
Als die Berliner Mauer fiel, war ich sechzehn, lebte in Bayern, verbrachte meine Zeit mit Knutschen und Lesen und wollte nur deswegen nach Berlin, weil ich im Fernsehen sah, dass dort eine riesen Party stieg. Meine Eltern wollten mich weder alleine mit dem Zug fahren lassen noch selbst im Stau stehen – und so blieben wir euphorisch vor dem Fernseher hocken. In der Schule kursierten eine Zeit lang Witze über Ossis, die keiner je über Ausländer erzählt hätte, alle lachten über Zonen-Gabi mit ihrer geschälten Gurke – dann war alles wieder wie früher. Den 3. Oktober 1990 wollten meine Eltern dann doch richtig feiern, sie meinten, an diesen Tag würde ich mich mein Leben lang erinnern, und gingen mit mir in den Zirkus Roncalli.
Ich ahnte schon damals, dass es reichlich schräg war, ein solch historisches Ereignis im Zirkus zu feiern, beklatschte dann aber doch die poetische Gans in der Manege. Heute vermute ich, dass meine Eltern die Ereignisse 1989/90 und Roncalli über die Attribute „märchenhaft“ und „friedlich“ assoziativ zusammenschalteten, aber weniger schräg wird’s dadurch auch nicht.
Und: Viel interessanter als der Konfetti-Umgang meiner Eltern mit der ostdeutschen Revolution war mein eigener Blick darauf. 1993 zog ich nach Berlin, um Philosophie und Ethnologie zu studieren. Ich würde jetzt gerne etwas anderes behaupten, aber Ostberlin war für mich vor allem eins: ein Abenteuerspielplatz. Die unterirdischen Clubs, die heruntergekommenen Häuser, die Plattenbauten – alles aufregende Orte, um jenem Westgefühl zu entkommen, dass Jakob Hein einmal als „übersatte Studienrätin mitten in der Midlife-Crisis“ beschrieb.
Ich lernte schnell Leute kennen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen waren, aber auf die Idee, dass ich in der ehemaligen BRD groß geworden war, kam ich nicht. Wahrscheinlich dachte ich damals so etwas wie: Freunde, haltet kurz die Luft an, bald habt auch ihr’s geschafft! Und natürlich war das, was es da zu schaffen galt: So zu leben wie wir.
In dem Proseminar „Russische Philosophie“ wurde ich gefragt, was ich an unserem demokratischen System zu kritisieren hätte, und da war ich blank, vollkommen blank. Die Ost-Kommilitonen staunten, ich staunte zurück. Mich faszinierten Postkolonialismus, Differenzphilosophie und die Frage nach Widerstand gegen hegemoniale Diskurse und dachte das nicht ein einziges Mal mit der Situation vor meiner Nase zusammen. Ich las alles über den ethnologischen Blick und darüber, dass man seine eigenen Denkmuster entdeckt, wenn man andere Denkmuster verstehen lernt, und fuhr auf Feldforschung nach Japan, um mein Wissen endlich anzuwenden. Blinder Fleck nennt man so etwas, glaube ich.
Nach meiner Rückkehr aus einem Land, in dem ich mich erstmals diskriminiert gefühlt hatte, dämmerte mir einiges, aber Fragen stellte ich immer noch keine. Jetzt wollte ich bloß keinen Unterschied zwischen Ossis und Wessis machen, nicht mitleidig, neugierig oder besserwisserisch klingen, fragte mich ständig, was sie wohl über uns dachten, und schämte mich dafür, wie wenig ich über das Leben in der DDR nachgedacht hatte. Der Gedanke, dass ich noch weniger über das Leben in der BRD nachgedacht hatte, begann langsam zu reifen.
Eine ostdeutsche Freundin sagte neulich zu mir: „Ich habe Jahre lang in eine Welt geschaut, die nicht zurückgeblickt hat.“ Da nicht nur ich, sondern fast alle meiner westdeutschen Freunde wissen, wovon hier die Rede ist, stellt sich die Frage, warum diese Perspektive bisher so wenig verarbeitet wurde. Romane, die das westdeutsche Selbstverständnis von 1989 bis heute spiegeln, gibt es zum Beispiel nur vereinzelt. Doch in dieser fehlenden Reflektion liegt noch immer eine große, vertane Chance. Das Roncalli-Geständnis ist also gleichermaßen zu spät und aktuell. Es ist höchste Zeit zurückzublicken.