Ich. Heute. 10 vor 8.

Ich. Heute. 10 vor 8.

Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Glanzvoll scheitern mit Miley Cyrus

| 9 Lesermeinungen

Wie ein Auftritt bei MTV unplugged den Begriff "Authentizität" entkräftet

Die Welt existiert immer noch – obwohl bereits 1000 Mal das Ende ihrer Geschichte ausgerufen wurde. Menschen scheinen einen Abgrund zu brauchen, die Welt muss auf der Kippe stehen, um uns in ihr überleben zu lassen, nur aus der sich permanent wiederholenden Einsicht, erst jetzt gehe es endlich “ums Ganze”, entwickelt sich eine Hoffnungslosigkeit, die in die freudige Bereitschaft umschlägt, den Kampf gegen sein eigenes Scheitern auf sich zu nehmen. Obwohl er aussichtslos ist, und man am besten auf Party und Urlaub für alle plädiert.

Das hat Madonna 1983 mit Holiday getan, in einer Radikalität, bei der es gleichzeitig um nichts und wirklich um alles ging – nur nicht um Authentizität, die seit einiger Zeit die Existenzberechtigung öffentlicher Persönlichkeiten zu sein scheint.

Niemand ist in der öffentlichen Wahrnehmung von Männern so degradiert, neutralisiert und entkräftet worden wie Madonna. Keine Frau vor ihr hat sich selbst so entsetzlich lukrativ zum eigenen Unternehmen gemacht. Großkotzige Selbstinszenierung war bis zu diesem Zeitpunkt Männern vorbehalten, und die meisten von ihnen akzeptierten Frauen genau wie Punks oder Wunderkinder nur dann, wenn hinter deren öffentlicher Aufmerksamkeit eine authentische private Leidensgeschichte steckte – Drogensucht, Beziehungsunfähigkeit oder schlichte allgemeine Entrücktheit, Bankrotterklärungen, mit denen die Gründe für ihren Erfolg gleichzeitig auch die Bestrafung für ihren Erfolg waren.

Die Gesellschaft wird nicht in Frage gestellt, sobald die, die sie in Frage stellen, an ihrem Außenseitertum scheitern. Fotos werden nicht einer abgedrifteten Stilisierung wegen bearbeitet, sondern um sie durch die Beseitigung von Störfaktoren natürlicher aussehen zu lassen. Authentizität ist der größte Fake überhaupt.

Madonna hat sich diesem Phänomen entzogen, indem sie (wie Diedrich Diederichsen mal über die früheren „Interventionschancen“ ihrer Musik schrieb): „die Distanz zwischen ihren Inhalten und ihrer Person immer in den Mittelpunkt stellte“. Sie hat ihre eigene Verlogenheit abgefeiert und damit die Verlogenheit allgemeiner Strukturen offen gelegt. Das hat einen grundsätzlich ehrlichen Effekt und ist in einer Zeit, in der Grundsätzliches keinen Platz hat, weil hinter allem und jedem konkurrenzwirtschaftliche Strategien zu erwarten sind, eine große Heldentat. „Heute wollen die Menschen wieder falsche Echtheit statt echter Falschheit“, schreibt Diederichsen weiter. Und das ist wirklich verheerend.

Miley Cyrus war im Gegensatz zu Madonna mal Disneystar. Als Kontrastprogramm zu ihrer Kindheit hat sie sich nicht, wie ihre Vorgängerinnen, einem Schicksalsschlag ergeben und in die Betty Ford Klinik einweisen lassen – sie hat sich die Haare abgeschnitten, nackt auf eine Abrissbirne gesetzt und bei den MTV Music Awards eine Performance abgeliefert, die revolutionär, weil vulgär, peinlich, wild war.

Journalisten verachteten ihren plötzlichen Sinneswandel aus zwei Gründen gleichzeitig – sie hat sich ausgezogen und damit zur Nutte gemacht / sie hat sich ausgezogen, obwohl sie dafür nicht sexy genug ist. Ihr werden Geschmacksverirrungen und unangemessenes Verhalten unterstellt, im Rahmen eines wirklich überdimensionalen Shitstorms. Sie gilt, ähnlich wie Madonna, als gescheitert. Und verdient irre viel Geld damit.

Am Abend des 30. Januar sangen die beiden ein Duett bei MTV unplugged. MTV unplugged zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl der Künstler als auch seine Musik auf die rudimentärste Basis herunter gebrochen werden muss, es geht um Echtheit und Intimität, die Bühnenoutfits sollen auf irgendeine ursprüngliche Herkunft verweisen, die Kulissen sind das Gegenteil einer Stadiontour. Miley trägt u.a. eine Art Westernjeansoutfit, exaltiert und glitzernd und leicht bekloppt, ihr Hemd ist offen, unten drunter ein Bikinioberteil. Anspielung auf ihren Countrysängervater aus Nashville wahrscheinlich, back to the roots, gekoppelt mit der totalen strassbesetzten Pop-Entfremdung. Youtube-Kommentatoren bezeichnen das Outfit einstimmig als Verkehrsunfall – was in meinen Augen nicht bedeutet, dass Miley keinen guten Geschmack hat, sondern nur, dass sie sich im Gegensatz zum Rest ihrer Kolleginnen angreifbar macht.

Irgendwann stimmt sie die ersten Takte von „Don’t tell me“ an und zeigt mit einer lasziven Unaufgeregtheit ins Publikum. Aus dem Publikum erhebt sich Madonna, die 2001 im Video zu dem Song als cowgirl verkleidet eine sich als Leinwandprojektion entpuppende Straße entlang lief und jetzt zu Miley auf die Bühne wackelt. Die beiden ziehen eine wirklich chauvinistisch zu nennende, leicht vertrottelte und trotzdem sehr souveräne Nummer ab, die nicht echt ist und deshalb wahr. Die simplen Lyrics von „Don’t tell me“ gehen über in die noch simpleren Lyrics von Mileys Song „We cant stop“.

Es sind Schlachtrufe, die die Darstellung menschlicher Widersprüchlickeit an eine simple Form binden und sie damit rechtfertigen. Sehr katholisch, sehr anarchisch, in einem völlig plumpem Pop-Aufriss, der einen tiefen Abgrund thematisiert und ihn dadurch feiert. Ab und zu japst Madonna vor Anstrengung nach Luft, ab und zu sind die beiden kurz vorm Knutschen, ab und zu treffen sie mal den Ton nicht. Sie sind frei und süß und schlecht und radikal und stehen die ganze Zeit an einer Art Dachkante. Ich bin schwer beeindruckt, trotzdem läuft es mir kalt den Rücken runter.

Am nächsten Tag hänge ich mit ein paar unterschiedlich sozialisierten kleinen Mädchen rum, alle unter zehn, und drei von ihnen pink angezogen. Wir sehen die Verfilmung von Ronja Räubertochter, es ist das Jahr 2014, und die Mädchen können Astrid Lindgrens Grundintention schlechterdings nicht nachvollziehen – sie halten Ronja Räubertochter für eine verrückte Wilde und fragen mich die ganze Zeit, wann endlich ein Prinz kommt, der ihr ein Kleid anzieht und sie in seinem Schloss unterbringt. Das scheint mir ein schweres reaktionäres Rollback zu sein, und in mir wächst die Einsicht: Wir brauchen Miley Cyrus. Weil sie das Gegenteil ist von dem, was ihr unterstellt wird. Ihre Existenz beruht nicht auf Männern, die sie in pornoeske Verhaltensmuster zwängen wollen – sondern auf ihrer eigenen Entscheidung, sich über die Schamgrenze hinaus zu verausgaben, und das ist großartig.


9 Lesermeinungen

  1. Werlauer sagt:

    Schön diese Dialektik
    Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welcher sophistischen Selbstverständlichkeit die dialektische Betrachtung aus Schwarz Weiß macht und aus Weiß Schwarz. Man sollte dabei, um es mit Douglas Adams zu sagen, aufpassen, nicht plötzlich auf einem Zebrastreifen überfahren zu werden.

  2. MarcusJordan sagt:

    …hoffentlich stimmt´s!
    …aber einstweilen muss ich meinen Töchtern (8+10J) die nackte Abrissbirne erklären…und hätte ihnen gerne ganz liberal und unverklemmt mitgegeben, dass sie vielleicht mit echter Kompetenz, zumindest aber mit konsequentem Einsatz besser fahren als mit Arschwackeln.
    Ich mag den Text. Ich habe ohnehin die Tendenz, gescheiten Frauen alles zu glauben, was sie über Frauen sagen. Aber ich hätte gerne eine verständlichere Version. Oder zumindest eine inhaltliche Erweiterung um den Faktor “Vorbild” unter Inbetrachtnahme des Umstandes, dass das Publikum (u.a. Männer) vielleicht nicht in der Lage sein könnte, derartige schlauen Rechtfertigungen für das Lecken von Werkzeug zu folgen oder sie gar selbst anzuwenden.

    • Werlauer sagt:

      Vielleicht
      Vielleicht hat Frau Cyrus nächtelang wach gelegen und es hat sie fast zerrissen, ob des künstlerischen Outputs. Vielleicht hat sie aber auch einfach nur mit ihrem Management gesprochen und ein Marketing-Consultant hat zu ihr gesagt: “Miley Darling, wir müssen Dein Image transformieren, du bist zu alt für Minnie Maus. Mach doch mal auf Bitch, das gibt einen Skandal und verkauft sich gut und hinterher ist deine Popularität gestiegen und das Saubermädchenimage ausgeräumt. Dann sehen wir weiter …”

      Das Produkt “Cyrus” ist gut auf den Massenmarkt abgestimmt. Der Unternehmerin Cyrus gebührt Respekt. (Ähnlich zu Dieter Bohlen – der ist auch ein großer Künstler, weil er die gleiche “ehrlich künstlich”-Strategie fährt wie Madonna und Miley Cyrus)

  3. Sensibelchen sagt:

    Ihre Existenz...
    beruht auf Grundlage von Lebensenergie. Ihr Verhalten auf Grundlage eines
    eher grotesken Lebensreifeweges. Leben-Lebensweg, Reife-Reifeweg.
    Und ob dieser Weg auf eigene Entscheidung beruht wissen sie und Sie nicht.
    Menschen die öffentlich Reifemangelverhalten vorleben sind eher als
    warnendes Produkt unserer Gesellschaften zu sehen, denn als großartig.
    Denn sie wissen NICHT was sie tun, das ist meine Erkenntnis.
    Und weil sie es nicht wissen und nicht gelernt haben sich selbst zu lieben
    sind sie bedauernswert, denn sie produzieren und prostituieren sich als unreife
    Clowns für Geld und Anerkennung in der Öffenlichkeit, nicht fähig sich
    selbst anzuerkennen und zu reifen ohne Öffentlichkeit, in privater Natur.

    MfG
    P.S.

  4. ThorHa sagt:

    Wir haben den Höhepunkt dieses Blogs erreicht:
    Eine je nach Betrachtung geglückte oder missglückte Bühnenperformance wird zur philosophischen Grundsatzerklärung hochgejazzt: Es sind Schlachtrufe, die die Darstellung menschlicher Widersprüchlickeit an eine simple Form binden und sie damit rechtfertigen.

    Aha. Für mich ist der Blogbeitrag ein Quietschen, das die Vorführung gedanklicher Unzulänglichkeit an ebenso untaugliche Sprachmetaphern bindet und sie damit stärker konturiert.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

  5. kinky_So sagt:

    .
    Pop. Ratlos. Konsequent. Intelligent. Das Leben als Pop.

  6. becker30 sagt:

    Rollback
    “Das scheint mir ein schweres reaktionäres Rollback zu sein”

    Nicht nur da scheint mir die Artistin ratlos aufzudimmen, mit ihrem LED-Stirnband in der Zirkusmanege der seichten Künste. Wir warten noch auf die Pirouetten drehende Poporette des gleißenden Lichts, demnächst in diesem Lustspiel.

    • Werlauer sagt:

      Der erste Gedanke, den ich beim Lesen dieses Abschnittes hatte
      Der erste Gedanke, den ich beim Lesen dieses Abschnittes hatte, war der von dem Gender-Paradoxon aus Norwegen: Wir erinnern uns – obwohl Norwegen in punkto Gleichstellung von Mann und Frau auf Platz 5 der Welt brilliert, ist der relative Anteil von Berufseinsteigerinnen in klassischen Männerberufen (auf dem Bau, auf der Ölplattform, Ingeneurin, Mathematikerin, Informatikerin, etc. ) deutlich niedriger als in Ländern wie Indien, die am unteren Ende der Hitparade rangieren.

      Ich finde Ronja zwar auch sympathischer als die Prinzessin auf der Erbse, aber ich bin auch ein Junge. 😉

    • becker30 sagt:

      Pop
      Immer wieder faszinierend: der Pop-Diskurs als gesellschaftspolitische Metapher, gerne auch angereichert mit Zitaten von Ex-Spex Diederichsen. Wer hat also den schrägsten Spiegel im falschen Land?

Kommentare sind deaktiviert.