Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Soziale Stille für Poschardt, Katalanen und menschliche Obergrenzen

Possunt quia posse videntur!
Vergil

Sehen Sie, es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt, die einen wohnen am Tegernsee und die anderen können zwar hierher fahren, aber wenn es Winter ist, und wenn es Nacht wird, und sich so gegen halb fünf die Sonne vom makellos blauen Himmel zurückzieht und die sternenklare Finsternis aufsteigt – dann wird es kalt. Und dann können die anderen entweder nach Hause fahren oder noch 2, 3 Stunden in Gaststätten herausschinden. Ein paar verlorene Seelen treiben sich noch mehrere Stunden am anderen Ufer im Casino herum und verschwenden das Geld. Aber so gegen 5 ist es am See doch recht ruhig.

Ich wohne dort am Ende der Zivilisation. Im Westen ist der Friedhof, im Norden liegen eine Alm und das tief eingeschnittene Tal der Mangfall, und gegenüber ist nur noch ein einziger Bauernhof. Dann kommt schon der erste Berg, und bis zum Inntal in gut 40 Kilometer Entfernung nur noch ein paar Almhütten, Kuhställe und einen kleineren Ort. Wer in der Region verloren geht, dessen Überreste finden sie manchmal nach 40 Jahren wieder, wie am Riederstein, und manchmal auch gar nicht. Die Berge steigen hier schnell empor, sie wurden manchem Piloten im 2. Weltkrieg zum Verhängnis, und einige sollen noch irgendwo in dieser ziemlich verlassenen Gegend liegen. Im Grenzbereich zwischen Deutschland und Österreich haben sich nicht umsonst einige Nazis recht lang verstecken können. Da ist einfach nichts. Vor allem ist da nichts, was Lärm machen könnte.

Tagsüber ist es anders, im Sommer sind hier Kühe mit ihren Glocken und im Winter jauchzen Kinder beim Rodeln, aber so gegen 10 sind auch die letzten Menschen im Winter in ihren Häusern, und dann wird es bis zum frühen Morgen still. So still, dass ich ab und zu beim Lesen aufschrecke, weil ich denke, ich müsste doch etwas gehört haben – bis ich bemerke, dass es die Abwesenheit jedes Geräuschs ist, die mich die ersten zwei, drei Nächte so irritiert. Geräusch ist etwas, das ich hier selbst machen muss, mit meinen umgeblätterten Seiten, mit dem Tee, der aus der Kanne in die Tasse gelangt, mit den Tonmöbeln und CDs, und da merke ich schnell, dass ich hier überhaupt nicht laut aufdrehen muss: Ich höre auch die feinen Details, weil es einfach dieses Grundrauschen nicht gibt.

Als ich in München gelebt und daheim Radiosendungen produziert habe, war da um die Nulllinie bei der graphischen Aufnahmedarstellung herum dieser breite Streifen: Die Hintergrundgeräusche der Stadt. Man kann das künstlich mit einem Gate wegfiltern, Mikrophone haben oft auch einen Schalter, der unter 50Hz die Lautstärke stark reduziert. Eigentlich ist es nicht schlimm, man hört es nach einer Weile nicht, weil das Gehirn des Menschen in der Lage ist, dieses Grundrauschen zu ignorieren: Wir hören es, aber wir nehmen es nicht wahr. Aber es ist in den Aufnahmen zu sehen, und da draußen gibt es genug Lebewesen, die sich unsere Ignoranz nicht leisten könnten.

Deshalb gibt es hier bei uns zwei Arten von jagdlich wirkender Bekleidung: Es gibt Trachtenjacken mit künstlich ausgestellten Stoffrollen an den Schultern und einen eingenähten Knopf oder gar Schulterklappen, damit das Gewehr dort hält und bei der Bewegung nicht abrutscht – wie schnell fällt so ein Drilling zu Boden und entlädt sein Schrot in den Allerwertesten des zu seinem Sitz aufsteigenden Jägers. Das ist aber nur Vortäuschung, so eine Art Relikt aus einer Zeit, als man wirklich noch Tiere erschießen musste, weil man sie essen wollte: Der Unterschied zwischen echter Jagdkleidung und dem, was ich Gewalt ablehnender Vegetarier trage, ist das Futter. Echte Jäger tragen nicht die bunte Kunstseide im Inneren der Jacken: Hier in den Bergen ist es so still, dass Rehe auch noch das Knistern der Seide des Futters erlauschen können. Ich nehme das noch nicht einmal wahr, wenn ich Jacke ausziehe.

Diese Möglichkeit, einen Ort aufzusuchen, an dem man sich nichts anzuhören hat – das ist eines dieser Privilegien, von denen manche denken, man müsste sich deshalb von ihnen anhören, dass man privilegiert wäre und sich dessen bewusst sein sollte. Also bewusst im Sinne von “Oh Gott, wie mag es erst den Armen in Afrika, in Kreuzberg und an der Elbekloake bei Hamburg gehen”. Mit Demut und einer gewissen Betroffenheit, und man sollte vielleicht sein Privileg nutzen, um politisch richtige Botschaften zu verbreiten. Das wird von Menschen in meinem Beruf oft verlangt. Aber der Punkt ist, wenn ich das hier in die Nacht hinein tun würde, verschreckte ich nur die im Winter besonders gefährdeten Rehe, die Nachbarn denken sonst was von mir und passen auf, dass ihre Katzen nicht mehr bei dem Irren, der in die Nacht brüllt, auf dem Sofa liegen. Es ist still hier. Es erwartet niemand, dass ich die Stille unterbreche. Es ist in Ordnung, wenn es hier ruhig ist. Noch nicht mal schamerfüllt leise wimmern muss ich hier. Ich kann so sein, wie ich will, solange es nicht lauter als das Geräusch der Kuchengabel auf dem Porzellan wird.

Ich bekomme schon mit, dass draußen, im Norden, in den grossen Städten, die Rotationsmaschinen rattern und die Server brummen, weil es die Zeit ist, in der man soziale Ungleichheit beklagt: Immobilien werden teurer und für meine Kollegen weniger erschwinglich. Jeff Bezos wird reicher, weil meine Kollegen bei Amazon bestellen und nicht beim Buchhandel kaufen. Ulf Poschardt muss vorgeführt werden, weil er die wohlfeile Moral der mit der Migrationskrise reich gewordenen, staatsnahen Religionspfründeinhaber mit ihren Zwangsabgaben, Konkordaten. Milliardenvermögen und teuer verkaufter Macht der Sessel in den Medienaufsichtsbehörden ein wenig billig findet. Vom Norden, wo die Lichtverschmutzung am Horizont eine ewige Dämmerung erzeugt, kommen die Störgeräusche mit dem Internet, aber es ist wirklich die letzte Quelle des Lärms, und man kann sie hier ganz einfach abschalten. Einer wie ich hat in der Welt der anderen eigentlich keine Existenzberechtigung, warum sollte ich ihnen bei mir eine Lärmberechtigung geben?

Ich lächle lieber, weil mein Buch nicht aus dem Spanischen, sondern aus dem Katalanischen übersetzt ist, in der Sprache der Spalter und Aufrührer, die sich nicht mit einem scheinsolidarischen Schicksal mit Spanien abfinden wollen. Viele werden das nicht gerne hören, aber ausnahmsweise sage ich es in die Nacht hinein: Die Solidarität, die so viele so hoch leben lassen, muss immer aufs Neue bewiesen werden, sie steht nie für sich, sie ist ein unabsehbar teures Versprechen auf Ewigkeit, dessen Bruch einem auch ewig angekreidet wird. Denn, wie manche so moralisch schön sagen, es gibt bei ihnen keine Obergrenze für Menschlichkeit. Meines Erachtens ist es ein wenig anders, Menschlichkeit bedeutet nun mal, dass sie menschlich ist, und alles Menschliche hat seine Grenzen: Wenn mir dieses begrenzt Menschliche ohnehin angekreidet wird, weil ich irgendwann nicht mehr kann und mir ein Video mit einer zusammengeschlagenen Rentnerin, die auch meine Verwandte sein könnte, zu nahe geht, wenn ich nicht finde, dass ich mir zu Weihnachten etwas von einem Pfarrer oder einem Erziehungsjournalisten anzuhören habe: Dann fahre ich vermutlich besser, wenn ich von Anfang an betone, dass meine menschlichen Privilegien zuerst einmal keine Obergrenze haben sollten. Mit der Kuchengabel aus Silber fängt es an, mit der Meinungsfreiheit, oder hier eben, Schweigefreiheit und Anhörfreiheit, hört es auf.

Denn wir leben nun mal in einer multioptionalen Gesellschaft, in der es immer zwei Arten von Menschen gibt, die einen tun es und die anderen nicht: Die einen wollen Abtreibungsrechte und die anderen Kinder, die einen wollen Homo-Ehen und die anderen ihre klassische Familie, die einen wollen bezahlbare Mieten bezahlen und die anderen gern im Eigentum wohnen. Multioptional bedeutet, dass es nebeneinander existieren kann, im Gegensatz zu Gesellschaften der Uniformierung, die nur einen Propheten, Führer oder Stellvertreter Gottes auf Erden kennen. Wenn es so ist und sein soll, muss man auch damit leben, dass manche Option in den Augen der Mehrheit falsch und weniger wünschenswert ist. Ich kenne das von mir selbst, ich fand es früher falsch, dass andere am Tegernsee wohnen und ich nach Hause fahren muss – das tut die Mehrheit derer, die nach Hause fahren, vermutlich noch immer, aber ich wohne jetzt hier und bin damit zufrieden. Man muss mir diese Unzufriedenheit nicht dauernd mitteilen, es reicht, still Immobilienanzeigen zu lesen, und nicht denen zur moralischen Last zu fallen, die anders sind, und aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben werden. Ich stelle mich schließlich auch nicht – oder nur ganz selten – hin und sage, was in meinem Augen eine erhebliche Fehlentwicklung unter all den schönen und möglichen Optionen ist.

Ich bin ganz still und leise in einer geräuschlosen Nacht und dankbar, dass hier bis zum Auftauchen der Sternsinger keinerlei Last des sozialen Engagements auf mir liegt. Das war früher normal. Aber mit der JuSoziierung der Meinung bei gleichbleibender Gier und Abscheulichkeit unterschiedslos aller Beteiligten – oder ist jemand in Ihrer Bekanntschaft schon Franz von Assisi geworden? – entstand ein Klima der Empörung, dessen Abwesenheit eben auch ein Privileg ist. Sogar ein sehr grosses Privileg. Mag sein, dass es für manche soziale Kälte bedeutet, für mich ist es dagegen ein wenig soziale Stille. Zumindest für ein paar Tage.