Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Europa verschwand schon vor zehn Jahren

A slave is one who waits for someone to come and free him.
Ezra Pound

Frau Merkel, das entnehmen wir wie in einer Bananenrepublik vor allem der ausländischen Presse, macht gerade hektische Telefonate auf dem Balkan, um die dortigen Länder dazu zu bringen, die von ihr gerufenen Asylbewerber abzubremsen. Das sind schon interessante Zeiten, wenn in der Heimat tapfer die argumentative Siegfriedlinie vom Facharbeiter durch regierungstreue Medien gehalten wird. Und hintenrum wird darüber verhandelt, wie man denselben in kroatischen Maisfeldern und slowenischen Obstgärten zwischenlagern kann, um ihn dann langfristig auf felsigem, sonnenverglühtem Grund in Süditalien, sogenannten Hot Spots, endzulagern. Die Deutschen haben im Atomentsorgungschaos das Nuklearabfalllager Asse geschafft. Sie haben daraus gelernt und sind nun guter Dinge, die Folgen ihrer planlosen Asylpolitik am Rande des Mittelmeeres zu belassen. Italien war bislang alles andere als deutschenfeindlich, aber ich höre von Bekannten dort, dass diese Pläne nicht wirklich den Wünschen entsprechen. Jeder in Europa, so scheint es, hat ganz andere Vorstellungen von dem, was Europa leisten und können soll. Einen gemeinsamen Nenner gibt es nicht, und langsam bemerkt der ein oder andere, Europa könnte gar scheitern.

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Die Wahrheit ist, dass Europa bereits seit zehn Jahren tot ist, und ich kann es auch zeigen. Wie alle Menschen habe auch ich ein finsteres Geheimnis: Meinen durchaus grossen und zweistöckigen Speicher, den Zimmerleute vor über 400 Jahren auf ein Collegium der Gesellschaft Jesu setzten. Da passen viele Rennräder hinein, und meine ganze Leidenschaft gilt der italienischen Bella Macchina, dem nervösen Stahlrenner mit klangvollem Namen: Colnago, De Rosa, Learco Guerra, Basso, Cinelli, Moser, Grandis, Nicoletti, Chesini, Simmonato und Daccordi. Besonders Daccordi, davon habe ich – ich glaube, mindestens sieben. Das Rohr, das im Bild oben aus der Finsternis des Speichers hervor schimmert, gehört zu einem sehr hübschen Special aus meiner Jugendzeit, und wie man sieht, ist die Aufschrift in den italienischen Nationalfarben gehalten. Das war früher in Italien immer so, denn das Rennrad ist das Symbol der nationalen Sportlerehre, und es war komplett italienisch. Die Rohre von Columbus, die Muffen von Cinelli, Lenker und Vorbau von Tecno Tubi Torino TTT, die Komponenten von Campagnolo, Galli oder Ofmega, Zahnkranz von Marchisio, Reifen von Vittoria, Sattel von Selle San Marco – kein Teil, das nicht in Italien poliert, gelötet, gestanzt und lackiert wurde Und überall waren die Farben dieses stolzen Volkes und dieser selbstbewussten Nation.

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Bis Mitte der Neunziger Jahre verkaufte sich dieser rollende, dreifarbige Nationalismus phantastisch in die ganzen Welt. Man kaufte nicht nur ein Rad, man kaufte italienische Rassigkeit, italienische Eleganz, italienisches Design und einen kleinen Anspruch darauf, eine italienische Seele zu haben. Man kaufte, kurz gesagt, nationalistisch. Man kaufte ein Ideal eines Landes, das es so vielleicht gar nicht gab, und als Restaurator solcher Räder kann ich Ihnen auch ganz derbe Geschichten über die unterirdische Verarbeitungsqualität mancher Marken erzählen: Allein, das störte keinen und wenn ich mir die Preise für klassische Italiener anschaue, ist man wohl auch heute noch bereit, technisches Versagen für eine gesunde Portion Italianita zu akzeptieren. Damit man darauf nicht vergisst und die miserablen Italoaufkleber nicht wie alle anderen in scheusslicher Weise nach einem Jahr abblättern, gab es sogar kleine Flaggen aus Metall, die man auflöten konnte, damit auf immer der Rahmen vom Ruhm des schönsten Landes der Welt kündet. Bis in die EU, bis zum Fall der Grenzen und zum Umzug ins gemeinsame europäische Haus. Da erfasste die Italiener nämlich durchaus so etwas wie eine Euphorie.

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Das ist ein Faggin Piemonte. Faggin ist ein traditionsreicher Radhersteller aus Padua, gegründet gleich nach dem Krieg und lange Zeit eine begehrte Luxusmarke. Dieses Exemplar stammt aus dem Jahr 2002 und drückt die volle Zuversicht Italiens aus, international zu bestehen: Die Rohre kommen zwar nicht mehr aus Italien, sondern von Easton aus Amerika und die Gruppe von Shimano aus Japan, die Laufräder stammen von Mavic aus Frankreich und die Reifen von Michelin. Aber das macht nichts, denn Lenker und Vorbau sind weiterhin von Cinelli, der Sattel ist von Selle Italia und der Rahmen stammt, Ehrensache, immer noch aus Padua und leuchtet in Faggingelb in die Zukunft. Eine Zukunft des internationalen Austauschs, eine Zukunft ohne Grenzen, eine Zukunft ohne peinlichen Nationalismus und archaischen Rückgriff auf Nationen. Bald kommt der Euro, bald wird alles gut, und weil Faggin sich gut gerüstet sieht, und weil man in Europa angekommen ist, prangt da keine italienische Flagge mehr, sondern das Symbol des vereinigten Kontinents.

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Das ist ein Paradigmenwechsel. Eine Firma, voll von Erinnerung an die grossen Zeiten es italienischen Nationalsports, gibt die italienische Flagge auf und hisst statt dessen das neue Sternenbanner. Andere machen das genauso, TTT etwa schweisst Vorbauten, die die blaue Flagge mit dem Sternenkranz zeigen, Italmanubri baut Lenker, die Super Europa heissen: Es gibt eine Phase, rund um das Jahr 2000, da denken italienische Hersteller, dass Europa besser als ihre Italianita ankommt. Ein Europa der gemeinsamen Währung und der gemeinsamen Wirtschaftspolitik. Ein Europa, das Arbeitsplätze ins billigere Ausland verlagert und sich öffnet für billige Schuhe aus China und in Bangladesch genähte Hemden, die dann in kurzer Zeit die Basis der italienischen Wirtschaft massiv schädigen: Die kleinen Nähereien und Schuhfabriken Italiens können da nicht mithalten. Statt dessen wird der chinesische Dreck importiert, hier in Kroatien vielleicht noch einmal umverpackt und mit einem Bapperl versehen, auf dem steht: Made in Europe.

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In diesem gemeinsamen Europa rennen die Deutschen zu den Massenherstellern, die italienisches Design nach einer Saison kopieren, und im Gegenzug eröffnen sie riesige Supermärkte in Italien, die die kleinen Geschäfte der Innenstädte unter Druck setzen. In diesem Europa befehlen die Deutschen, dass die Italiener nicht Berlusconi zu wählen haben, und dass sie die Schwarzen, die die Mafia nach Süditalien bringt, nicht mehr als Pflücker für die Bioorangen einsetzen dürfen, die der Deutsche trotzdem gern für unter 2 Euro das Kilo kauft. Wenn die Mafia dann ihr Geschäftsmodell ändert und Flüchtlinge per Bezahlung bringt, und die Italiener sie auf Lampedusa internieren, schreien die Deutschen in diesem europäischen Haus wegen der Menschenrechte. Lässt Italien die Schwarzen gehen und gehen sie ins wunderbare Deutschland, schreien die Deutschen, das sei ein italienisches Problem. Wie die Wirtschaft, die angebliche Faulheit, die Mafia im Süden, die maroden Banken, die Lega Nord oder auch die Diebe, die deutsche Touristen berauben: Alles italienische Probleme. Sogar Problembär Bruno stammt aus Italien. Die Deutschen sind phantastisch darin, dem Italiener wieder seine Fahne in die Hand zu drücken und ihm zu bescheinigen, dass er so gar nicht in ihre Vorstellung des straff und effektiv geführten Kontinents passt.

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Das hier ist ein Daccordi von 2007, ein Jubiläumsmodell zum 70. Geburtstag der Marke. Da steht dann wieder das drauf, was auch bei den Daccordis der 70er Jahre auf Italienisch zu lesen ist: Handmade in Italy. Immerhin steht es noch da, denn viele anderen Marken wurde seitdem in diesem europäischen Haus das Genick gebrochen: ITM und TTT sind heute Markennamen asiatischer Produzenten, viele andere Firmen haben die Produktion ganz oder teilweise nach Asien oder Osteuropa ausgelagert. Dafür erfreut sich die italienische Tricolore wieder grösster Beliebtheit, so wie eigentlich schon immer, mit Ausnahme einer kurzen Epoche, die mit der Finanzkrise und mit einem Schwall weiterer Vorwürfe aus Deutschland zu Ende ging. Immerhin war man in Italien so klug zu erkennen, dass man mit diesem Europa wohl eher nichts mehr verkaufen würde, und deshalb feiern sie heute wieder ihre Nation. Und verkaufen damit auch nicht schlecht, wie hier ein aktuelles und bizarr teures Pinarello mit Fahne.

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Europa wurde damals wertlos. Es hatte kein positives Image, also verschwand es aus der Industrie. Faggin wirbt heute, wie viele andere Marken, auch mit den drei Farben und dem Spruch „Emotione. Dall Italia“. Für die Gefühle und die Vermarktung der Überlebenden des grossen, europäischen Strukturwandels mit seinen deutschen Gewinnern und vielen Verlierern ist wieder das jeweilige Land zuständig.

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Und wenn die Krisen so weiter gehen, bekommen Cinque Stelle von Beppe Grillo und Lega Nord von Matteo Salvini auch noch die rund zehn Prozent der Wählerstimmen für eine Mehrheit, die über den Austritt aus der EU abstimmen möchte. Es gab, das sehe ich an den Rädern, eine Zeit, in er es andere Möglichkeiten gab. Heute streiten wir darüber, wer welche Flüchtlinge verbindlich in seine Nation einzusperren hat, kontrollieren Grenzen und hoffen, dass alle mit ihren eigenen Fahnen irgendwie vom Kontinent der gemeinsamen Fahne entlastet werden. Der neue Nationalismus in Europa ist längst da. Die einen verkaufen damit Räder und die anderen werden damit ihre Flüchtlinge nicht los.