Es ist naiv zu glauben, bei Sportfunktionären stünden die Interessen der Sportlerinnen und Sportler im Vordergrund, wenn sie sich an die Vermarktung ihrer Großprojekte machen. Man muss kein Kulturpessimist sein, um beispielsweise in der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 an das Emirat Katar eine rein von Geschäftsinteressen getriebene Transaktion zu sehen. Wer kann bezweifeln, dass es allein darum ging, aberwitzige Summen an der Steuer vorbei in wenige Taschen fließen zu lassen. Die Einhaltung von Menschenrechten ist bisher jedenfalls kein Kriterium dafür, einem Staat die Organisation einer Sportgroßveranstaltung anzuvertrauen.
Doch bis 2022 braucht man gar nicht zu warten, um sich über Unrecht und Heuchelei dieser Art zu ärgern. Schon im Februar finden die Olympischen Winterspiele statt: in Russland, kaltes Winterland und erfolgreiche Wintersportnation zugleich. Ginge es allein um diese Kriterien, wäre die Bühne bereitet für Athletinnen im Schnee, Athleten auf Eis und Fans in klirrender Kälte. Und für Zuschauerinnen und Zuschauer, die mit einem warmen Tee versorgt auf dem Sofa im heimischen Wohnzimmer sitzen und sich über Live-Übertragungen, Hintergrundberichte, Interviews und Medaillen freuen. Sportgroßveranstaltungen sind ein Fest, und Feste sollte man doch feiern, wie und wohin sie fallen – oder?
Leider nein. Denn 2014 trifft sich die Wintersportwelt in Sotschi. Ein Wintersportspektakel in einem Schwarzmeerbadeort? Ein Fest der Völker in einem – freundlich ausgedrückt –oligarchischen Staat? Bundespräsident Joachim Gauck hat kürzlich erklärt, dass er nicht nach Sotschi reisen wird. Und am Donnerstag war in der Zeitung zu lesen, dass auch US-Präsident Obama sich nicht in Sotschi blicken lassen und stattdessen eine Delegation schicken wird, der auch homosexuelle Ex-Profisportler angehören. Das sind gute, wichtige Entscheidungen von Personen in öffentlichen Ämtern. Doch ist es genug, das Boykottieren den Staatsoberhäuptern zu überlassen? Auch hier denke ich: nein. Denn die mit Rundfunkgebühren finanzierte Übertragung der Spiele von ARD, ZDF und ihren Tochteranstalten ist eine Farce. Sieben Gründe, die öffentlich-rechtlichen Anstalten mit einem Boykott im Wohnzimmer abzumahnen:
1. In Russland gelten seit 2013 Gesetze gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“, womit das öffentliche Bekenntnis zu gleichgeschlechtlicher Liebe gemeint ist. (Braucht es überhaupt noch sechs weitere Gründe?)
2. In einem warmen, praktisch mediterranen Küstenort wird eine noch unschätzbare Umweltzerstörung in Kauf genommen, um das Spektakel einer ungewöhnlichen Winterlandschaft zu inszenieren.
3. Es wäre blanker Hohn, wenn die Olympischen Winterspiele in Sotschi im Rückblick als Wintermärchen erschienen. Funktionäre und deren Werbepartner können und müssen mit öffentlichem Protest gebremst werden. Sie als unbezwingbaren Goliath zu stilisieren, dessen medienwirksam inszenierte Sportereignisse entweder so oder gar nicht konsumiert werden, steigert Macht, Gier und Größenwahn.
4. Die öffentlich-rechtlichen Sender hatten zu Zeiten, als sie noch die Tour de France übertrugen, Schwierigkeiten, kritische Berichterstattung und Sensationslust sauber voneinander zu trennen. Das ging auf Kosten der Kritik. Sie haben aber auch bewiesen, dass weder sie noch die Zuschauer untergehen, wenn sie sich weigern, die Tour de France weiter zu übertragen.
5. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich in einer global vernetzten Medienwelt der räumlichen Ausweitung von Öffentlichkeit und den mit dieser Vokabel verbundenen Vorstellungen von Recht und Unrecht bewusst werden. Der Rundfunkbeitrag wird von deutschen Haushalten bezahlt, das Medienspektakel spielt auf einer Weltbühne.
6. Die Inhalte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk können zwar nicht zu einer basisdemokratischen Abstimmung gebracht werden, das wäre naiv und logistisch nicht durchführbar. Doch die Inhalte, die mithilfe eines allgemeinen und von allen Haushalten und Unternehmen finanzierten Rundfunkbeitrags produziert und akquiriert werden, sind über die Quote hinaus – mit der demokratischen Pflicht zum zivilen Ungehorsam – anfechtbar. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Es geht in Sotschi nicht um das Musikantenstadl oder den Tatort. Es geht um die staatlich legitimierte Diskriminierung von Sportlerinnen und Sportlern, Journalistinnen und Journalisten, von Zuschauerinnen und Zuschauern und um die anstandslose Zerstörung von Natur, lokaler Gemeinschaft und Infrastruktur.
7. Und dann gibt es noch einen Grund, der über dieses Ereignis hinausweist und mir als ehemaliger Leistungssportlerin besonders am Herzen liegt: Profisportler sind die Gladiatoren der modernen Welt. Sie sind das schwächste Glied in einer gnadenlosen Maschinerie des Produzierens und Vermarktens von Höchstleistungen. Sotschi zeigt uns auf eindringliche Weise, wie umfassend Athletinnen und Athleten geschützt werden müssen: vor opportunistischen Funktionären, leistungssteigernden Mitteln und medial stilisierten Erwartungen. Seinen Unwillen über den in Sotschi mangelnden Schutz dieser Menschen durch den Boykott der öffentlich-rechtlichen Übertragung kundzutun, ist nicht wenig, wenn viele mitmachen.