Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Die saufenden Neffen und offenherzigen Nichten des Neobiedermeier

auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehenden socialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht und Sittlichkeit zu zerstören
Aus dem Verbot des deutschen Bundestages der Schriften von Heinrich Heine.

Früher war neben dem Schloss Tegernsee ein billiger Supermarkt. Er stammt aus jener Epoche des Niedergangs, die hier auf die letzten Glanzzeiten der 70er Jahre folgte: Als Gunter Sachs mit Brigitte Bardot noch oben in der Sassa Bar anzutreffen war, als heute fast vergessene Versandhausmogule in Schlösschen residierten und Bob Marley vergeblich seinen Krebs kurieren lassen wollte, wäre so ein Schandfleck nicht denkbar gewesen. Aber das Jet Set reiste dann lieber in die Schweiz, der See wurde zum Altendomizil, die Preise für Immobilien sanken, und es war absehbar, dass die gebrechlich gewordenen Karohemdenwanderer, die mit dem Zug noch aus München kamen und auf Almen keuchten, auch irgendwann aussterben würden. So kam es denn auch, und mit ihnen verschwand auch die Kundschaft des Supermarkts. In anderen Regionen würde nun vielleicht ein T€di folgen oder noch etwas Schlimmeres, aber hier ist das etwas anders: Seit ungefähr zehn Jahren geht es aufwärts mit der Region. Und deshalb eröffnet hier jetzt die ganze Vielfalt der Region: Spezialitäten, Schnäpse, Pralinen. Und Trachten.

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Und das in einer Form, die für moderne Städter kaum denkbar ist. Der Karl Jäger eröffnet nicht nur einen Laden am Schloss, nein, die Herzogliche Hauptverwaltung Tegernsee hat dem traditionsreichen Trachtenhaus angeboten, direkt neben dem Hauptsitz der Herzogsfamilie Wittelsbach also seine Geschäfte zu machen. Das ist natürlich etwas anderes als ein Pop-Up-Store in einer vom sozialen Wandel schwer gebeutelten Region. Es ist auch nicht ganz billig, denn es ist deutsche Handarbeit seit 140 Jahren. Früher gehörte es hier dazu, dass man eine reich bestickte Miesbacher Joppe vom Jäger im Schrank hängen hat. Das kommt gerade wieder.

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Ich habe übrigens derer drei. Sagenhafte Stücke. Man lernt die erst richtig schätzen, wenn man wirklich in den Bergen wohnt: Robust, regenabweisend, warm, winddicht und bequem. Gestern Nacht war ich stundenlang damit Sternschnuppenbestaunen. Man kann damit vom Leonhardstein herunterklettern und direkt auf einer Hochzeit erscheinen und ist immer passend angezogen. Der Schnitt – ich habe dazu extra bei Frauen recherchiert – ist so kurz, dass ein männliches Gesäss, so es wohlgeformt ist, darunter gut zur Geltung kommt. Ich hatte übrigens auch schon mal vier, aber eine hat mir dann ein Bekannter nach einem Abend im Biergarten nicht mehr geben wollen. Die auffälligen Stickereien und Hirschhornknöpfe erlauben es Männern, etwas aus dem Gewohnten zu fallen, ohne dabei gleich geckenhaft zu wirken: So will es das Gesetz der Tradition und den feschen Hintern nimmt man zumindest billigend in Kauf.

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Das ist keinesfalls eine neue Entwicklung, sondern eine Wiederholung der Ereignisse der Biedermeierepoche mit ihren Regeln, Vorschriften und der Besinnung auf das Häusliche. Auch damals war die Mode eher freudlos, aber man entdeckte nicht nur das Landleben, sondern auch die Kleidung der Ureinwohner, und da ging dann schlagartig einiges, was daheim undenkbar gewesen wäre. Man kokettierte mit dem einfachen Leben und seinen verminderten Ansprüchen an Moral. Sitte und Strenge, man gab sich etwas legerer und liess das Brusttuch viel weiter offen, als es für die eigentliche Landbevölkerung schicklich gewesen wäre. Es gibt eine ganze Gemäldegruppe, die Städterinnen in ländlicher Verkleidung zeigt: Das hatte mit inneralpiner Realität nichts zu tun. Aber sehr viel mit den unterdrückten Sehnsüchten, Wünschen und Begierden dieser Epoche nach Natürlichkeit und Lebensfreude.

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Linke Politiker nun erkennen durchaus in unserer Gegenwart den Wunsch, sich der Globalisierung und ihren Zwängen durch eine neue Häuslichkeit und Rückzug ins Private zu entziehen. Zähneknirschend hat man den Erfolg der protestantischen Landlust im Norden akzeptiert, Plakate mit familiären Themen gedruckt und eine gewisse Rückbesinnung auf das Regionale zur Nachhaltigkeit und zu Bio erklärt, damit es in den eigenen Wertekosmos passen mag. Aber es gibt natürlich Grenzen des Krötenschluckens, und die sind erreicht, wenn die Tradition nicht nur im Verborgenen gepflegt, sondern offen, bunt und lebensfroh nach draussen getragen wird. Jedes Jahr findet sich dann eine, die sich einen gewaltigen Schiefer einzieht: Letztes Jahr war es die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, Spezialgebiete Endlager und Elektrosmog, die sich bei Twitter über die CSU-Politikerin Doro Bär und ihr Dirndl im Bundestag beschwerte. Dieses Jahr war es die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi – die selbst im Dirndl hier als Urbayerin durchgehen und sofort zur Bierkönigen vom Reutberg gewählt werden würde – die die Garmischer Einwohner beim G7-Treffen in Elmau als „ein bisschen zu viel Disneyland“ verhöhnte und sich an den ein oder anderen Asterix-Comic erinnert fühlte.

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So kann man das auch sehen, aber wenn wir einmal – nur theoretisch bitte, mir ist bewusst, dass die linksfeministisch-sexistische taz andersdenkende Frauen wörtlich mit „Vorderschinken“ vergleicht – über das Gebot der Toleranz reden wollen, so stellen doch viele mittlerweile fest, dass man andere nicht wegen der Kleidung diskriminieren sollte. Das mag noch irgendwie angehen, wenn die Träger selbst mit der Kleidung fremdeln, und sie ihnen aufgezwungen wird. Aber das ist hier ganz sicher nicht der Fall. Wer sich so in seiner Freizeit oder zum Tanzfest zusammenrichtet, der will das so. Sei es aus Gründen der Tradition wie in Garmisch. Oder eben, und hier kommen wir zurück an den Tegernsee, weil er sich von dieser Kleidung eine gewisse Aura erhofft. Eine gewisse legere Lässigkeit, die sich dennoch der Tradition bewusst ist. „Sprezzatura“ nennt man das im Italienischen, und nördlich der Alpen findet es, wenn man will, eine andere Ausformung. Das heisst noch lang nicht, dass ich Polyesterdirndl oder peinliche Ausschnitte mag. Bei Gelegenheit werde ich das auch intolerant und diskriminierend ausbreiten. Aber bis dahin wundert es mich überhaupt nicht, wenn nicht nur Trachtenvereine auf solche Aussagen wütend reagieren, sondern auch viele Jüngere und Progressive. Da will es sich eine Politikerin ganz einfach machen – und trifft auf eine nicht nur komplexe, sondern auch rauflustige Welt, für die es keine Rolle spielt, wer sich hier als neue Religionspolizei betätigt.

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Ich merke das hier an vielen Kleinigkeiten. An den Preisen für gebrauchte Lederhosen und neuen Dirndlschneidereien. Vor acht Jahren war ich auf der Neureuth regelmässig einer der Jüngsten. Heute ist da ein ganz anderes, viel jüngeres Publikum, Familien, die ihre Kinder schon im ersten Lebensjahr hochtragen. Natürlich fährt bei der Hitze gerade jeder gern an den See, wo es acht Grad kühler als in München ist, aber viele finden hier auch genau das, was ihnen gefällt. Saubere Ufer, ein blaugrüner See, Bier, Bänke – man rutscht da so rein. Man wird mitgenommen, es wird zur Gewohnheit und irgendwann sagt dann mal jemand den verhängnisvollen Satz: „Geh, schlupf da doch mal rein“. So war das auch in Bad Ischl unter dem Kaiser, so war es in Tegernsee unter dem König, und wenn der Herzog jetzt den Jäger zu sich einziehen lässt, ist das eben auch so ein Zeichen einer Veränderung. Es ist viel älter als ein Supermarkt, aber auch gleichzeitig viel moderner. Und dank Frau Fahimi und der grünen Endlagerexpertin ist das auch etwas rebellisch und ein wenig unkorrekt. Des muass koa Schodn ned sei, und auch im Biedermeier konnte man in der Sommerfrische ein wenig über die Stränge schlagen und Lieder von Heine singen. In Berlin trinken sie Tegernseer Hell. So fängt das an, so ist es passiert, so schnell ist die Linke korrumpiert

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Diesmal, das muss man verstehen, ist es etwas anderes als die Landhausmode der Epoche von Kohl und Strauss. Diesmal sind es nicht die Alten, die Verhuzelten und die Ewiggestrigen vom Musikantenstadl. Im fernen Berlin merkt das keiner, aber es gibt da so etwas wie eine „Reclaim your Heimat“-Bewegung. Ich weiss, viele winden sich vor Abscheu beim Gedanken an die Massen, die ein Andreas Gabalier anzieht, fordern einen Boykott von FreiWild und die Abschaltung volkstümlicher Musik im TV– da ist aber immer noch genug Hubert von Goisern und La Brass Banda für alle. Da gehen Menschen freiwillig hin und finden das gut. Sie spielen Kocherlbälle nach, und nehmen sich die Freiheiten und die Romantik, ohne die Zwänge und Moral zu akzeptieren, von wem auch immer sie verkündet werden. Für all diejenigen, die jetzt schon mit dem Neobiedermeier nicht umgehen können, ist es eine zusätzliche und schwer verdauliche Herausforderung, auch noch fröhlich sein zu müssen und Berge anzuschauen.

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Aber: Man gewöhnt sich dran. Heutzutage endet das nicht mehr im Endlager des Beichtstuhls oder bei den Gebirgsschützen, sondern da, wo man tun kann, was man will, wo einen keiner blöd anschaut und wo man noch eine Halbe nehmen kann. Das ist alles nicht mehr so leicht, mit diesen globalisierten Ansprüchen, von der letzten verbliebenen Freiheit, der Lactosefreiheit nämlich, bis zum lückenlosen Lebenslauf, aber hier ist es ja Tradition und gleich beim Herzog und deutsche Wertarbeit und Bio und regional und da kann doch kein Kettenhund der Anforderungshöllen etwas dagegen haben.