Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Passo Continuo: Kluge denken, Unbelehrbare siegen

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Optimisten und Pessimisten. Optimisten werden sagen, dass das Pfitscher Joch der drittniedrigste Übergang zwischen Nord- und Südtirol ist, und es schon werden wird. Pessimisten werden sagen, dass es von Mayrhofen bis zum Pfitscher Joch 1650 Höhenmeter sind, und die letzten 500 Höhenmeter teilweise geschoben werden müssen. Und dann gibt es noch die Unbelehrbaren wie mich. Die laufen ausser Konkurrenz und sind gestern erst in stockfinsterer Nacht in Mayrhofen angekommen, weil sie sich grandios verschätzten, und sahen so elend aus, dass der freundliche Wirt vom Waldcafe ihnen ein Schnapserl anbot. Unbelehrbare buchen trotzdem auf der anderen Seite in Sterzing ein Zimmer im Schwarzen Adler und geben an, so gegen 16 Uhr dort sein zu wollen. Vier Stunden rauf, eine Stunde Pause mit Alpenpanorama, eine Stunde runter.

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Diese Stunde Pause und noch eine verbrauche ich nicht am Gipfel auf 2248 Höhenmeter, sondern in Ginzling. Der Plan war, hoch zum Schlegeisspeicher zu stampfen und das Joch zu stürmen, die Realität dagegen sieht aus wie ein Märchenland. Da kann man nicht einfach geistlos durchstampfen. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es steiler als erwartet durch eine Schlucht nach oben geht, und mir der letzte Tag doch noch in den Knochen steckt.

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Allein schon die von einem reissenden Bach in den Fels gegrabene Klamm und die gewundene Strasse, die sich darüber entlang der Felsen schlängelt, sind atemberaubend. Ein Brocken Via Mala, ein paar Stücke Ardeche, ein Licht von unnatürlicher Reinheit auf schwarzen Tannen. Die Strasse ist steil, hart und nimmt auf die Wünsche von Radlern nach Entspannung keine Rücksicht.

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Aber der Vorteil am Rad ist, dass man alle 20 Meter anhalten kann, wo Autos immer weiter müssen. Ich kann unter überhängenden Felsen warten, in engen Kurven, und als das Tal sich dann weitet, darf ich auch verweilen. Ich darf das. Autos müssten schon eine Panne haben, um verweilen zu dürfen.

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Deshalb schaffe ich die ersten 400 Höhenmeter nur in luxuriösen zwei Stunden, und widme mich dann auch weiterhin lieber architektonischen Studien. Wie diesem Ensemble von Sommerfrischehäusern aus der Spätzeit der k.u.k.-Monarchie, als diese Region touristisch erschlossen wurde.

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Völlig fertig und ausser Atem Stoisch warte ich weiter oben dann auf den richtigen Moment, bis sich erste Quellwölkchen verzogen haben, um dieses Bilderbuch-Gehöft an einem versunkenen Felsen abzulichten.

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Andere Radler kommen, andere Radler gehen. Ich müsste bei ihrem Anblick so etwas wie sportlichen Ehrgeiz empfinden, aber keine Wade zuckt nervös. Viel zu schön hier. Wer wird sich denn abhetzen. Und ausserdem habe ich noch so viel Zeit.

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Wohin, fragt mich einer. Nach Sterzing, antworte ich, und er sagt Oha und Na dann gute Fahrt, ganz so, als hätte er Zweifel, ob ich das schaffe. Dabei bin ich schon auf 1250 Meter, und 1000 Höhenmeter sind doch kein Problem. Ich fühle mich gut. Die Sonne scheint. Da oben, erzählt er, gäbe es auch eine Schutzhütte.

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Ich erfreue mich an den hiesigen Rindern und ihrer stoischen Gelassenheit. Die machen es richtig. Sie haben alle Zeit der Welt und Wiesen, auf denen man sich auch am liebsten wälzen würden, so gut duften sie. Oder ein Picnic machen, mit Körbchen und Silberbesteck. Das ist daheim, das passt nicht aufs Rad, aber dafür finde ich eine ruhige Stelle am Fluss.

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Es kommt ein alter, weisser Man vorbei, während ich meine Vorräte an Vintschgerln aufbrauche, geht mit den Füssen ins Wasser und fragt mich, wohin ich unterwegs bin. Über das Pfitscher Joch nach Sterzing, sage ich, und er fragt, wie lange ich da denn brauchen würde. 2 Stunden hoch, eine Stunde runter, sage ich, und er sagt, da oben gäbe es aber auch eine Schutzhütte. Es ist früher Nachmittag an einem schönen Spätsommertag.

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Das Licht funkelt im klaren Wasser. Es ist schön, meine Beine fühlen sich gut an, und es ist nicht mehr weit. Ich verstehe nicht, warum er über Schutzhütten redet. Vielleicht ist es ja ein hübsches Photomotiv, wer weiss. Dann breche ich wieder auf und rolle Richtung Mautstrasse.

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Es geht über Serpentinen nach oben. Serpentine, Rampe, Serpentine, Rampe, Serpentine, Rampe, und so weiter, immer höher, immer langsamer, denn die Rampen sind steil und die Luft wird merklich dünner. Unter mir rauscht der Bach in einer Klamm, über mir ragen die Gipfel bis auf 3500 Meter auf. Irgendwann sind alle Rampen, die von Serpentinen unterbrochen werden, vorbei.

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Es kommt dafür eine lange Gerade in 400 Meter langen und rustikalen Tunnels. Es ist da drin niedrig und eng, und ich wäre überhaupt nicht überrascht, träfe ich hier ein paar Zwerge, die mich fragten, wohin ich fahre und mich auf die Schutzhütte hinwiesen. Zwerge wären mir lieber als Autos, deren durch Amplen gebremste Kolonnen ich lieber abwarte. Es ist, mit einem Wort, gespenstisch. Es zehrt an den Nerven. Irgendwann ist es glücklicherweise vorbei.

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Oben an der Ampel wartet ein Berggott auf einem riesigen BMW-Motorrad. So stelle ich mir einen Berggott vor, langer, weisser Bart, hochgewachsen, steinalt, listige Augen, und er ruft mir zu: Wohin? Sterzing, rufe ich zurück. Heute noch, fragt er und als ich fröhlich Ja! rufe, sagt er anerkennend Haha. Haha, rufe ich zurück und mache eine Pause für Wasserfall und Vieh.

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Dann taucht, erst in der Ferne wie die Mauer einer verbotenen Stadt, die senkrechte Wand des Stausees auf. Nur deshalb wurde diese Strasse angelegt, die ich mich nun hoch kämpfe, davor war das Pfitscher Joch in neuerer Zeit eine kaum begangene Abkürzung über die Berge. Aber was heisst schon Abkürzung. Als ich fast oben bin, steht die Sonne schon etwas tiefer. Es hat alles etwas gedauert.

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Dann bin ich oben, und kann die kläglichen Reste der Gletscher bestaunen. So schön es dort unten im Tal ist – die Aussicht hier oben auf den Klimawandel ist bitter. Als der Stausee vor 60 Jahren gebaut wurde, reichten die Gletscher fast bis an den See.

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Am Beginn der letzten Etappe – 500 Höhenmeter Wanderweg zum Joch – kaufe ich zwei Stocknägel als Erinnerung, vom Stausee und vom Pass. Wohin, fragt der Verkäufer, und als ich sage, dass ich nach Sterzing will, bietet er mir ein Schnapserl an und fragt mich, ob ich bei der Schutzhütte anrufen will. Meine Schutzhütte ist der Schwarze Adler in Sterzing, wo ich eigentlich vor einer Stunde ankommen wollte, nach dem ursprünglichen Plan, also bedanke ich mich und fahre los.

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50 Meter. Danach bin ich gut durchgerüttelt. und steige ab und schiebe.

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Genau genommen gibt es hier eine enzige Trage- und Schiebepassage. Sie beginnt 50 Meter hinter dem Gatter und endet auf dem Gipfel.

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Sie ist erst flach und mit Leuten gesäumt, die einen auf die Schutzhütte hinweisen, und weiter hinten leer und steil. Mein Rad wiegt 20 Kilo. Es ist nicht wirklich die reine Freude, es hier hoch zu tragen. Dann endlich, der Grat.

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Und die Schutzhütte. Dachte ich. Von unten. Hier oben stellt sich aber heraus, dass es erst eine Alm ist, und der Grenzübergang auf dem nächsten Berg liegt, eine halbe Stunde weiter. Sagt ein Mann und bietet an, schnell bei der Schutzhütte anzurufen, ob da noch ein Platz frei ist. Offensichtlich kamen hier heute noch mehr Unbelehrbare vorbei, die glaubten, der Weg über das Zillertal nach Italien sei eine Abkürzung.

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Ich lehne ab und marschiere weiter. Da unten, ganz weit weg, der helle Fleck: Das ist der Stausee. Dazwischen liegt die angebliche Abkürzung nach Italien. Ich denke nicht mehr, was auch prima ist, wenn man zu den Unbelehrbaren gehört. Ich schiebe. Ich trage. Ich gehe voran. Denken hätte vor zwei Tagen geholfen, als ich aufbrach, jetzt hilft nur noch die Kraft der Beine und ein starker Rücken.

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Als ich oben ankomme, geht gerade die Sonne über den Bergen unter. Immerhin ist hier kein Mensch mehr, der mich auf die Schützhütte hinweist, die sich hier jenen öffnet, die nicht mehr 35 Kilometer und 1300 Höhenmeter ins nächtliche Pfitschtal hinab stürzen wollen.

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Denn wer ist schon so wahnsinnig, so etwas über Schotterstrecken und enge Serpentinen zu tun?

Nur die wahrhaft Unbelehrbaren. Eine Stunde später entschuldige ich mich in Sterzing an der Rezeption für meine äussere Erscheinung und dafür, dass es etwas länger gedauert hat. Draussen rabenschwarzt die Nacht über Weise, Dumme und Unbelehrbare.