Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Leben und Feinde finden am See

Endless days of summer longer nights of gloom, waiting for the morning light
Genesis, Home by the sea

Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Die einen wollen wissen, wie man reich wird. Die anderen wollen wissen, wie man mit guten Freunden glücklich wird. Und ich bin in der vorteilhaften Situation, beide Fragen umfassend, ehrlich und ohne die an dieser Stelle üblichen Lügen von Ehrbarkeit und Zuneigung beantworten zu können. Technisch gesprochen wird man in Deutschland reich, indem man in eine reiche Familie geboren wird, und das Vermögen später übernimmt. Das ist ganz einfach, das machen viele, es funktioniert, man kann an den Tegernsee ziehen, und man muss noch nicht einmal etwas dafür tun.

Die andere Frage kann ich zumindest von meinem Klassenstandpunkt aus beantworten: Man lebt mit wenigen, wirklich guten Freunden, wenn man sich mit aller Welt zuerst einmal befreundet und dieser aller Welt dann das Versprechen glaubt, sie würde einen als Mensch so nehmen, wie man ist. Wenn man dann exakt so ist, wie man ist, kommen nur die Wenigsten damit wirklich klar, weil unerreichbare Privilegien unverständliches Verhalten zur Folge haben. Es kommt nun mal nicht gut an, Menschen mit regulärer Arbeit auf das schöne Wetter unter der Woche hinzuweisen und sie zu einer Radtour einzuladen. Es ist nämlich laut meiner Recherchen in diesem Bereich so: Gewöhnliche Menschen müssen dafür bei einem Vorgesetzten erst einmal um Urlaub bitten oder blau machen, und werden in aller Regel so einen Vorschlag ablehnen müssen. Wenn man das zu oft macht, mit Reisen, in der Freizeit, beim Konsum, beim Wegwerfen, in kulturellen Fragen und Fragen des Unverständnisses, warum andere nicht so können – dann bleiben halt am Ende nur ein paar wenige Freunde übrig, die gut sind, weil es ihnen genauso ergangen ist, und die keine alternativen Freunde haben. So entstehen dann Westviertel und deren Kinder, die gar nicht wissen, dass manche keinen Garten haben. Leute wie ich eben.

Zum Trost kann man sagen, dass es letztlich Feministinnen, Mönchen, ARD-Mitarbeitern und Stasioffizieren auf deutlich niedrigerem Niveau mit ihren festgefügten Vorstellungen auch nicht anders geht. Der Unterschied – und das nun ist das eigentliche Thema – ist die Fähigkeit in meinen Kreisen, andere nicht nur mit schwerer Arbeit und hässlichen Debatten um politisches Fett und korrekter Einstellung zu vergraulen. Unsereins muss nicht lange unüberwindliche ideologische Differenzen aufzeigen, oder Gruppendenken in kleingeistigen Zirkeln praktizieren. Es ist möglich, andere nachgerade abzusprengen, wenn man einfach nicht aufpasst und den absoluten Kardinalfehler begeht: Eigene Privilegien, die andere dringest begehren, verächtlich zu machen. Etwas besitzen und gar nicht zu wollen, was andere nicht haben und auch nicht haben werden. Ich bin bekanntlich einer von den Sozialsten der Sozialisten, die noch Cem Özdemir öffentlich diskriminieren, wenn er mit dem Pedelec zur Industrielobby fährt, während ich selbst alte Räder rette: Trotzdem bin ich – in meiner Rolle als Reflektiertester der Reflektierten – selbst nicht frei von solcher Schuld der Hybris.

Das, was bei anderen das alte Rad ist, das sie im Hof verrotten lassen, ist bei mir “der See”. Der Verlauf der Donau und der Abbau von Kies haben es so gewollt, dass es in bequemer Nähe auf der richtigen Seite der Donau nur einen einzigen grossen, vorzeigbaren See mit guter Infrastruktur gibt. Der See eben, der eine Kneipanlage, Kioske, Wasserwacht, Minigolf, Tennisplätze, ein Restaurant und viele knallgrüne Wiesen haben, die sich an die braunen Stämmen alter deutscher Sumpfeichen schmiegen. Es mag nicht der schönste See sein, und es fehlt ihm ein Bergpanorama und ein Bootsverleih und eine Jahrhunderte alte Geschichte des Reichtums. Kein Kaiser hat hier gekurt, keine Geschichte wurde geschrieben, nur nebenan, als der See noch ein Altarm des Flusses war, gab es im Schmalkaldischen Krieg einmal eine Kanonade. Es ist ein See bei einer kleinen, dummen und vergessenen Stadt mitten in Bayern, die durch ein paar Zufälle reich wurde und trotzdem in der Nähe der Stadt nur diesen einen See hat.

Deshalb fährt in den Ferien und an den Wochenenden gefühlt die ganze Stadt hierher, wie es deren Grosseltern schon taten, als hier noch Kies abgebaut wurde. Es ist die beste aller möglichen Welten für fast jeden, der die Stadt bewohnt. Man könnte auch Industrieanlagen anschauen, Einkaufszentren und ihre Parkplatzuntergeschosse, petrochemische Industrie und jene Neubaugebiete, in denen Menschen vor ihren ökologisch sinnvollen und brandtechnisch riskanten Isolierschaumstoffen Angst haben. Aber in aller Regel einigen sich die meisten doch darauf, dass sie, egal zu welcher Jahreszeit, den See besuchen. Auf die meisten macht der Anblick von Wasser irgendwie einen beruhigenden Eindruck, obwohl man darin ertrinken kann, weil der Mensch ein Landlebewesen ist. Es gibt allerdings auch Ausnahmen von der Regel der hierher Fahrenden: Jene, die nicht zum See fahren, weil sie nämlich dort wohnen. Und dort, wo sie wiederum wohnen, werden Kinder wie ich aufgezogen, die den See mit Apathie und Desinteresse sehen.

Die Stadt ist noch nicht lange reich und die Reichen wohnen noch nicht lange beim See: Wir sind die erste Kindergeneration vom See. Wir waren da früher schon mal vor der Schule schwimmen, während andere in Bussen über die Dörfer herangekarrt wurden. Wir kannten die besten Plätze, wir waren als erste da und wir hatten die grössten Handtücher, Surfbretter und Taucherflossen, um die Claims möglichst umfassend zu gestalten. Es war uns durchaus bewusst, dass es mehr Prestige bedeutet, hierher laufen und die besten Plätze besetzen zu können, als einen weissen Porsche 924 zu benutzen und zu spät zu kommen. Aber an all das gewöhnt man sich schnell, man kennt irgendwann alle Bahnen der Minigolfanlage, man wird älter und ist dann doch ganz froh, wenn man zum Studieren nach München gehen kann.

Für die Eltern, die bewusst hierher gezogen sind, die hier Grundstücke bekamen und ihr Selbstverständnis in Villen und Gärten ausdrückten, in Bungalows, Doppelgaragen und Wohnflächen jenseits von 200m², mit Klavierzimmern und Tischtenniskellern und eigenen Bädern für die Kinder, war der See das Ziel. Es muss auch heute noch so sein, denn die Grundstückspreise sind hier enorm hoch, wenn einmal ein Platz frei wird. Aber die erste Generation, die hier geboren oder aufgewachsen ist – sie nimmt den See, wenn überhaupt, als Wasserfläche im Wald hinter den Häusern zur Kenntnis. Der See ist für mich etwas Abwechslung, wenn ich mit dem Geländerad durch die Auwälder fahre. Im Winter will ich keinen Platten weit draußen vor der Stadt riskieren. Dann fahre ich die Wege um den See ab. Ich treffe dort nie Freunde aus meiner Jugend. Viele sind weg. Und wer noch da ist, geht trotzdem nicht an den See. Wir treffen uns auf dem Wochenmarkt und im Konzertverein, aber nicht am See. Und ich schaffe es selbst nicht zu verstehen, wieso man diesen See und unsere alte Wiese so romantisch findet, dass man dort Zelte aufbauen und Hochzeit feiern muss.

An dieser Stelle hat die K. ganz unromantisch an der Zigarette gezogen und dann hinterhältig dem nicht rauchenden J. einen ausatmenden Zungenkuss gegeben, an dem er fast erstickt wäre. Wir haben hier mitleidlos hässliche Bremsen erschlagen. Heute muss ich dauernd aufpassen, keine Hochzeitsphotographen. Brautpaare, Kinderwagengeschwader und Joggergruppen umzunieten. Es ist viel los am See. Jeder will hier sein und auf einem Steg in den Sonnenuntergang schauen, der sich im Wasser spiegelt. An den Grillstellen bereiten sich muslimisch Familien auf das Fastenbrechen vor, indem sie drei Stunden vor Sonnenuntergang schon das Essen und Trinken üben. Studentinnen werfen sich Bälle beim Beach Volleyball zu und radeln dann in die engen, stickigen Wohnheime, und wünschen sich vielleicht, auch einmal so eine Villa beim See zu haben, wie jene, die ihren Weg säumen. Für mich ist es der See. Er ist halt da.

Ich bin nicht gefühlskalt. Ich verehre den Umstand, dass es fliessendes Wasser gibt, und eine Polizei, die bei uns nach einer Minute da ist. Es gibt viele Privilegien, die ich als essentiell für mein privates Wohlbefinden erachte, und die mich fraglos geformt haben. Aber in der Frage, die hier über Prestige und sozialen Status entscheidet, bin ich seltsam apathisch. Die K. war eine schöne Frau, aber der See war ohne sie eher langweilig. Wenn man mich nun fragt, warum ich im alten Haus in der Stadt wohne, und nicht draußen am See, wo es genug Platz gäbe, schütze ich, schlau durch Schaden, den Heuschnupfen vor, und tatsächlich sind all die Gärten für mich eine Qual. Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich mich einfach nicht dazu durchringen, das Besondere, das Privileg zu sehen, und darin mehr als das Gewässer im Wald hinter den Häusern zu erkennen. Das macht angesichts der auseinander brechenden Gesellschaft der Stadt, die auch gut verdienende Manager in kleine Hütten in den Dörfern zwingt und manche sogar über der Donau wohnen müssen, also auf der Seite, wo man nicht wohnt, keinen guten Eindruck. Das wirkt angesichts der Gegebenheiten arrogant und abgehoben, selbst wenn die K., der J., der O. und die S. es auch nicht anders halten. Und vielleicht ihre Eltern besuchen. Aber nicht den See.

Man sollte das nicht tun. Man sollte auch nicht die Augen verdrehen und “ausgeben” sagen, wenn man gefragt wird, wie man die ersparten 20.000 Euro anlegen soll. Man sollte nicht das Silberbesteck von Tante Gerti am Montag auflegen und sagen, das bessere Silber käme erst Dienstag. Man sollte die Namen der Rosen kennen, die im Garten stehen, und nicht sagen, das sei irgendso eine Rose, die hier halt steht. Man sollte über Privilegien nur reden, wenn man angesprochen wird, und dann mit Bewusstsein und Hochachtung. Man sollte nie noch mehr fordern, wenn man oben ist, egal wie viel jene fordern, die weiter unten sind, und sich hier über fehlende Gendersternchen aufregen, während Islamisten auf den Philippinen Frauen massakrieren. Es gibt einen schmalen Grat zwischen Privilegierung und dem richtigen Umgang mit Privilegien, mit viel Decorum und einer gewissen Einsicht in die prinzipielle Ungerechtigkeit des Daseins, der es erlaubt, darauf mit anderen eine gewisse Strecke des Weges zu wandeln. Allerdings hilft oft auch grösstes Decorum nichts, und dann geht es gründlich schief, und man fragt sich, warum man so dumm war, sich für a soichane Hodalumpn zum Polante z’mocha solche Leute auch noch zu bemühen.

Trotzdem klatsche ich jedes Mal frenetisch mit, wenn am See ein Brautpaar gefeiert wird, und lasse die türkischen Kinder mitkommen, wenn sie unbedingt mit mir Rennen fahren wollen. Der See gehört allen, und es ist schön, wenn sie damit mehr verbinden, als ich es je tun könnte. Mein Desinteresse hebe ich mir meistens für die Gelegenheiten auf, zu denen man dergleichen zum Signalisieren der richtigen Standesdünkel und zum Erwählen der für alle Stürme des Lebens angemessen indolenten Partnerin benötigt. Ansonsten meine ich es nicht so, auch wenn es mir immer wieder passiert. Es rutscht mir halt manchmal so raus.