Mein erster Vorstoß in das Gebiet des politischen Aktivismus richtete sich, im Alter von elf Jahren, gegen das Pelzgeschäft bei uns um die Ecke. Eine unserer Protest-Strategien bestand darin, ein Preisschild an das Fell unseres Hundes zu heften, mit ihm in den Laden zu spazieren und so zu tun, als wollten wir ihn für den Gegenwert seines Haarkleids verhökern (seine seidigen Schlappohren versahen wir jeweils mit erhöhten Preisen).
Es war gar nicht so, dass ich mich ausschließlich über das Häuten von Tieren empörte, jedenfalls nicht mehr, als über das ungerechte Game Boy-Verbot, das zu Hause galt. Die Gründe, warum wir immer weiter agitierten, lagen wohl eher in der zuverlässigen Zornesreaktion der Angestellten bei jeder neuen Provokation. Es war der perfekte Zeitvertreib: Es befriedigte unser tiefes Bedürfnis, Unruhe zu stiften – und das auch noch für einen guten Zweck. Ohne großen Aufwand führte der Protest dazu, dass wir zufrieden mit uns waren.
Wir hatten damals kein Internet, sonst wären wir wahrscheinlich zu Hause geblieben und hätten Fotos von uns hochgeladen, wie wir in unseren Kinderzimmern sitzen mit Schildern, auf denen wir unsere Solidarität mit Tieren verkünden.
Zum ersten Mal nahm ich von diesen sogenannten „Protest-Selfies“ Notiz, als „Project Unbreakable“ gestartet wurde – eine Kampagne, bei der Opfer von sexueller Gewalt sich selbst fotografierten, mit Schildern, auf denen die unaussprechlichen Sätze der Täter zu lesen waren. Diese Bilder verbreiteten sich nicht nur wie ein Lauffeuer, sie führten auch dazu, dass Tausende es ihnen nachmachten und selbst etwas zu der Kampagne beitrugen. Das Format, so konnte man hören, verleihe marginalisierten Gruppen und Meinungen eine Stimme. Für diejenigen, die zum Schweigen gebracht wurden, konnte das Unsagbare durch eine Kombination von Schrift und Selbstoffenbarung schlagkräftig ausgedrückt werden.
Heutzutage ist das Protest-Selfie zu der beliebtesten Technik geworden, das eigene Gesicht in eine Debatte einzufügen oder prägnant Stellung zu beziehen. Indem sie sich zwischen dem viel verspotteten „Klicktivismus“ und dem realen, physischen Protest einen Platz verschaffen, können die Produzenten der Selfies ihre eigenen Körper „aufs Spiel setzen“, ohne das Haus zu verlassen. Sie posieren und laden ein Foto hoch.
Die Argumentation eines Protest-Selfies ist schon wegen des geringen Platzes nicht besonders differenziert, weswegen sie sich anscheinend besonders für das Abstecken von identitätspolitischen Positionen, und für Äußerungen und Aberkennungen von Missständen eignet. Sie erzeugen Selfie-Kriege zwischen Feministen („Ich brauche den Feminismus, weil …“) und Anti-Feministen („Ich bin keine Feministin, weil …“), zwischen denjenigen, die Rassismus erfahren haben, und denjenigen, die davon verschont geblieben sind.
Anfang des Jahres veröffentlichten Studenten, die ethnischen Minderheiten in Oxford und Harvard angehören, ihre Fotos mit Zitaten rassistischer oder voreingenommener Äußerungen, denen sie an diesen Elite-Institutionen ausgesetzt waren. Eine Gegenkampagne, die die individuellen positiven Erfahrungen von Studenten aus Minderheiten, betonte, folgte auf dem Fuße.
Während die ursprünglichen Kampagnen versuchen, vorherrschende Vorurteile oder institutionelle Ungerechtigkeit aufzuzeigen, in dem sie eine kritische Masse an individuellen Aussagen kuratieren, stellen die Gegenkampagnen die Sache mit denselben Mitteln auf den Kopf. Die große, gleichmachende Arena des Internets ermutigt Trittbrettfahrer, Gegenkampagnen zu starten, während sie in der physischen Welt wahrscheinlich nicht so weit gehen würden, eine „Wir kennen keinen Rassismus“-Demo zu inszenieren.
Konservative haben das Potential des Formats längst erkannt, auch in Deutschland. Die AfD lancierte vor kurzem ihre eigene Kampagne, betitelt: „Ich bin kein(e) Feminist(in)“, bei der sie Verbündete dazu einlud, ihre eigenen, individuellen Gründe dafür kund zu tun, warum sie dem Feminismus aus dem Weg gingen (z.B. die Güte ihrer Partner, eine persönliche Präferenz für „starke Männer“ oder „wahre Weiblichkeit“ oder auch eine Vorliebe für Ritterlichkeit).
Protest-Selfies können einem tatsächlich wie eine Zuspitzung verschiedenster bedauerlicher Tendenzen der virtuellen Welt erscheinen: Der Hinwendung zu Kurzformen der Kommunikation (auf die Spitze getrieben durch die Absurdität von Hashtag-Aktivismus); ein wachsendes Analphabetentum, gepaart mit immer mehr Möglichkeiten, sich auszudrücken; die allgemeine Ansicht, dass es an sich schon etwas Gutes ist, sich auszudrücken; hunderte von Leuten, die Bilder von ihren einfältigen Gesichtern machen und einen Grund suchen, die besten dann ins Internet zu stellen.
Voraussichtlich werden Protest-Selfies bald aussterben, schließlich beschleunigt das Internet das Karussell von Aneignung und stetig neuen Formen des Exhibitionismus. Aber die zunehmende Tendenz, im virtuellen, symbolischen Raum zu protestieren, trivialisiert nicht nur die Debatte, sie erzeugt wahrscheinlich auch das Gefühl, dass die Arbeit der politischen Partizipation damit erledigt ist.
(Übersetzt von Theresia Enzensberger)