Stützen der Gesellschaft

Stützen der Gesellschaft

Leben, Bildung, Torten und sozialunverträgliches Spätableben unter Stuck und Kronleuchtern.

Privilegienkritik als sozialer Fehltritt

Alles, was ist, wie groß und gut es sei, besteht seine Zeit, erfüllt seine Zwecke und geht vorüber.
Franz von Assisi

Dafür, dass wir alle in einer Klassengesellschaft leben, wird erstaunlich wenig über die Klassengrenzen gesprochen. Meines Erachtens liegt das daran, dass sich viele mit Klassen gut eingerichtet und keine Lust haben, an diesen Grenzen zu rütteln; es könnte ja sein, dass sie dann einstürzen und Leute darüber klettern, denen man so gar nicht vorgestellt werden möchte. Das Nachlassen der früher immens wichtigen Debatte – damals ging es mehr um das Erhöhen solcher Grenzen – mag auch mit dem Netz zu tun haben, in dem jeder problemlos jeden Anspruch und jede Forderung formulieren kann. Das ist ein Ventil vor dem Marsch auf die neuen Bastilles der Postmoderne, da findet man Gleichgesinnte, die genauso träge und unfähig sind, und ohne Hosen vor dem Rechner sitzen, dort hat man einen Lotusessertraum von einer besseren Welt, in der jeder findet, dass man auf der richtigen Seite ist und die richtigen Ansprüche vertritt. Kurz, es ist so wie bei einem Kaffeekränzchen in besserer Wohnlage auf den Tegernsee, nur schlechter angezogen und in chancenlos und gemieteten Wohnungen. Gestern etwa schwappte das hier an mir vorbei.

Die Frau, die das formuliert, ist Presse- und Öffentlichkeitsreferentin eines mir bis dato vollkommen unbekannten Vereins namens Damigra, der als Förderer vier Finanzierungstöpfe der Bundesregierung nennt: Die Ministerien für Inneres und Familie, das Projekt MUT der Integrationsbeauftragten sowie die Aktion “Demokratie leben”. Wenn das nicht privilegiert ist! Ich war zu faul nachzuschauen, wie viel Geld Damigra für die Vernetzung von Migrantinnenorganisationen und Pressearbeit bekommt, und es ist in diesem Kontext hier auch nicht wichtig. Es geht mir auch gar nicht darum, welche ablehnenden Sichtweisen gegen Männer und Heterosexualität heutzutage bequem verbreitet werden können, weil der Transfer von öffentlichen Geldern solchen Institutionen und ihren Mitarbeitern eine privilegierte Stellung schaffen – ich kenne nur ein paar heterosexuelle Männer am Band bei der Audi, die mit ihren Steuern solche Eskapaden finanzieren. Die hätten zwischen dem Anschweissen von Kotflügeln oder dem Einbau von Klimaanlagen sicher nicht die Zeit, bei Twitter gegenüber Frau Schick eine abweichende Sicht der Dinge zu formulieren, etwa, wie es ist, bei einer Sonntagsschicht Maschinen zu reinigen und aus der kalten, seifigen Kühlflüssigkeit stundenlang scharfkantige Fräsabfälle zu schöpfen.

Ich könnte auch mal meine weissen, heterosexuellen Bauarbeiter im Hinterhaus fragen, was denn ihre Privilegien so beim Verputzen meiner Wände sind, aber vermutlich denkt Frau Schick gar nicht so weit, und dafür bin ich ihr sogar dankbar. Weil, wissen Sie, wenn wir über Klassen reden, müssen wir natürlich nicht nur über Klassengrenzen reden, was heute gar nicht mehr so einfach ist: Der von mir verehrte Gustav Meyrink zum Beispiel sprach einmal bei Unterschichten vom “instinktiven Hass des krummbeinigen Dorfköters auf den hochgezogenen Rassehund”. Das war ziemlich böse treffend und man muss davon ausgehen, dass kein Lektor einem Autor so etwas heute noch durchgehen lassen würde, wollte er nicht die feuilletonistisches Verdammung des Hochverrats-Scherbengericht bei dessen Jahrestagung auf der Buchmesse Leipzig riskieren. Sie sehen ja, auch ich klaue dieses formidable Zitat nicht, ich setze es in Anführungszeichen, und Meyrink ist tot, den kann kein irdischer Tellkamp-Mo… wo war ich? Ach so, richtig, also die Klassengrenzen, ja, das ist ein unangenehmes Thema, und Frau Schick lenkt den Blick zum Glück und zutreffend auf den Aspekt des Klassenbewusstseins.

Denn als Aussenvorstehende, die ihre Reputation aus den Zuwendungen des Staates ableiten kann, erkennt sie natürlich, dass es drinnen ganz anders läuft. Das Ausfüllen von Förderungsanträgen ist Menschen von Stand ein Graus, nicht zu Unrecht geht man davon aus, dass der Staat schon selbst weiß, was seine verdammte Pflicht und Bringschuld ist. Die gleiche Regierung, die Frau Schick und darüber hinaus zum Glück auch unsere Opernhäuser fördert, hat schließlich in den letzten Jahren durchaus freundlich die Banken gestützt, die Wirtschaft entlastet und die HartzIV-Repression knallhart durchgezogen. Im Ergebnis sind die Aktiendepots und Geldanlagen der Reichen heute wieder werthaltig, kaum jemand spricht mehr über die Risiken des europäischen Peso, und die, die das Risiko genau kennen, investierten in der Folge in Immobilien, die dank einer wirkungslosen Mietpreisbremse auch langfristig gut zu refinanzieren sind. So von oben betrachtet kann man sich zwar durchaus über Stilfragen der staatlichen Leistungen und des Kabinetts beschweren. Aber Sie lesen es ja selbst immer wieder, die Schere zwischen Arm und Reich geht auf und meine Wohnung am Tegernsee, die vor zehn Jahren eine schwer verkäufliche Erbsache war, ist heute eine hochbegehrte Investition, obwohl es immer noch die gleiche Wohnung ist. Vermögensberater, die mir vor 10 Jahren abrieten, loben heute meine Weitsicht und locken mit günstigen Krediten. So ist das.

Ich fordere das nicht. Ich gehe nicht zur Bank und bitte darum. Das wird mir angetragen. Und es ist nun mal ein Kennzeichen der besseren Kreise, dass sich viele bemüßigt fühlen, einem etwas anzutragen. Die eine Klasse bekommt Prospekte von Aldi, wir am Tegernsee bekommen auf dickem Karton gedruckte Einladungen zu Lesungen, die von einem 5-Gänge-Menü begleitet werden, auf Wunsch auch vegan, und man würde sich sehr freuen, uns begrüssen zu dürfen – demnächst kommt Axel Hacke vorbei, naja. Ich habe das nicht erfunden, ich bräuchte es nicht, es ist einfach der Umgang, den man hier so pflegt, und wie es halt so ist mit Privilegien: Man gewöhnt sich daran. Vielleicht nimmt man sie nicht wahr, vielleicht geht man nicht hin, aber es ist ein nettes Gefühl, dass man diese Optionen hat und, so man darauf eingeht, auch entsprechend willkommen geheißen wird. Es ist nicht so, wie Frau Schick denkt, dass ich auf die Barrikaden ginge, wenn das Anspruchsdenken nicht bedient wird. Ich gehe dann eben woanders hin. Und zwar ohne jede offensichtliche Gemütsregung. Man bekommt das als Kind eingebläut, dieses Selbstverständnis, dass man schlechte Behandlung nicht praktizieren sollte – und es umgekehrt auch selbst nicht nötig habe, das zu erdulden.

Das ist übrigens mindestens geschlechtsunabhängig, wie jeder weiß, der einmal Geschäfte in der Maximiliansstrasse besucht oder das Wellnessprogramm gehobener Hotels erlebt hat. Ich sage das ganz ehrlich, mich kann man mit dem Getue scheuchen, ich brauche keinen Wassersommelier und keine original indischen Yogalehrer, und meine Fingernägel an den Pranken sind die eines Bergsteigers und Radmechanikers. Aber ich lebe stoisch damit, dass andere die Umsorgung wollen. Nicht nur, weil sie es können. Sondern auch, weil sie finden, es müsse so sein. Diese Haltung weit oben in einem der reichsten Länder der Erde während der reichsten Zeit der Weltgeschichte mag überheblich sein – das hört halt nur niemand besonders gerne. Intern verkneift man sich daran jede Kritik, die Armen sind schließlich auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ein neuer Franz von Assisi könnte wohl auch nicht mehr auf eine kirchlich verordnete Dankbarkeit verlassen, sondern nur auf einen Chor staatlich finanzierter Antidiskriminierungsbeauftragter, der findet, dass der Verzicht ja wohl das Mindeste ist und die Verantwortung für den Kolonialismus noch immer nicht erkannt wurde.

Es gibt da draußen so viele, die kein Verständnis für das Selbstbewusstsein haben, und weil dabei auch immer viele sind, die die angemessenen Manieren vermissen lassen – wie gesagt, man wird auf Twitter einfach so belästigt, versuchen Sie das mal in besseren Kreisen, da sind Sie sofort unten durch – schottet man sich ab und meidet Räume mit Leuten, die einen nicht verstehen und auch keine Dienstleistung erbringen. Der Staat ist zur Gleichbehandlung verpflichtet, die Bürger sind es, auch wenn oft ein anderer Eindruck propagiert wird, zum Glück nicht. Die einen regen sich auf und zahlen nachher trotzdem Miete. Die anderen haben einen Immobilienfonds im Portfolio und passen bei der Partnerwahl genau auf, dass sie so etwas nicht in der Ehe erleben. Und wenn sie es nicht aufpassen, tun es ihre Mütter. Ich verstehe durchaus, warum das akademische Proletariat so einen Hass auf die Familie und das Ehegattensplitting hat: Die Familie ist nicht nur der Kern der Gesellschaft, sondern auch das Fundament der Klassen. Mütter erziehen Kinder anders als Kitas. Und dass diese Erkenntnis selbst in Zeiten von Kitas nicht ausgestorben ist, zeigt die Suche junger Eltern nach möglichst guten Kindergärten und Schulen: Selbst im Niedergang bleibt der Wunsch vorhanden, unter sich zu sein, und etwas Besonderes geboten zu bekommen.

Darüber kann man sich natürlich beschweren, zumal es wirklich nicht unbedingt ein schöner Zug ist, speziell, wenn der elitäre Gestus in Kombination mit einer Haltung daher kommt, als sei der Privilegierte trotzdem der heilige Franz von Assisi, weil die Wachteleier auf dem Pausenbrot aus glücklichen französischen Wachteln plumpsen und die Meersalzbutter von freilaufenden Rindern der Normandie stammt. Ganz ehrlich, so etwas macht man wirklich besser unter sich auf dem Land, und nicht in gentrifizierten Vierteln grosser Städte mit einem hohen Anteil an staatlich bezahlten Berufsdiskriminierten, die elitäre Doppelmoral für schlechter als die einfache Moral der Gleichstellung halten. Die Beschwerde mag legitim sein und begründet, sie mag darin eine Verderbnis erkennen und würde sie uns besser kennen, würde sie noch viel mehr Schlechtes finden. Einfach, weil man sich bestens mit der Ungerechtigkeit arrangiert hat, und auch damit, darin nicht gestört zu werden. Man lässt sich da gegenseitig den Freiraum und regt sich allenfalls über die wirklich grossen Verbrechen auf: Erbschleicherei, Vermögenssteuer, Windräder an der falschen Stelle und Verschwendung, die exakt dort beginnt, wo die eigenen elementaren Bedürfnisse vom Wochenende in Siena bis zur Hautcreme mit dem Preis gediegenen Silbers enden. So schafft man es, zu leben, wie man es eben kennt, ohne sich dafür dumme Bemerkungen anhören zu müssen, von denen man leider ausgehen muss, dass es sie jenseits der Klassengrenzen vermutlich auch öfters gibt.

Dazu hätte ich übrigens auch keine Bestätigung gebraucht, man merkt das hier im Netz leider immer wieder, und verlernt im Laufe der Jahre solche Flausen wie “man kann doch einmal ganz offen darüber reden”. Darüber spricht man einfach nicht, wenn man seine Ruhe will.