Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Lebende Männer und das Ende der lustigen Witwen

Ich bin eine anständige Frau und nehm’s mit der Ehe genau.
Valencienne in Lehars “Lustige Witwe”

Also wissen Sie, es ist ist doch so: Natürlich gibt es heute Wissenschaft und Untersuchungen und Balkendiagramme, es gibt Modelle und Algorithmen. Das alles hat den enormen Nachteil, dass man sich dafür mit Mathematik auseinander setzen muss, und kein Mensch von Geist und Anstand hat es mit diesem Fach leicht. Ich selbst, wenn ich das anekdotisch evident berichten kann, war darin ein ausgesprochener Versager sowohl im Begreifen als auch in der grundsätzlichen Bereitschaft, mehr als zwei der vier Grundrechenarten zu beherrschen, denn mehr braucht man nicht, wenn die Karriere letzthin im Erhalt des Familienvermögens besteht. Ich stehe Forschung eher ablehnend gegenüber, und auf dem Standpunkt, dass Macchiavelli sein berühmtes Buch vom Fürsten ebenfalls nicht auf Basis von – damals gar nicht möglichen – Untersuchungen der Politologen mit Umfragen und Gesellschaftsanalysen gestaltete, sondern auf Basis sorgfältig ausgesuchter Anekdoten berühmter Menschen. Für das Buch vom Plebs braucht man Forschung und Soziologen, aber ich bitte Sie, doch nicht für Leute von Stand wie Sie und mich.

Das Buch vom Fürsten ist heute noch so populär, weil die anekdotische Evidenz einfach glaubwürdiger als alles andere erscheint: Einen Balken kann man problemlos wie die Süddeutsche Zeitung verlängern und verdicken, und Zahlen durch Auslassungen wie die Zeit fälschen, aber eine wirklich gute, glaubwürdige Anekdote erfinden: Dazu muss man schon mehr als Tabellenkalkulation und Photoshop beherrschen. Mit der anekdotischen Evidenz arbeiteten die Propheten der Bibel und Pornographen der Aufklärung, und deshalb ist für mich die neueste Untersuchung zum Scheidungsverhalten der Deutschen nicht mehr als eine statistische Unterfütterung meiner anekdotischen Beweisführung, die ich dem verdanke, was Politologen als Feldforschung bei der verheirateten Männlichkeit und der Einwirkung ihrer Frauen auf die Lebensverlängerung bezeichnen würden.

Denn als überzeugter Single mit wenig Arbeit und viel Freizeit ist es immer wieder ganz nett, ein altes Rad zu kaufen und es fachgerecht wieder auf die Strasse zu bringen. Gerne kaufe ich Räder in der Nähe und gern hole ich sie persönlich ab, und ich behaupte, schon anhand der Anzeigen Rückschlüsse auf die Besitzer machen zu können. Sehr oft sage ich: Der Verkäufer ist ein Mann, lebt in den angesagten Vierteln des Grossraums München, wo Vollbeschäftigung herrscht, hat vor ein paar Jahren geheiratet und mindestens ein, vermutlich aber eher zwei Kinder, die langsam alt genug sind, um in die Schule zu gehen. Das Rad hat er entweder zu seiner Junggesellenzeit bekommen, oder rund um seine Hochzeit gekauft, um fit zu bleiben. Es ist sicher mehr als ein Zufall, dass meine beiden neuen Räder von Eddy Merckx aus der ersten Kategorie stammen, und die beiden Specialized Roubaix vom zweiten Typus gekauft und praktisch nie gefahren wurden.

Sondern eben anekdotisch evident. Das war früher, als Scheidungen zur Regel werden drohten – und die Mehrheit meiner Altersgenossinnen ist tatsächlich geschieden, ich komme aus der Generation der Scheidungsfreudigen – noch ganz anders. Meine Generation war eine des grossen “Wenn Du meinst, dann mach es”. Es war die Generation der offenen Beziehungen, die das gschlamperte Verhältnis zur notwendigen Erfahrung eines erfüllten Lebens hochkultivierte. Es war die Generation der Doppelcabrioeigentümer, denen zwei Sitze in allen Lebenslagen reichten. Die Benutzung allerlei wenig sicherer Fortbewegungsmittel wie Paraglidingschirme und Motorräder galt als Zeichen der notwendigen Unvernunft in einem ansonsten allzu geregelten Leben. Eventuelle Kritik bügelte man nieder, indem man erzählte, wie man damals am Gardesee fast ertrunken wäre, oder am Monte Baldo, damals noch ohne Helm, mit fast 100 Sachen – ein Guter hält es eben aus und um einen Schlechten ist es nicht schade. Die 80er Jahre waren eben noch eine Zeit, in der das Leben nicht ohne Risiken und der Schulsport nicht ohne Schlägerei war, und die Jugend von Böhmfeld versammelte sich am Sonntag bei der Kirche, um durchfahrende Radler mit Steinen zu bewerfen und mit Mofas zu jagen. So war das damals! Anekdotisch evident und gefährlich.

Das ist nicht ohne Einfluss auf das Lebensalter, und der frühere Tod der Singles, den jede Untersuchung ausweist, ist die direkte Folge: Die einen leben in kürzerer Zeit viel mehr als die anderen in ihrem längeren Leben, das jenseits der 90 ohnehin nicht mehr so schön ist. Davor regierte eine gewisse Wahllosigkeit bei den Vergnügungen, und war der eine spannende Sexualpartner weg, war der andere vielleicht dafür bald wieder geschieden und frei auf dem Markt verfügbar. Wer heiratet und das nicht gerade ernst nimmt, hat auch kein besonderes Interesse an der langfristigen Erhaltung des Partners: So erkläre ich mir, dass sich früher zwar der Beziehungsstatus, aber nicht die Neigung zum riskanten Leben änderte. Damals wäre der Mann im Porsche wild hupend auf die Frau im BMW-Cabrio losgefahren, wo heute der junge Manager im stadtökologisch günstigen Drivenow-Carsharingauto brav darauf wartet, dass eine Mutter mit SUV ihren Anhänger mit Pferd von der Leopoldstrasse entfernt.

Heute ist es nicht mehr so, dass Frauen es befürworten, wenn Männer mit ihren Freunden auf schnellen Rennrädern in Richtung Alpen aufbrechen, um Bräune zu suchen und Schürfwunden zu finden. Im Zeitalter der Trennung war das noch egal, aber in der Epoche der neuen Dauerhaftigkeit ist jede Verletzung, jeder Unfall, jeder blaue Fleck ein Memento Mori. Auch sind Kinderräder heute keine billigen BMX-Schleudern mehr, mit denen der Stahl der Jugend gehärtet wird. Sie sind teuer, sie haben eine komplette Sicherheitsausrüstung, sie haben funktionierende Bremsen, und kein Kind weiss, dass man ohne Helm fahren kann. Und so kommt es eben, dass aus mehr oder weniger grauer Vorzeit in den Kellern des schönen, früher wilden Münchens, nur wenige Kilometer vom Parkcafe entfernt, die Merckxe, Pinarellos und Chesinis in Kellern schlafen, bis die Frau das ideale, perfekte und 700€ teure Kinderrad findet, und außerdem da unten mehr Platz braucht, und auf dem Rad fährt der Mann doch ohnehin nicht mehr: Mit einer Mischung aus Fürsorge für die Kinder und Sicherheitsempfinden für den Partner werden die alten Maschinen abgestoßen, wie man nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die Spitfires, Helldivers und Corsairs über Bord der Flugzeugträger warf.

Und alle sind froh und kaufen sich Urban Bikes im Retro-Stil und leben ein ganz neues, ökologisches, nachhaltiges Ideal zwischen den veganen Köstlichkeiten vom Viktualienmarkt und dem, was die Gentrifizierung vom Viertel der kleinen Leute am Schlachthof übrig gelassen hat. Auf der einen Seite gefährdet das für unsereins den Nachschub an passablen Geschiedenen, an den wir uns gewöhnten. Auf der anderen Seite verhindert es die Entstehung neuer lustiger Witwen, mit denen sich unsere Urgrossväter erfreuen konnten, weil damals die Medizin noch nicht so weit war, und eine junge Frau das schnelle Ableben eines alten Mannes noch fördern konnte. Das sind Nebenwirkungen der neuen Häuslichkeit und Dauerhaftigkeit, an die niemand denkt. Aber man muss sich damit abfinden, dass die Nachhaltigkeit, von der alle so viel reden, auch in den Beziehungen umfassend gelebt wird. Früher mietete man für die Hochzeit eine Stretch Limousine oder einen Ferrari. Heute nimmt man mit dem Käfer Cabrio der Grosseltern vorlieb.

Frauen, die ihren Männern das kleine Alltagsglück des schnellen Rades madig machen, denken selbst bei begrenzten Gefahren strategisch mit grosser Risikoaversion. Es ist nur logisch und nachvollziehbar, dass sie in den grossen Dingen des Lebens dann nicht sorglos und frei von Berechnung sind: Wer den Rippenbruch nicht mag, wird den Ehebruch erst recht nicht lieben. Die fürsorgliche Hand, die den gebogenen Rennlenker nicht mag, schätzt auch keine krummen Lebenswege, und plant, was zu planen ist. Es gibt Ziele, und was im Wege steht, muss weichen. Die Durchsetzungsfreude, mit der sich Mini und Fiat 500 durch den Stadtverkehr wühlen, wird nicht geringer, wenn sie mit einem SUV auf die Menschheit und den Partner losgelassen wird. Sie meint es nur gut. Sie denkt langfristig an seine Gesundheit. Sie macht es aus Liebe und Zuneigung in Erwartung eines langen, gemeinschaftlichen Lebens. Und lässt sich, weil alles schon vorher durchdacht wurde, seltener scheiden, und bekommt mehr Kinder, weshalb diverse Gruppen gerade überlegen, wie an älteren Menschen mit zu viel Wohnraum die Deportati den Auszug erleichtert. Alt werden soll nur der eigene Mann – wer im Weg steht, darf sich gern auf der unbekannten Kellertreppe im Altenasyl das Genick brechen.

Noch freue ich mich, wenn ich ein neues Restaurierungsprojekt habe, aber langfristig, steht zu befürchten, werde ich vom Sorgenabnehmer auch zum asozialen Besitzer degradiert, der allein genug Platz hat, um zwei Münchner Mittelschichtsfamilien die Aufzucht ihrer Kinder zu erlauben. Man wird mich nicht mehr fragen, ob ich nicht vielleicht diese und jene Geschiedene attraktiv finde, sondern erwähnen, dass diese und jene Jungfamilie unbedingt dort leben möchte, wo meine Räder stehen. Für den Single, so zeigt ein Beispiel bei Ikea, reicht auch eine Businesswohnung mit 25m² als einziger Wohnsitz. Heute entsorgt unsereins die alten Träume vom Dahingleiten in Richtung der Berge, morgen sind wir selbst das Problem und das Hemmnis für mehr Platz für die neue Generation. Stürbe Deutschland wirklich als Singlegesellschaft aus, wäre man froh um uns, die wir den Wohnraum füllen.

Aber das ändert sich gerade. Und ich fürchte, bei den Genderistinnen, die ideologisch siegen und anekdotisch evident dennoch finanziell auf niedrigstem Niveau leben, wird später einmal nichts außer Mahnungen wegen der Nebenkostenabrechnung zu holen sein. Heute noch schnallen wir das Merckx auf den Gepäckträger und schieben die Minis und 500er von unserer dritten Spur, wo sie nichts verloren haben. Aber es sind viele. Und mir scheint es anekdotisch evident, dass das veränderte Heirats- und Vermehrungsverhalten der Deutschen uns in Zukunft den Raum nimmt, den wir dereinst den Familien genommen haben. Auf natürliche Lösungen wie riskantes Leben oder schnelle Scheidungen kann sich die Singleelite jedenfalls nicht mehr verlassen. Und das gute, alte Argument, dass man eine Familie in weniger als, sagen wir mal, 200m² gar nicht gründen kann, hilft wenig bei denen Entwöhnten, die nicht einmal mehr den Platz haben, um die Träume der Jugend vor dem Zugriff der Ehefrauen zu schützen.