Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Unterbezahlung als gerechter Lohn für Banausen

Angelina, Angelina, please bring down your Contertina
and play a welcome for me, when I be coming home from sea.
Harry Belafonte

Es ist noch nicht allzu lang her, da betrat man den Dom von Siena, fand hinter dem Eingang im Dunkeln einen hölzernen Kassenverschlag, und löste dort eine Karte. Heute muss man die Karten im Seitenschiff des “Neuen Doms“ kaufen, einer Bauruine des Mittelalters, schräg gegenüber am anderen Ende des Areals. Die Verkäufer sitzen hinter dicken Glasplatten. Vor dem Dom selbst sind Annäherungshindernisse. Und Wachleute mit Metalldetektoren prüfen, ob man Waffen dabei hat. Die Zeiten, da man einfach so in eine Kirche gehen kann, sind, sofern es sich um ein Meisterwerk des Christentums handelt, in Italien mittlerweile vorbei. Unachtsame Besucher sehen nur, dass die alten Holzverschläge entfernt wurden. Kundige erkennen ein ausgefeiltes Sicherheitskonzept, mit dem potenzielle Terroristen auf Abstand gehalten werden.

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Natürlich steigt in so einer Bigletteria auch die Anforderung an das Personal. Solche Posten in Holzverschlägen waren lange Zeit ein zwar nicht gut bezahlter, aber sicherer Beruf im italienischen System der staatlichen Patronage, der wenig verlangte und wenig Aufstiegschancen bot. Italien hat unendliche Mengen an Museen und Kulturgütern, und ebensolche Mengen an Personal, das Karten verkauft, mehr oder weniger aufpasst und das Wunder vollbringt, dass trotz meist vorsintflutlicher Sicherheitstechnik weitaus weniger passiert, als man annehmen möchte. Nur an den herausragenden Werken müssen Mitarbeiter aktiv Leistung bringen. Jetzt, in der Vorsaison, ist die Arbeit überschaubar. In der Saison ist das anders. Aber noch sind die Japaner im Büro und die Chinesen im Stau, die Amerikaner essen Fast Food, und die Deutschen bleiben mit schlechter Laune unter sich.

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Die Deutschen… ja, das ist so eine Sache mit denen. Ob sie in 20, 30 Jahren immer noch so gern nach Italien kommen werden? Auf der einen Seite ist da die Angst vor dem Terror in islamischen Ländern, die plötzlich Pools in Südtirol schöner als Buchten in der Türkei erscheinen lässt. In Kirchen werden in Europa keine Religionskriege zwischen den Konfessionen mehr ausgetragen. Und statt Körperverhüllung sieht man in San Vincenzo, wo ich gerade logiere, erwartbar erste Haut bei 27 Grad und blauem Himmel. Italien braucht keine Zonen für westlichen Lebensstil, es ist durch und durch westlich. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob die Deutschen eine neue Italiensehnsucht entwickeln. Ich sehe zu viele mufflige deutsche Kinder, die lieber in ihre Mobiltelephone statt auf römische Ruinen starren. Jugendliche, die sich von dem angesprochen fühlen dürften, was ich jüngst auf einem Müllportal lesen musste: Vom Gefühl, ein “unterbezahlter Millenial“ zu sein. Tatsächlich wird so ein junger Mensch mit Geldsorgen – die Miete in Kreuzberg! Das neue iPhone! – dann lieber einen Pauschalurlaub dort buchen, wo es deutlich billiger und kulturell weniger bedeutend ist.

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So eine gewisse miesmuschelige Grundunzufriedenheit junger Menschen, die sich alle um besonders beliebte Jobs streiten und bereit sind, für miesen Lohn in einem windigen Verschlag am Rechner zu sitzen, mit einer stupiden Hilfsarbeit, die auch nicht fordernder als das Ticketabreissen ist, wie etwa das Erstellen eines Quiz oder eines Listicles – so eine Unzufriedenheit braucht das deutsche System. Diese Unzufriedenheit ist die beste Propaganda für unseren Leistung betonendes Mechanismus, verbunden mit der Erwartung, dass man irgendwann den Sprung zum gut bezahlten PR-Dienstleister schafft und dort vielleicht ein Viertel von dem bekommt, was der total unschicke Schulkamerad mit dem Maschinenbau- oder Informatikstudium ganz selbstverständlich erwarten kann. Die leicht depressive Grundunzufriedenheit, die junge Medienleute pesthauchen, macht das Dasein hässlich, sie ist so eine Art Ganzkörperverhüllung für die gute Laune, der Dünger für Privilegienforderung und ohne echte Leistungsfähigkeit – so hat gerade die Prantlhausener Zeitung einen feministischen Propagandaartikel beim Guardian abgeschrieben, und darin, welch Wunder, die Gender Pay Gap beklagt. Und die H&M-Jeans passt auch nicht, wie gemein. Das ist wichtig. Alte Trümmer sind egal.

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Ich kenne so eine vulgärdeutsche Lebenseinstellung weder aus meinem deutschen noch aus meinem italienischen Umfeld. Mein deutsches Umfeld spricht eher selten über Einkommen, weil das nur eine nette Komponente des Vermögens ist. Mein italienisches Umfeld arbeitet wirklich, reisst sich die Beine aus, eröffnet Bars, arbeitet nebenher noch auf dem Wochenmarkt und tut alles, um an Immobilienbesitz zu gelangen, sucht nach privater Sicherheit, konzentriert sich auf das Wesentliche, ohne zu klagen – dafür sind sie viel zu stolz. Kein Italiener – es handelt sich dabei nicht um Millenials, sondern um Menschen mit Ehre, Anstand und realistischer Einschätzung der Möglichkeiten – würde sich trotz der Wirtschaftskrise öffentlich als unterbezahlter Angehöriger einer Verlierergeneration bezeichnen und nach dem Staat und Quoten plärren. Sie arbeiten, was geht, und so lange, bis es eben für sie passt. Das ist auch nicht immer schön und gerecht, aber sie tun etwas, damit sich das ändert.

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Deshalb mag ich auch diese zufriedenen und bemühten Wärterinnen an den drittklassigen Denkmälern im Hinterland an der freien Luft. Es gibt dort zwei Arbeitsplätze und momentan vielleicht acht Touristen, die zu beaufsichtigen sind, und die Hälfte davon wäre aufgrund der Vergreisung körperlich nicht mehr in der Lage, Kulturgut nach draussen zu schleppen. Es reicht, die Stühle unter den Baum zu stellen, von dem aus das Areal zu überblicken ist, ein gutes Buch und eine Sonnenbrille dabei zu haben, und die Füsse auf das Mäuerchen davor zu legen. Das ist nicht gut bezahlt, macht aber erkennbar zufrieden und glücklich. Seit vielen Tagen scheint hier die Sonne. Im Osten geht sie über Siena auf, im Westen über dem Meer unter, dazwischen ist eine Art literarisches Picnic an einem der schönsten Plätze der Erde. Die Römer wussten schon, warum sie hier ihre luxuriösen Bauten errichtet haben. Marmorsäulen gleissen im Sonnenlicht, ein Lächeln umspielt die Lippen der Lesenden. Würde ich etwas fragen, bekäme ich eine freundliche, hilfreiche Antwort. Das Leben ist schön. Alle sind zufrieden. Im Schatten schläft eine dicke, schwarze Katze. Um uns herum versinkt die Welt im Chaos – hier steht sie still und bietet jedem, was er braucht.

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Ich erkläre etwas über die Konstruktion römischer Theater, über die Aufführungspraxis und die Akustik solcher Gebäude, und bin ganz erstaunt, dass ich die Raumabfolge der Thermen übersetzen und erklären kann. Man glaubt gar nicht, was sich alles an sinnlosen Informationen in der Gehirnmüllhalde, die während der Grand Tour aufgehäuft wurde, bestens erhalten hat. Am Geländer fühle ich, wie das Eisen nachgibt, weil es entlang der Wasserwege längst vom Rost zerfressen ist. Oben in den Mauern brechen Rosmarin und Currykraut den Stein, ein leichter Wind fächelt Luft vom Meer herüber. Seit den Tagen, da drüben an der Küste auf der Via Aurelia die Legionen nach Norden marschierten, um die Germanen vom Baum zu pflücken und ihnen die Vorteile der Reinlichkeit nahe zu bringen, ist die Führerschaft in Europa auch gen Norden gewandert, und hält sich in den Kreisen, die die Berliner Republik unter sich aufteilen wollen. Dort liegt die Macht, sofern die Niederländer nicht anders entscheiden. Hier unten ist aber immer noch die Grösse der Geschichte.

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Und die zufriedenen Wärterinnen hier unten und ihre männlichen Kollegen oben bei den etruskischen Tempeln. Man kann nicht alles haben, Kultur verträgt sich nun mal nicht gut mit dem Verlangen nach Aufstieg in einer von Leistung und Geld geprägten Gesellschaft. Man muss Kompromisse eingehen, und hier besteht dieser Kompromiss aus einem eher kleinen Verdienst, Blick über die schönste Landschaft der Welt, einem Buch und viel Sonne. Woanders wird dagegen strategisch geplant und intrigant gewühlt, um in einem engen Büro nach vorne zu kommen, und das ausgerechnet in Berufen wie meinem, die, bei Lichte betrachtet, in den letzten 20 Jahren schlimmer verrottet sind, als die Eisengeländer, die unsereins beim Betrachten der Ruinen vor dem Absturz bewahren sollen. “Unterbezahlt“ ist für die nächste Generation nicht mehr als der Einstieg in die Altersarmut. Die Wärter sitzen auf festem Grund, und die Mauer sieht solide aus. Sie und ich, wir sind, jeder auf seine Art und Weise, ganz oben in der Zivilisation angelangt, selten und wenigen ging es besser. Mag sein, dass sie mehr mit neuen Touristenströmen zu tun bekommen, wenn es andernorts noch schlechter geht, und irgendwann muss auch ich wieder nach Deutschland, um mein Rad und frische Kleidung zu holen und nach Siena umzuziehen. Aber in diesem Moment, an diesem Nachmittag, gehen einige Menschen in ihrer Arbeit zufrieden auf – sie, weil sie ein gutes Buch lesen, und ich, weil ich ihre lächelnde Zufriedenheit beschreiben und erklären darf.

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Es gibt tatsächlich noch ein Leben ohne Klage und Jammern, ohne immer neue Forderungen und Befürchtungen, dass es bald wieder knallen könnte, ein wenig vergessen und entkoppelt vom Strom der immer gleichen, immer gleich schlechten Nachrichten, die ihren sumpfigen Grund im Verlangen nach Mehr und nach Unterwerfung von anderen haben. Die Katze schnurrt, wenn man sie streichelt, und die Säulen, die die alte Gesellschaft stützten, künden von Lustspielen, in denen man noch herzlich über dreiste Aufschneider lachte, die nichts leisteten und dennoch mehr Geld verlangten. Buffone nennt sich so einer in der Commedia dell’Arte. Wirklich, wir sollten seine über H&M-Hosen jammernden Enkelinnen mehr verlachen. Und die Wärterin, die alle gewitzte Weisheit der Colombina in sich vereint, beim Verlassen des Theaters an einem der schönsten Plätze der Welt freundlich grüssen.