Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Wie machen Sie das denn? Vom WG-Leben im Alter.

Vorbemerkung: Ich werde oft gefragt, wie man in die FAZ kommt, und die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Man wird gefragt und sagt Ja. So war es zumindest bei mir, meiner Kunstfigur Don Alphonso und meinen Blogs, und so geht das eben immer weiter. Ich lese viel, denke mir: Die könnte etwas taugen! – frage an, mansplaine und hole mir dann manchmal einen Korb. Diesmal ist es zum Glück anders, denn die Gastautorin, die ich hier einleten darf, kann etwas ganz Unerhörtes berichten: Dass man nämlich gar keinen barocken Stadtpalast für ein standesgemässes Dasein braucht, und auch in einer WG glücklich und zufrieden sein kann. Die Bilder sind natürlich trotzdem von Stadtpalästen, chacun a son gout, ausserdem ist es wie mit dem Tafelsilber, ich muss es nehmen, ich habe nichts anderes. Don Alphonso.

Das Huhn, das Huhn ist schuld daran, dass Sie ausgerechnet von mir etwas auf diesem Blog lesen. Man muss dazu wissen, dass Don Alphonso und ich eine Lebensgeschichte haben, ein Leben führen, das konträrer nicht sein könnte. Er, der Aufsteigerkinder wie mich aus kleineren Verhältnissen nicht immer schätzt. Und ich, die ich häufiger etwas irritiert darüber bin, wie man aus gesegneten Herkunftsverhältnissen heraus so manches Mal über andere so hart urteilen kann.

Das Huhn also.

Ich hatte eigentlich nur einen kleinen Tweet abgesetzt aus meinem kleinen, aber feinen WG-Leben.

Der Mitbewohner zerhackt gerade sein Huhn auf dem Holzschneidebrett der sonst wirklich toleranten Veganer-Mitbewohnerin.

*Holt Popcorn*

Und dann kam eine sehr nette Privatnachricht, warum ich eben über dieses WG-Leben nicht einmal was schreiben wolle. Hmmm, dachte ich, was soll man bloß darüber schreiben? Wir leben hier fröhlich zusammen, ab und zu gibt es mal eine kleine Auseinandersetzung, kurz darauf haben wir uns wieder lieb.

Für mich alles ganz normal, ich habe fast immer mit Menschen zusammengelebt, als Kind in der Großfamilie, später in langjähriger Partnerschaft und nach der Trennung eben in Wohngemeinschaften. Was soll daran besonders sein? Darüber dachte ich ein bisschen nach und stellte fest: Doch, es gibt da etwas Besonderes.

Ich gehe nämlich auf die 60 zu. Ich wohne derzeit mit einer Mitdreißigerin und einem Mitvierziger zusammen. Für Berliner Verhältnisse zum Beispiel mag das normal sein, dass auch Ältere in einer Wohngemeinschaft leben, in Bayern ist das nicht die Regel, wenn ich mir die Reaktionen so anhöre.

Neulich zum Beispiel im Biergarten. Ich sitze an einem heißen Sommermittag so da, vor mir eine Apfelschorle und eine Zeitung. Ein Mann mit Weißbier und Wurstsalat setzt sich an meinen Tisch, Alter zwischen Mitte 50 und Mitte 60, so ganz genau kann ich das nicht abschätzen.

„Sie müssen auch was essen, junge Frau.“
„Danke, wir essen später gemeinsam zuhause.“
Der Mann kratzt sich kurz am Kopf und fragt charmant: „Wer ist wir? Sie sind doch nicht etwa vergeben?“
Der Versuch einer Annäherung, das ist in München so, wenn man im Biergarten sitzt.
Kurzes Überlegen. Lügen mag ich auch nicht.
„Nein, ich lebe in einer Wohngemeinschaft.“
„In Ihrem Alter?“
„Ja, warum nicht?“
„Eine Weiber-WG also.“
„Nein, zwei Frauen, ein Mann.“
Der Mann kratzt sich wieder am Kopf.
„Ja streitet man sich da nicht dauernd um den Mann?“
„Nein, wieso? Und wie leben Sie so?“

Und dann erzählt der Mann seine traurige Geschichte. Seit 19 Jahren verheiratet, die Frau arbeitet noch. Wenn er, Frührentner, aufsteht, ist sie schon weg und wenn er nach seinen fünf, sechs Weißbieren, die er tagsüber trinkt, um 20 Uhr schon schläft, kommt sie nachhause. „Wir sehen uns fast nie.“

Und schließlich will er es noch einmal wissen.
„Und was ist, wenn Sie alle auf einmal auf die Toilette müssen?“
„Wir haben eine Gästetoilette und ein großes Bad mit Toilette.“
„Aber man muss sich ja auch sonst mal aus dem Weg gehen können.“
„Wir haben eigene große Zimmer und zwei große Balkone. Und wie ist das bei Ihnen so?“
„Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche, kleines Bad. Eng, aber wir sehen uns ja eh nie.“

Das Huhn, das Huhn, das lässt noch andere Erinnerungen in mir wach werden.

Die von der Kollegin, die in einem riesigen Haus wohnt und das gar nicht verstanden hat, dass ich in einer WG lebe. „Wir hätten da ja genug Platz. Mein Mann und ich leben so nebeneinander her, aber wildfremde Leute bei uns einziehen lassen? Da gibt es doch nur Probleme mit der Putzerei. Aber schön wäre das schon, so eine Mini-WG. Wir hätten endlich wieder jemanden, mit dem wir reden können.“ Und sie fügt hinzu: „Wie machen Sie das denn? Das ist doch bestimmt nicht unkompliziert, so ein Zusammenleben mit Nichtverwandten.“

Ja, wie ich das mache, weiß ich manchmal auch nicht. Ich weiß nur, dass mir das Leben in einem einsamen kleinen Appartement nicht liegt. Ich habe lange alleine gewohnt, sogar Jahre auf dem Land in einem schicken kleinen Häuschen. Wobei alleine so nicht ganz stimmt. Die Katze und ich lebten zusammen. Und ich bin da einfach nur untergegangen.

Ich könnte Ihnen noch viele Geschichten erzählen von „wie machen Sie das denn?“, von Bewunderung, von Abneigung, von Neid und doch denke ich gerade beim Schreiben so: Das Huhn, das Huhn …

Vielleicht will mich dieses Huhn ja einfach nur an meine eigenen Erfahrungen und an die Einsamkeit so vieler Menschen erinnern, von denen und über die ich zum Beispiel auf Twitter lese. Das macht mich manchmal ganz einfach nur traurig. Zwei meiner Follower haben sich umgebracht aus eben ihrer Einsamkeit heraus. Dazu die zahlreichen Tweets, die ich tagsüber, selten auch in der Nacht lese über Trennungen, über die Sehnsucht nach einem Partner, einer Partnerin, über das einsame Altern. Gerade letzteres beschäftigt mich sehr. Da leben die einen in viel zu großen Wohnungen und schwelgen alleine in Erinnerungen, während die anderen in ihrem kleinen Appartement sitzen, genauso einsam.

Und eine Zigarettenlänge später fällt mir die zentrale Botschaft ein: Bevor Sie so ganz alleine untergehen, ziehen Sie in eine WG oder gründen Sie eine, egal, wie alt Sie sind. Sie können nur gewinnen, nicht verlieren. In Ihr kleines Domizil mit Fernseher, Notebook, Pizzalieferservice, Katze und sich selbst können Sie immer noch zurückkehren. Oder Sie könnten, wenn Sie in einer zu großen Wohnung leben, erst einmal für kürzere Zeit untervermieten. Zusammenleben auf Probe sozusagen. Sie müssen ja nicht ganz so mutig sein wie ich, als ich damals nach der Trennung in einer viel zu großen Wohnung saß und die unterschiedlichsten Menschen einziehen ließ.

Das Huhn, es erinnert mich nämlich zum Beispiel an Herr S., den ich in den Anfangszeiten von BISS in deren Schreibwerkstatt kennenlernte. Herr S., ein ziemlich verrückter bayerischer Kerl um die 50, lebte damals auf der Straße und versuchte mit Hilfe der Gründer der Münchner Obdachlosenzeitung wieder Fuß zu fassen. Durch den Verkauf des BISS, aber auch durch das Schreiben. Das für ihn Unbegreifliche und damit sein Schicksal in Worte zu fassen, das war sein Ziel. Jahrelang war er auf Märkten unterwegs gewesen, hatte allerlei Sinniges und Unsinniges verkauft, gut verdient, aber leider vor lauter Arbeit den Überblick über seine Finanzen verloren. Zehntausende Mark an Steuerschulden, unfähig, das zu regeln, Scheidung von seiner langjährigen Partnerin, Kündigung der Wohnung.

In meiner WG war damals gerade kein Zimmer frei, aber hey, Platz ist in der kleinsten Hütte. Herr S. verkaufte also tagsüber den BISS und für die Nacht haben wir ihm eine Matratze in die große Wohnküche gelegt, bis er eine eigene Wohnung fand. Wir haben gemeinsam gekocht, gelacht, waren traurig. Und ich habe so viel begriffen, vor allem, wie schnell das Scheitern gehen kann.

Profitiert habe ich immer von den Menschen, die einzogen und mehr oder weniger lange blieben. Von B., die Theaterwissenschaften studierte und die mich für die Welt der großen Bühnenstücke und die des kleinen Experimentiertheaters begeisterte. Vom Mailänder Model M., der damals viel in München für große Modezeitschriften arbeitete und der das harte Geschäft erst richtig verstehbar machte. Oder von S., der für ein Gastsemester Philosophie in München war. Die Gespräche mit ihm über Gott und die Welt möchte ich nicht missen und auch nicht seine skurrile Sloterdijk-Hörigkeit. Wie oft saß er in der Küche mit Kopfhörern und Kassettenrekorder, hörte die Vorlesungen seines großen Vorbildes und murmelte ständig „was will er damit nur sagen?“ Wir anderen und auch er hatten dabei viel Spaß und Spaß gab es ohnehin immer viel.

Was ein Huhn so alles in einem an Erinnerungen wecken kann. Die meisten davon sind einfach nur schön und berührend.