
Vier Minuten nur dauert die Fahrt auf dem Kahn durch die Unterwelt: vor mir die Silhouette einer alten Frau am Bug eines Schiffes; ihre Stimme aus dem off: in wenigen Worten zieht sie Bilanz über ihr Leben. Jugend und Glamour liegen hinter ihr, Alter, Verlust, Einsamkeit und Tod sind sehr präsent, und sie fragt sich: was nun?
Ein weitgeöffnetes Fenster: Die gleiche Frau im Halbprofil, 35 Jahre jünger, tanzt da in 60 schwerelos-spielerischen Sekunden im Gegenlicht vor einer übergrünen Landschaft. Und fragt: Wer bin ich?
In der Apotheke. Eine Frauenhand öffnet eine Handtasche, zieht ein Rezept heraus und legt es auf den Tresen. Ein Blick in ihre Handtasche: die Umrisse eines winzigen, steifen Kindes, in eine Plastiktüte gewickelt; die Hand nestelt fieberhaft am Plastik – da waren doch eigentlich Luftlöcher, damit das Kindchen atmen kann. Die Szene wiederholt sich… – drei bleierne Minuten im Endlos-loop. Erst nach etlichen Wiederholungen die Erlösung: Es atmet noch. Es lebt.
Ich wandere durch eine Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin und folge einer Frau beim Träumen. Neun Video-Miniaturen, in denen sich die Frau alleine mit der Kamera unterhält: ungeschminkt, schutzlos und ganz dem Risiko des Experimentierens ausgesetzt. Traum-Protokolle nennt sie das.
Gerade 70 geworden hält Hanna Schygulla Rückschau auf ihre Leben und anstelle der üblichen, konventionellen Hochglanz-Hommage hat sie für diesen Rückblick ausgerechnet die Koffer ausgepackt, die sie fast dreißig Jahre lang von Dachboden zu Dachboden wohlverwahrt und halbvergessen mit sich herum geschleppt hat: unzählige Kassetten ungeschnittenes eigenes Videomaterial, das zum größeren Teil 1973 in einer Künstler-Kommune in Bayern entstand, als sie sich gerade von einem Mann trennen wollte, aufs Land zog, die Haare abschnitt und darüber nachdachte, wer sie ohne R. W. Fassbinder sonst noch sei.
So etwas wie das „Prinzip Sehnsucht“ habe sie bei Fassbinder verkörpert, schrieb der SPIEGEL damals. Sie aber empfand sich als sein Werkzeug: „Er musste nur sagen, so und so, ich hab’ das dann automatisch abgerufen, und das war dann gut.“ zieht sie kritisch Bilanz in ihrer Autobiografie: „Wach auf und träume“.

„Da war gerade Glamour im Gang“, beschreibt sie ziemlich lässig den Moment ihres damaligen, auch internationalen Durchbruchs. Eigentlich aber hatte sie Sehnsucht nach etwas ganz anderem.
Fassbinder, „der Tiger immer auf der Jagd nach Futter für seine unersättliche Kreativität“ (H. S.) hatte ihr angeboten, den nächsten Film vom Drehbuch bis zur Regie mit ihr gemeinsam zu machen, als gleichberechtigte Partnerin: Geplant war ein Portrait über die an Schizophrenie erkrankte Schriftstellerin Unika Zürn.
Durch den Selbstmord von Fassbinders Lebensgefährten zerschlug sich dieser Traum, aber das Traum-Kindchen aus der Plastiktüte in ihrer Handtasche kam plötzlich wieder zum Vorschein. „Das war das Aufregendste, die Tasche zu öffnen und zu erfahren, ob das Kind noch lebt. In mir selbst ist etwas anderes zum Fließen gekommen“, erzählt sie bei der Ausstellungs-Eröffnung.
Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Ettore Scola, Carlos Saura, Jean-Luc Godard, Andrzeij Wajda, David Lynch und noch einige mehr standen schon in den Startlöchern, um Fassbinders Schwabinger Marilyn auch vor ihre Linse zu kriegen. Aber ähnlich wie Susan Sonntag, die lakonisch in ihrem Tagebuch notiert: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“, kauft sich die Schygulla in diesem Moment erstmal eine Videokamera; in der einen Hand die Nachtischlampe, in der anderen die Fernbedienung und mit einem alten Fernseher als improvisiertem Monitor fängt sie einfach an: „Um mich nicht fragen zu müssen, ob das überhaupt jemand interessiert, habe ich etwas genommen, das authentisch aus mir selbst aufgestiegen war.“ Ihre Träume werden zum eigenen Drehbuch. Sie zur Regisseurin ihrer selbst.
Am Ende des Publikums-Gesprächs zitiert sie Hölderlin: „Das Schwerste ist, das Eigene zu erlernen“… 30 Jahre hat sie gebraucht, um ihre Traumprotokolle in die Öffentlichkeit zu entlassen. Und in dieser Zeit die Große Bühne auch lange Jahre ganz verlassen. Die Hauptrolle in Blue Velvet überlässt sie Isabella Rossellini. „Vom Glamour zu Altenpflege“ heißt dieses Kapitel in ihrer Biografie – statt Hollywood nun Zorneding, wo sie mit ihrem Vater kurz vor seinem Tod nochmals seine Nazi-Sympathien diskutiert und ihre Mutter pflegt, die in der Demenz zu dem Kind wird, das sie selbst nie hatte.
Auch Unika Zürn hatte einen Traum von einem Kind. Doch das Kind war bei ihr eine ganze Stadt. Zürns Traum-Kind war ein wiedervereintes Berlin. Wahrscheinlich hat ihr dieses Kind damals niemand abgenommen. 1970 stürzt sie sich in Paris aus dem Fenster.
Schygulla widmet ihr in den Traumprotokollen mit „Schwester“ einen fiktiven Dialog.

Auf die Frage eines eifrigen Radio-Journalisten, wie sie sterben wolle, antwortet Schygulla, sie wolle noch gar nicht sterben. Und zieht jetzt erstmal von Paris nach Berlin.
„Es soll etwas Neues werden. Und Berlin, heißt es ja immer, ist eine Baustelle der Zukunft. Warum also nicht auch für mich? Meine Zukunft ist zwar relativ klein geworden, aber dann wird das eben auch noch eine Baustelle.“ (Berliner Morgenpost)
Am Ende des letzten Traumprotokolls dreht sich die alte Frau auf dem Kahn plötzlich um zu mir. Nach Effi Briest, Lili Marleen, Eva Maria Braun und all den anderen steht da jetzt Hanna Schygulla als Hanna Schygulla und träumt nur noch sich selbst.
So ganz gelassen im Alter. Bienvenue! Welcome in Berlin!
