
Eine Polytechnische Oberschule in einer ostdeutschen Industriestadt Mitte der siebziger Jahre. Im Musikunterricht sangen wir Arbeiterkampflieder und Franz Schubert, und damit wir den Mund aufkriegten, malte der Musiklehrer Schwarzwälder Kirschtortenstücke an die Tafel. Während wir sangen, konnten wir draußen die jungen russischen Soldaten beobachten, die mit Steigeisen auf die Lichtmasten kletterten, um die Leitungen zu flicken, die ihre Kaserne nebenan mit Strom versorgten. Die Gegend war auf Abriss, es gab viele kinderreiche Familien, ein Großteil der Eltern arbeitete im Schwermaschinenbau, andere waren Binnenschiffer. Wer eine Neubauwohnung bekam, war froh, auf die andere Seite des Flusses ziehen zu können.
In der so entstandenen Nische war Platz für Ungewohntes, das uns von den Lehrern als Selbstverständlichkeit beigebracht wurde. Sie kratzten mit den älteren Schülern die Ölfarbe von den Wänden und bemalten sie großflächig, es gab eine Mädchenfußballmannschaft und wir hatten einen Musiklehrer, der offen schwul war. Das war so selbstverständlich, dass ich Jahre später, als ich die Schule wechselte, erstaunt war, dass Homosexualität etwas sein sollte, worüber man nicht sprach.
Der Musiklehrer hatte die Wände seines Fachraumes mit Instrumenten geschmückt. Keiner der Rabauken hat sich an einer der alten Geigen vergriffen, der Musiklehrer verschaffte sich Respekt, weil er sich nicht verstellte. In seinen engen weißen Schlaghosen und den halblangen Haaren war er der erste Popstar, der uns begegnete. Und das in einer Stadt, die mit Andersdenkenden keineswegs zimperlich umging.
An der Stirnseite des Musikraumes hing Undine, auf einem Plakat zum gleichnamigen Ballett von Hans-Werner Henze und Frederick Ashton, das Tom Schilling 1970 in der Komischen Oper inszeniert hatte. Im Nachhinein kommt es mir wie eine Metapher vor. Zwischen den fliegenden Fischen und Krebsen sieht man erst auf den zweiten Blick, dass Undine, sehr aufrecht, auf ihren Flossen steht. Eine Fremde, die nicht fremd sein will. Eine, die zwischen den Rollen changiert und von ihrem Mann verraten wird, weil sie ihm unheimlich ist und er seine Ruhe will.
Erst im Nachhinein ist mir aufgegangen, wieviel Mut unser Musiklehrer hatte. Der Nationalsozialismus war kaum ein Vierteljahrhundert vorbei. Auf der Insel, auf der ich aufwuchs, erzählte man von einem Nachbarn, der wegen seiner Neigung, wie man damals sagte, im KZ gesessen hatte und auch nach dem Krieg noch verfolgt worden war. Der Paragraph 175 war mit der Strafrechtsreform 1968 in der DDR als § 152 modifiziert worden, der nur noch gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen, sowohl für Frauen als auch für Männer, unter Strafe stellte. Homosexualität war in Städten wie unserer trotz Straffreiheit fast ausschließlich im Theater, in der Sauna und vielleicht noch in der Bar des Interhotels sichtbar. Das in der DDR erschienene „Wörterbuch der Sexuologie und ihrer Grenzgebiete“ hielt Homosexualität zu dieser Zeit noch u.a. für eine „Fehlleistung der Keimdrüsen“ oder ausgelöst “durch indirekten, aber machtvollen Einfluß anderer Personen und die Gesellschaftsordnung auf die Entscheidung eines Menschen“. Mit der Neuauflage 1990 war beides widerlegt. Anfang der achtziger Jahre kam die evangelische Kirche als geschützter Diskussionsraum für Lesben und Schwulen dazu, aber darüber wird kaum noch geredet, als käme es der Kirche im Nachhinein wie eine sexuelle Verirrung aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse vor.
Ich weiß nicht, wie schlimm die Erfahrungen waren, die mein Musiklehrer mit seinem Outing gemacht hat, ich kann nur sagen, wie viel er uns damit schenkte. Uns und unseren Müttern, die ihm mehr als Toleranz entgegenbrachten. Sie gingen alle arbeiten, keine hatte ihren Ehemann deshalb um Erlaubnis bitten müssen, sie hatten ihr eigenes Konto, und von der Moral der Kirche war nur der Wille zur Wohlanständigkeit geblieben, der im Alltag zerbröckelte. Aber viele empfanden eine kulturelle Leere, die der Musiklehrer mit seinem umfassenden Sinn für Ästhetik füllte. Es gab nicht wenige, die sich ihre Ehemänner wenigstens ein bisschen so offen und kunstinteressiert wie ihn gewünscht hätten, und einige, die am liebsten mit ihm nach Berlin durchgebrannt wären, sexuelle Orientierung hin oder her. Es war ein Leben voller Verheißungen. Das Wort Heteronormativität gehörte noch nicht zum Sprachgebrauch. Ohne dass sie je darüber reflektiert hätten, waren sie Teil jener Emanzipationsbewegung, der eine Gesellschaft Freier und Gleicher vorschwebt, die Differenz und Vielfalt als Chance nimmt. Die Mütter gingen mit dem Musiklehrer eine unausgesprochene Allianz ein und trugen so zu einer Akzeptanz bei, die leider auch vierzig Jahre später nicht geringzuschätzen ist, weil es ihr offenbar immer noch an Selbstverständlichkeit mangelt. So zeigt es jedenfalls die aktuelle Debatte über sexuelle Vielfalt, die ihren Ausgangspunkt in Sport und Schule genommen hat und inzwischen Züge eines Kulturkampfes trägt, wie Stefan Niggemeier kürzlich in der FAS geschrieben hat.
Ich würde diesen Text nicht schreiben, wenn mich der Rückfall in die fünfziger Jahre nicht beschäftigte, diese seltsame Sehnsucht vieler Menschen nach einer hierarchischen Ordnung. Die Männer verdienen das Geld und verwalten es, die Frauen kümmern sich um den Haushalt und ohrfeigen die Kinder, die Familie geht in die Kirche oder den Garten, der Mann in den Puff und die Frau zum Friseur, die Schwulen sind in der Klappe oder hinter den Kulissen und die Frauen, die nicht unter der Haube sind, gelten als vertrocknete Jungfern. Aber das Ganze bitte mit Smartphone, Laptop, ABS und intelligentem Kühlschrank.
Es geht nur am Rand um Homophobie in der momentanen Debatte, es geht vor allem um die Angst vor Machtverlust und um Ressentiments, die vermischt werden mit falschen bis absurden Behauptungen, wie die, dass schwule Liebe selbstverständlich eine defizitäre oder Homosexualität ansteckend sei, und dass junge Leute in der Schule nicht mit zu viel sexueller Vielfalt behelligt werden sollten. Wieder geht es um Ausgrenzung, um Unsichtbarmachung, um die Zurücksetzung in einen Zustand, aus dem sich zu befreien unendlich viel Kraft und Mut gehört hat. Gerne hätte ich meinen Musiklehrer beim Namen genannt. Aus Rücksicht ihm gegenüber tue ich es nicht.
Vor einem Jahr habe ich meinen Musiklehrer durch Zufall wiedergetroffen. Ich hatte den Wunsch, mich bei ihm dafür zu bedanken, dass er uns eine Tür zu einem anderen Leben geöffnet hat, durch die ich später gern gegangen bin. Er sei einfach nur jung gewesen, hat er gesagt, aber wir beide wussten, dass das eine Untertreibung war. Die Probleme, erzählte er, kamen erst nach der Wende, als Eltern bei der Schuldirektorin durchsetzen wollten, dass ihre Kinder nicht mehr von einem offen schwulen Lehrer unterrichtet werden. Sie forderten das im Namen der Freiheit.
Die Schule, in die ich bis 1978 gegangen bin, ist heute nur noch eine leere Hülle, das Tor verschlossen. Während des letzten Hochwassers stand das Wasser bis in den ehemaligen Musikraum. Der grüne Moosteppich, der seitdem das Pflaster des Schulhofes bedeckt, sieht beim Blick über den Zaun wie Entengrütze aus. An der Schulhofmauer sind noch die Reste der Wandbilder zu sehen, die durch das Wasser im Gemäuer wie jahrhundertealte Fresken anmuten. Ich habe flatternde Pioniertücher in Erinnerung, aber ich sehe Musiker, Sportler und Blumen. Die Musiker haben Instrumente, wie sie an der Wand des Musikraumes hingen.
hoffentlich nicht nur eine Mode
…wohl gerade den Film im TV gesehen, “Der Club der toten Dichter” und sich dann an die Tastatur gesetzt…?
Nur, was hat ein offenbar sehr guter Lehrer aus der (verklärten?) Jugendzeit damit zu tun, welche sexuelle Richtung er (privat) hat? Ist es DESHALB ein besserer Mensch, ein außergewöhnlicher Lehrer? Wird hier nicht das gleiche fabriziert, wie von der anderen Seite, die Menschen verurteilen, weil sie schwul sind? (= uncool) …und hier wird er in den Himmel gehoben weil er schwul ist (Weil solch Ansicht momentan cool ist?)
Missverständnis?
Missverstehen Sie die Aussage des Artikels nicht?
Der Lehrer ist nicht wegen seiner sexuellen Orientierung ein guter Lehrer, sondern weil er sich nicht verbogen hat und nicht vorgab, anders zu sein als er ist.
Damit hat er der gar nicht so kleinen Minderheit der Schwulen unter seinen Schülern ein Rollenvorbild ermöglicht, das die Mherheit der Heterosexuellen ganz selbstverständlich in ihrem Umfeld findet.