Pornofilter zum Schutz der Minderjährigen gibt es dort schon länger, und auch in anderen Ländern werden solche Ideen immer wieder ins Gespräch gebracht – in Deutschland etwa durch Alice Schwarzer, die vermutlich schon bei meiner Portraitsammlung des Rokoko fragen würde, wo hier der offene Kamin ist. Und auch das Tragen von Kleidern mit darauf abgedruckten Frauen zieht einen Shitstorm nach sich.

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Vieles davon hat mit dem Internet zu tun, aber bisweilen manifestieren sich diese Kämpfe um sexuelle Freiheit und Verbote auch in der Realität. Alice Schwarzer bekam bei ihrer Buchpremiere zum Thema Prostitution Besuch, den Antonia Baum dankenswerterweise hat sprechen lassen. Die nächste Station der Kampagne ist, beginnend mit dem heutigen Tag, das schöne München,

wo ein Hofbräuhaus steht und ein Kongress zum Verbot der Prostitution stattfindet, gefördert unter anderem vom Sozialreferat der Stadt mit Steuermitteln, unter der Organisation des Vereins Kofra e.V.. Wie „Tanzen gegen Prostitution“ aussieht, hätte mich durchaus interessiert, noch mehr aber, das gebe ich zu, hätten mir harte Debatten zwischen den verfeindeten Lagern gefallen. Und auch, wenn die Podien an sich so viel Meinungsunterschiede wie der Volkskongress von Nordkorea versprechen: Dies ist ein freies Land und der Kongress wird vom Volk mitfinanziert. Prostitution ist ein anerkannter Beruf und nicht illegal, es gilt das Recht der Meinungsfreiheit, und ausserdem ist Kofra feministisch. Sie werden doch nicht die Meinung von besuchenden Frauen unterdrücken?

Allerdings wurden dann jene Sexarbeitsaktivistinnen, auf deren Erscheinen ich mich sehr gefreut hätte, bei der Anmeldung von der mit öffentlichen Mitteln geförderten Organisation ruppig aussortiert. Nun wird die Münchner Sozialreferentin also wirklich widerspruchsfrei Grussworte an Alice Schwarzer hören und ganz so attraktiv, dass ich dafür allein nach München fahren würde, ist Tanzen gegen Prostitution dann doch nicht. Eine derartig einvernehmlich-politische Stimmung wird es in München seit den Bierzeltreden von Franz-Josef Strauss nicht mehr gegeben haben, und alle werden verlangen, dass jene, die ausgewiesen wurden, das Schreckliche, Unsagbare, Entsetzliche nicht mehr tun, wofür die „gefallenen Frauen“ nach Uropas Weltsicht eigentlich ganz gute Gründe haben. Nachdem ich aber schon Journalisten an einem kostenlosen Buffet mit öligem Fingerfood gesehen habe, schreckt mich auf dieser Welt keine Perversion mehr. Und was mir eine Sexarbeitaktivistin, nennen wir sie in der Tradition der Oper „Cosi fan tutte“ Despina Castiglione, im persönlichen Gespräch zu dem Thema erzählte, fand ich so bemerkenswert, dass ich sie bat, das doch einfach selbst aufzuschreiben. Nie könnte ich das so schön ausdrücken, und ich verspreche hier auch mehr Vergnügen als bei meiner Schilderung des mit Steuergeld bezahlten Tanzes gegen bezahlten Sex.

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AB HIER NUN DER GASTBEITRAG VON DESPINA CASTIGLIONE

Will der Herr Graf ein Tänzchen wohl wagen

Beim durchaus pikanten Thema „Sex gegen Geld“ reden viele Menschen gerne mit, und obwohl angeblich keiner etwas damit zu tun hat, leistet sich dennoch jeder eine Meinung.

Mir ist noch niemand begegnet, der auf die Frage, was er denn von Prostitution halte, mit völliger Gleichgültigkeit reagiert hat, im Gegenteil. Auf die Frage, ob er oder sie denn schon einmal als Anbieter oder Kunde in diesem Bereich aufgetreten ist, antwortet allerdings die weit überwiegende Mehrheit mit einem für meinen Geschmack manchmal etwas zu entschiedenen „Nein, ICH doch nicht“, gefolgt von einer Aufzählung mehr oder weniger nachvollziehbarer Gründe, warum man selbst niemals so etwas tun würde und am Ende läuft es meist auf eine Conclusio des Stickmusters „bei mir ist alles super, zumindest so lange ich DAS nicht nötig habe!“ heraus. Nötig, soso.

Haben Sie es denn nötig, dass man für Sie putzt und aufräumt, weil Sie es selbst nicht auf die Reihe kriegen? Können Sie weder kochen noch putzen und sind am Morgen nicht mal in der Lage, sich selbst einen anständigen, fair gehandelten Kaffee zu kochen, und kaufen sich deshalb lieber diese völlig überteuerte Plörre, von schlecht bezahlten Angestellten in prekären Arbeitsverhältnissen lieblos in den To-Go-Becher gekippt? Waren Sie gar mal beim „All-you-can-eat“, wo man so viel in sich hineinstopfen kann, wie nur irgend rein passt, und das zum Festpreis?

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Sie leisten Sich da also eher einen kleinen Luxus, machen es sich halt einfach, schätzen schlicht und ergreifend Ordnung und Reinlichkeit eben so hoch wie ihre Freizeit, und können es eben bezahlen? Der Italiener ums Eck kriegt das Saltimbocca auf einem Niveau hin, das Sie vermutlich mit jahrelanger Übung nicht erreichen? Sie wollen manchmal einfach unkompliziert was zu essen?
Und nicht immer dieses Chaos in der Küche haben.

Man kann hierzulande annähernd jede Dienstleitung auf fast jedem Niveau kaufen, und die weit überwiegende Mehrheit findet das eigentlich auch ganz gut so. Dass Menschen in Jobs mit guten Arbeitsbedingungen dank höherer Qualifikation und Bezahlung in aller Regel in diesem System zufriedener sind, als Schulabbrecher auf Mindestlohn in der Gebäudereinigungsbranche, nimmt man billigend in kauf. Es kann schließlich nicht nur Häuptlinge geben. Nur wenn Sex zur Dienstleistung wird, geht der Selbstreflexionsgrad schlagartig durch die Decke, es braucht Sondergesetze, weil es kann ja nicht angehen, dass es leichter ist, eine Pommesbude zu eröffnen, als ein Puff. Was übrigens billige Polemik ist, und nur zeigt, dass Leute, die eine solch blödsinnige Argumentation führen, noch nie versucht haben, irgendwo Räumlichkeiten für ein Bordell zu finden.

Und plötzlich sorgt sich alle Welt um das psychische Wohlergehen der Huren, fühlt sich qua moralischer Überlegenheit nicht nur ermächtigt, sondern geradezu verpflichtet, alles, inklusive der korrekten Kondomverwendung bis ins kleinste Detail zu kontrollieren und zu bewerten. Zu unserem eigenen Besten, auf dass wir auf den Pfad der Tugend zurückkehren und nach allgemein anerkannter Façon glücklich werden. Natürlich braucht der Regulationswahn in Sachen Sexkauf keine wissenschaftliche Grundlage, denn erforscht hat man die Sexarbeit in Deutschland noch nicht ernsthaft. Man weiß ja nicht mal, wie viele Sexarbeitende es hierzulande gibt  Glauben Sie nicht? Schauen Sie mal hier. Man hat sich stattdessen aber eine Meinung gebildet, und die steht fest, denn wer braucht schon Objektivität, wenn er moralisch haushoch überlegen ist.

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Akademisch gebildete, postmenopausale Frauen aus gutem Haus verfassen dann in der felsenfesten Überzeugung, das einzig Richtige zu tun, auf ihren unter ethischen Gesichtspunkten in durchaus fragwürdigen Verhältnissen gefertigten Klapprechnern in gebürstetem Aluminium Appelle gegen Prostitution, und meinen eigentlich Menschenhandel und Ausbeutung. Dabei verstehen sie nicht, wie ermächtigend und befreiend es sein kann, die Stromnachzahlung oder die Klassenfahrt für die lieben Kleinen zusammengevögelt, und sogar noch ein paar Euro für einen Kinobesuch übrig zu haben, wenn man nicht in Wohlstand geboren wurde.

Mir persönlich erscheint als wirksames Mittel gegen Ausbeutung durchaus die Stärkung der Arbeitnehmerrechte, und gegen Menschenhandel und Gewalt möchte ich keinen rührseligen Appell, sondern ganz praktisch alles, was das Strafgesetzbuch zu bieten hat, angewendet sehen. Aber was weiß ein gefallenes Mädchen wie ich schon von der Welt.

Was ich aber weiß ist, dass die Moral doch nicht ganz über allem steht, denn wo ein drängendes Bedürfnis auftaucht, da findet sich in einer dunklen Ecke auch sicher jemand, der bereit ist, es zu befriedigen. Und je größer die Not, desto schlechter die Konditionen und umso härter die Bandagen, mit denen gekämpft wird. Das Problem an Armutsprostitution ist mehr die Armut, und weniger die Prostitution.

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In den meisten Fällen ist die Sache ganz banal und auch ziemlich fair: Zwei oder mehr erwachsene, und weil es um Sexarbeit geht, sage ich das dazu: in aller Regel auch geistig vollkommen gesunde Menschen entscheiden sich, Geld gegen sexuelle Gefälligkeit zu tauschen. Dann wird der Tausch durchgeführt, das kann mehr oder weniger auf- oder anregend sein, und am Ende gehen zwei oder mehr Menschen wieder ihrer Wege, denn das ist Bestandteil des Vertrages. Das ist ein bisschen, wie Essen gehen und sich danach darüber freuen, dass die Küche nicht eingesaut ist. Man schenkt sich noch ein Glas Wein ein, freut sich daran, dass man keinen Ärger mit dem Aufräumen hat, und gut.

Freilich, kann man jetzt sagen, nach dem Sex gibt es aber doch nichts aufzuräumen. Naja. Hatten Sie schon mal Lust auf sexuelle Nähe, aber nicht auf den Partner? Oder haben Sie schlicht keinen Partner, und auch keine Lust darauf, sich einen zu suchen, inklusive des dann nötigen sich-auf-den–anderen-Einlassens? Haben Sie vielleicht gar Gelüste, die ihr Schatz nicht erfüllen kann oder möchte, oder die Sie sich gar nicht getrauen, in Worte zu fassen? Möglicherweise kennen sie auch die verheerende Wirkung von Affären mit emotionalem Ungleichgewicht? Das kann schon mal chaotisch werden, nicht wahr?

Sehen Sie: Es gibt ganz simple Gründe dafür, die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen zu erwägen, dazu muss man nicht zwingend pervers sein. Manchmal wünscht man sich ein Gegenüber, das gewisse Bedürfnisse fachkundig zu stillen weiß, und anschließend diskret verschwindet. Überhaupt Perversionen. Bleiben wir doch beim Essen, da bin ich nämlich ziemlich eigen. Außerdem ist Essen ein bisschen wie Sex. Alle machen es, und jeder macht es ein klein wenig anders.

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Ich bin regelmäßig erstaunt, wie viele Menschen gerne Sushi essen. Viele gehen dafür außerhaus, weil ihnen die Herstellung in der eigenen Küche zu aufwendig… lassen wir das. Jedenfalls, diese Menschen essen mit für mich absolut nicht nachvollziehbarem Genuss rohen Fisch, der in kalten Reis und Algen eingewickelt ist. Und dazu gibt es in Essig eingelegten und vergorenen Rettich. Das ist absolut nicht meine Welt.Ich möchte mich nicht gegen Sushi im Allgemeinen aussprechen, nur ist in meinen Augen Sushi kein Nahrungsmittel, ich finde es fürchterlich und möchte damit nichts zu tun haben. Ich möchte nicht auf einem Fischkutter arbeiten, auch nicht für viel Geld. Wobei ich davon ausgehe, dass die Arbeiter auf den Kuttern nicht reich werden. Mir gefällt es nicht, dass man Fischen den Kopf abhackt, um sie dann in ungenießbare, für meine Nase nach Hafenbecken riechende Häppchen zu verwandeln. Aber ich laufe deswegen nicht barbusig mit einem Transparent in Händen durch die Straßen und rufe dazu auf, Sushi zu verbieten. Ich belästige auch niemanden mit meinen Theorien über die Risiken einer nicht ganz einwandfreien Kühlkette im Spannungsfeld zwischen rohem Fisch, prekären Arbeitsverhältnissen in der Gastronomie und der allgemeinen Darmgesundheit. Ich esse einfach kein Sushi.

Mir persönlich wäre es ganz recht, wenn Leute, die anscheinend weder Sex noch Menschen mögen, sich aus der Diskussion um Sexarbeit heraushalten würden. Ich kann nicht beurteilen, ob ein Sushi gut oder schlecht ist, ich habe von solchen Sachen keine Ahnung, und ich will mich eigentlich auch gar nicht bemühen, hier Kompetenzen zu entwickeln. Ich überlasse das Thema Leuten, die sich damit auskennen, die werden schon wissen, was sie tun.

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Ganz ähnlich ist es mit den Huren. Die wissen, wenn ich sie so unter Kolleginnen frage, erstaunlich gut, was sie wollen und was sie brauchen, um ihre Arbeit gut –also für alle Beteiligten gedeihlich- machen zu können. Sie wünschen sich sichere Arbeitsplätze, günstige rechtliche Rahmenbedingungen, freundliche Kundschaft und anständige Entlohnung, wie alle anderen Mitglieder der arbeitenden Gesellschaft auch. Man könnte fast auf die Idee kommen, das seien ganz normale Leute, die ihren Job machen, ihre Steuern zahlen und ansonsten in Frieden gelassen werden wollen.

Was unsere Dienstleistung jedoch von den meisten anderen Berufen unterscheidet ist die Einordnung als sozial unwerte Tätigkeit und die damit einhergehende dringende Notwendigkeit absoluter Diskretion. Man könnte es durchaus auch Stigmatisierung nennen. Meine Kundschaft kann es sich jedenfalls nicht leisten, den Kollegen am nächsten Tag von dem gelungenen Abend mit mir zu erzählen. Mir sind Fälle bekannt, in denen der Umstand, sexuelle Dienstleistungen in Anspruch genommen zu haben, zur umgehenden Entfernung des Betreffenden aus dem Arbeitsleben geführt hat. Ich weiß, dass an dieser Stelle einige Damen leise applaudieren, aber wissen Sie was: das ist böse, und ich sehe in solchem Verhalten ein Symptom eines in sich geschlossenen und damit stark eingeengten Weltbildes. Wundern Sie sich nicht, wenn ihnen die Gegenseite auch Job- und Gesichtsverlust an den Hals wünscht. Ich bin absolut für Gleichberechtigung und einen respektvollen Umgang im Miteinander der Geschlechter, da gibt es gar nichts zu diskutieren. Aber Gleichmacherei und femicalvinistisches Gedankengut halte ich für ungesund.

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Dementsprechend wird mir sehr unwohl, wenn sich mir bei näherer Betrachtung die Vermutung aufdrängt, dass die Diskussion, wie die Gesellschaft und der Gesetzgeber mit Prostitution umzugehen haben, sich gar nicht darum dreht, was denen, die in der Sexarbeit tätig sind, nun wirklich nutzt. Sie dreht sich befürchterlicherweise um den Grad an Freiheit, der dem Einzelnen bei der Ausgestaltung seiner Sexualität zugestanden werden soll. Und das ist der Punkt, an dem mir mein vegetarischer Teller wieder hoch kommt, und der, an dem es schon lange nicht mehr nur um die geht, die Sex gegen Geld anbieten, sondern um die, die sich nicht dem aktuell herrschenden neopietistischen Selbstoptimierungswahn in vorauseilendem Gehorsam unterwerfen wollen.