Als sein Haus modernisiert werden sollte, spannte einer meiner Nachbarn ein großes Tuch vor seinen Balkon mit der Aufschrift: «Rettet die Platte!»
Sie lachen? Damit sind Sie nicht allein. Kaum jemand weiß den Plattenbau zu schätzen. Viele Ostdeutschen sind ihn leid, und für die meisten Westdeutschen ist er, ebenso wie die «Westplatte» der BRD, nicht mehr als ein Symbol sozialer Problembezirke.
Aber fragen Sie mal die Menschen, die hier wohnen, und Sie werden hören, wie fabelhaft es ist, in einer Platte zu leben. (Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie sich doch mal die «Zu Besuch bei»-Videos auf www.jeder-qm-du.de an.) Die Architekten wussten genau, was Menschen zum Leben brauchen: Die Grundrisse sind durchdacht, die Räume atmen und die großen Fenster sorgen für eine Extraportion Tageslicht.
Wie alle Beispiele schlichten und guten Designs, sind diese Wohnungen also das Produkt gründlicher Überlegungen. Unglücklicherweise lässt sich das von den derzeitigen Modernisierungsmaßnamen nicht behaupten: Denn hier werden strukturierte Fassaden in gesichtslose Styroporbahnen verwandelt, denen sich bei bestem Willen kein ästhetischer Grundgedanke ablesen lässt.
Hier in der Spandauer Vorstadt, einem der schönsten, historisch bedeutsamsten und meistbesuchten Berliner Viertel, sind die Mehrheit der Plattenbauten sogenannte «Lückenbauten», die in den 1980er Jahren schnell und kostengünstig gebaut wurden, um der Ostberliner Wohnungsnot entgegenzuwirken. Heute gehören beinahe alle dieser Gebäude der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (kurz: WBM).
Wenn Ihnen bei einem Spaziergang durch die Spandauer Vorstadt die vielen Plattenbauten noch gar nicht aufgefallen sind, dann liegt das sicher auch daran, dass keine Platte der anderen gleicht. Mit einfachen, aber bewusst eingesetzten Elementen aus Ziegel, Stein, Farbe, Mosaiken und Metallelementen sorgten die Architekten dafür, dass die jeweilige Fassade sich in ihre Nachbarschaft einfügt und in einem Dialog mit ihren historischen Nachbarn steht.
Am Koppenplatz ist beispielsweise ein gutes Viertel Plattenbau. Eine Platte hat Erkerfenster, eine andere eine Haustür, die aus einem verfallenen Altbau gerettet wurde.
Jetzt allerdings geht die WBM mit Presslufthammern auf das Mauerwerk los. Oder wie einer meiner Nachbarn es mit Blick auf unsere neue Fassade beschreibt: «Das sieht ja aus wie westdeutscher sozialer Wohnungsbau aus den 60ern. Man würde meinen, wir hätten es weiter gebracht.»
Immerhin sind die neuen Styroporfassaden ökologisch sinnvoll, oder? Nein, sind sie nicht. Laut der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, wurden Plattenbauten aus den 1980ern schon mit einer integrierten Isolation gebaut. Außerdem ist fraglich, ob die Verkleidungen wirklich nötig sind, erhöhen doch allein isolierte Keller und Dächer sowie moderne Heizsysteme und Fenster die Energieeffizienz um 80%.
Staatliche Subventionierungen sind ein Grund für die neuen Fassaden, eine Praxis, die Dr. Hubert Staroste, Leiter des Fachbereichs Denkmal-Inventarisation und Denkmal-Vermittlung, als «irrsinnig» bezeichnet.
Ein anderes Problem ist die verbreitete Haltung, dass es bei der Platte ästhetisch ohnehin nichts zu verlieren gibt. Wenn Plattenbaufans sich zusammentäten, ließe sich an dieser Meinung etwas ändern. Aber ginge das schnell genug, um die Spandauer Vorstadt davor zu retten, bald wie ein tristes Nest in Niedersachsen auszusehen?
Ich hoffe es – nicht nur weil die alten Fassaden eine ganz eigene Anmut besitzen, sondern auch weil sie eine Geschichte erzählen. Die nichtssagenden neuen Fassaden – in die übrigens viel kleinere Fenster eingesetzt wurden –harmonieren nicht mit den darunterliegenden Strukturen der Gebäude, und ganz sicher nicht mit der Nachbarschaft. All das zeugt von einer armseligen Art, mit Geschichte umzugehen.
Das hat der Plattenbau nicht verdient. Neue Leitungen? Sehr gerne, danke. Aber eine gesichtslose, unnütze Styroporhülle, die irgendwann auf einer Mülldeponie enden wird? Nein. Wenn die WBM modernisiert, würde ich ihr gern eine alte amerikanische Weisheit ans Herz legen: If it ain’t broke, don’t fix it.
(Übersetzung: Marie-Sophie Müller)
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Auf der verlinkten Seite sind schöne Beispiele unprätentiöser, individueller und geschmackvoller Innenarchitektur.
Es entspricht gar nicht dem Bild einer kleinbürgerlich-spießigen Wohnwelt, die ich hatte.
Ich sehe die Sache jetzt etwas mit anderen Augen. Zumal der Wohnraum dort auch erschwinglich sein dürfte. Wie es sich da lebt, hinsichtlich Schallisolierung, Installation etc., kann ich nicht beurteilen.
Interessantes Blog. Danke!
Hausmeister Rolf zum Thema “Installation”:
https://www.jeder-qm-du.de/platte-kreativ/optimierung/hausmeister/folge-1-bohren-in-die-platte/
Die Spandauer Vorstadt
– eines der meistbesuchten Viertel Berlins? Dann müssten Zilliarden von Besuchern mir einen Geheimtipp vorausgehabt haben. Mein Weltbild ist nachhaltig erschüttert.
ist nicht in Spandau.
Sie müssen sich keine Sorge um Ihr Weltbild machen. Die Spandauer Vorstadt ist nicht die super hippe Vorstadt von Spandau, sondern mitten in Berlin Mitte. Oder genauer:
Die Spandauer Vorstadt wird im Süden begrenzt von der Spree und vom Viadukt der Berliner Stadtbahn, im Osten von der Karl-Liebknecht-Straße, im Norden von der Torstraße und im Westen von der Friedrichstraße. Der östlich der Rosenthaler Straße gelegene Teil der Spandauer Vorstadt ist auch als ‚Scheunenviertel‘ bekannt; eine Bezeichnung, die häufig irrtümlich wegen des sich dort um 1900 befindlichen ‚Schtetl‘ auch auf westlich davon gelegene Straßenzüge, allen voran die Oranienburger Straße mit der Synagoge, ausgedehnt wird. (wikipedia)
Herzliche Grüße von einem Schreibtisch mitten in der Spandauer Vorstadt
Annika Reich
Ah, danke für die Information,
das rückt einiges gerade. Tatsächlich hatten wir für Berlin-Aufenthalte schon paar mal eine Ferienwohnung in der Dircksenstraße gemietet, und die ganze Ecke (inklusive seiner Plattenbauten) ist mir einigermaßen vertraut, wenngleich mir die Bezeichnung “Spandauer Vorstadt” völlig unbekannt war.
Jetzt, wo ich weiß, was gemeint ist, kann ich dem Tenor des Beitrags nur beipflichten. Tatsächlich sind mir die vielen kleinen Variationen und Abweichungen von Bau zu Bau dort auch aufgefallen, da kommt nicht annähernd so viel Monotonie auf wie in Jena-Lobeda oder ähnlichen aus dem Boden gestampften Plattenbau-Siedlungen. Ich denke nicht, dass zusätzliche Fassadenverkleidungen ästhetischen (und nennenswerten energieeffizienten) Zugewinn bringen. Man wird das in ein paar Jahren womöglich genauso als Verschandelung erkennen wie die grauen Platten, unter denen in den 60er- und 70er-Jahren viele schöne Buntsandstein-Hausmauern in Odenwald und Pfälzer Wald versteckt wurden.
Vorgeschichte auch wichtig....
Nun ja. Was der Artikel verschweigt: An vielen Stellen standen noch bis in die siebziger Jahre, teilweise Beginn der 80er Jahre, recht schöne Altbauten, die aber im Rahmen des DDR-Programms: “Ruinen schaffen ohne Waffen”, mehr und mehr verfielen und dann einfach abgerissen wurden…