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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Das Netz mal ganz praktisch betrachtet. Versuch einer Rettung

| 7 Lesermeinungen

Die NSA-Affäre hat eine wichtige Diskussion über die Gefahren des Internets angestoßen. Sie ist geprägt von großer Enttäuschung. Für viele Menschen aber sind digitale Technik und das Netz vor allem eins: ein Werkzeug zum Überleben.

Alle 30 Minuten — es stimmt, alle 30 Minuten begeht ein Kleinbauer in Indien Selbstmord, in den Tod getrieben von der Aussichtslosigkeit, angesichts härtester Bedingungen jemals auch nur ein annähernd ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Ein dramatischer Missstand, auf den die Organisation mKRISHI nun mit einer Hightechplattform reagiert, um Kleinbauern und Agrarexperten zusammenzuführen. Ausgestattet werden die Farmer dazu mit speziell ausgerüsteten Smartphones, die Fotos der Felder übermitteln und auch Fragen. Als Antwort erhalten sie Prognosen zu Klimaveränderungen und Pflanzenepidemien und was sie sonst noch wissen müssen, um ihre Ernte zu optimieren. Andere indische Organisationen versenden wiederum täglich aktuelle Informationen zu Nahrungsmittel- und Rohstoffpreisen, damit auf den nahegelegenen Märkten optimale Erträge erzielt werden können. Auf diese Weise werden mittlerweile viele Millionen Menschen mit einem kontinuierlichen Strom womöglich lebensrettender Daten versorgt. Ohne digitale Technik, ohne Netz — eine Unmöglichkeit.

Ein anderes Beispiel: In weiten Teilen Afrikas wird Geld, auch von den großen Banken, inzwischen als Gesprächszeit auf Handys transferiert, selbst in die entlegensten Regionen. In vielen Läden kann man nun mit „airtime“ bezahlen, Wechselgeld gibt’s in Form von Gesprächsminuten. Eine einfache, jedoch hocheffiziente Maßnahme, mit der die Wirtschaft in manchen der ärmsten Regionen der Welt angekurbelt wird.

Auch in Afghanistan wurde eine vergleichbare Form des Finanztransfers eingeführt, neben telemedizinischen Angeboten, E-Learning-Projekten und dem ersten umfassenden  betriebsangebundenen Versicherungssystem des Landes, alles natürlich mithilfe von Datenverarbeitung.

Und selbstverständlich lassen sich auch in der westlichen Welt, nunmehr ebenfalls Schauplatz drastischer ökonomischer Einbrüche, etliche Beispiele finden. Man denke bloß an die erfolgreichen Verkaufsplattformen, auf denen (überwiegend) Frauen selbsthergestellte Produkte anbieten. Für manche von ihnen ein Weg aus der Arbeitslosigkeit — oder aus miserabel bezahlten Jobs, wo sie hinter der Kasse sitzen (und anschließend vom Chef per Kamera bei der Zigarettenpause überwacht werden). Ein Befreiungsschlag, durch digitale Hightech und das www ermöglicht.

Für Milliarden von Menschen überall auf der Welt ist das Internet eine ganz und gar pragmatische Angelegenheit, über die man nicht nachdenkt, die man tagtäglich nutzt.

Bei uns wird in diesen Tagen diskutiert. Das Netz ist in Verruf geraten, kein Wunder. Die Diskussion ist notwendig, sie ist wichtig, ohne Frage. Aber sie ist auch ein Luxus, den wir uns leisten können. Man beklagt, dass das Internet nicht das Zaubermittel der Demokratisierung darstellt, als das es von einigen ausgerufen wurde. Man wendet sich ab, enttäuscht, gekränkt sogar.

Aber sollte man nicht auch in Betracht ziehen, dass für viele Menschen, rund um die Welt, das Netz tatsächlich erst die Voraussetzung zur demokratischen Teilhabe schafft, und zwar ganz praktisch? Demokratie leben, die eigenen Rechte kennen, sie ausüben, sie womöglich überhaupt erst erkämpfen: Das alles kann man effizient und langfristig praktizieren, wenn man ein existenzsicherndes Auskommen hat — oder überhaupt erst einmal genug zu essen. Das Netz kann Lebensretter sein. Und in der Folge auch die Grundlage schaffen für mündige Bürgerschaft, für demokratischere Verhältnisse.

Kleiner Nachklapp, um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich eröffnen all diese netzgestützten sozialen Maßnahmen postwendend neue Möglichkeiten zur Datenabschöpfung. Und es überrascht daher nicht, dass dieser Tage in den USA ein Artikel erschienen ist, der genau darauf hinweist, dass arme Menschen am schnellsten zu Opfern der Überwachung werden – von der überaus netzskeptischen Virginia Eubanks (die übrigens glaubhaft angibt, von dem NSA-Skandal überhaupt nicht überrascht worden zu sein): „Want to Predict the Future of Surveillance. Ask Poor Communities“. Reichlich Stoff zum Nachdenken.


7 Lesermeinungen

  1. MF87 sagt:

    Diskussion und Luxus??//Diskussion -z.B. Blogs und kommentieren-und Errungenschaft!!//
    Überwachung war immer da.
    Die Sprache gibt es ,die Technik gibt es,zur Nutzung da.Frei bis zur ein bisschen frei.(Demokratie,und
    Totalitärer Staat) ./
    Erinnerungen kommen auf,Wörter kommen auf.Risse bewältigen mit Wörtern /Sprache….und
    Technik.!/.

    lesenswert:
    FAZ artikel,Mittwoch,8.Januar 2014.Nr.6.Seite N 3″Zeitgewinn ,Landgewinn”.

  2. ThorHa sagt:

    Auch das "Netz" wird am Ende des Tages nicht mehr sein, als ein weiteres praktisches Hilfsmittel
    zur Bewältigung von Lebensaufgaben. Eine Technik. Mit Vorteilen, die durch (hoffentlich) insgesamt kleinere Nachteile erkauft werden – wie alles im Leben hat auch das Netz und dessen Nutzung natürlich einen Preis.

    Kann man Netzapologeten wie Netzverteuflern einen grösseren Tort antun, als eine derart nüchterne Beschreibung? Kaum :-).

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  3. isabelcole sagt:

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    Gut, daß jemand mal über den Tellerrand blickt! Umso wichtiger, gegen Überwachung anzukämpfen – Privatsphäre soll kein Luxusgut sein. Das wäre meine Kritik an den ansonsten sehr interessanten verlinkten Artikel (https://prospect.org/article/want-predict-future-surveillance-ask-poor-communities) – “We need to move away our fixation on privacy and towards a future based on digital human rights. … Seeing privacy as the cornerstone for democracy is a kind of naiveté we can no longer excuse nor afford.” Warum muß man die Dinge gegeneinander spielen? Es mag sein, daß die Armen keine Privatsphäre zum Verlieren haben – trotzdem ist es gefährlich, sie deswegen zum Luxus zu erklären.

    • elisruge sagt:

      Absolut einverstanden, liebe Isabel Cole, man sollte gerade bei diesem wichtigen Themenkomplex nicht immer polarisierend argumentieren. Ich halte die Privatsphäre ganz sicher nicht für ein Luxusgut. Allerdings hat die gegenwärtige deutsche Netzdebatte für mich, etwas salopp gesagt, einfach gewiss luxuriöse, monothematische Züge. Herzlich Elisabeth Ruge

    • mdetjen sagt:

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      Aber müsste man nicht unterscheiden zwischen dem Netz als technischem Hilfsmittel und dem Netz als neuem sozialen Raum? Natürlich haben auch und gerade “die Armen” eine Privatsphäre zu verlieren. Die obrigkeitlichen Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten sind doch für einen Bauern in China oder Kleinhändler in Indien noch viel heftiger als alles, was wir hier zu befürchten haben. Ist nicht eine der schlimmsten Folgen dieser ganzen NSA-Geschichte, dass jetzt in Russland und sonstwo alle Skrupel fahren gelassen werden können?

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