Es hätte überall gewesen sein können, in jeder Notaufnahme einer europäischen Stadt.
Das erste Mal habe ich sie gesehen, als sie auf einer Trage an mir vorbeigeschoben wurde.
Ein Umriss unter einer Decke, eine lange Strähne blonden Haares hing heraus. Ich hätte dem verborgenen Körper keine Beachtung geschenkt, wenn nicht dieses penetrante Schluchzen gewesen wäre.
Ich spie in eine Plastiktasse. Die Notaufnahme war überfüllt, Menschen hingen an Tröpfen, lungerten in den ausgeleierten Plastiksitzschalen, gesittet leise. Hinter der Trage folgte wie ein Klageweib die Mutter im lächerlich bunten Rock. Plastikschuhe. Kopftuch.
Die Krankenschwester hob die Decke. Das Mädchen, das darunter lag, schätzte ich auf vierzehn. Das Gesicht hatte eine gelblichweiße Farbe, es hielt die Augen fest geschlossen.
Die Mutter sprach nur Russisch. Ich bot mich als Dolmetscherin an. Der Blick der Schwester hatte etwas Abfälliges. Die Mutter sagte: „Kaputte Nieren.“ Ob sie Schmerzen habe, wollte die Schwester wissen. Das Mädchen deutete mit einer sehr schmalen Hand auf den Rücken.
„Zum Orthopäden“, entschied die Schwester.
„Sie sagt doch, die Niere ist krank.“
Ich wurde ignoriert, das Gespräch war beendet. Mir wurde klar, dass ich nun nicht mehr von der Seite des Mädchens weichen konnte. Der Orthopäde stieß in die freigelegte weiße Haut zwischen Jeansbund und grünem Pullover, sie zuckte zusammen.
„Die hat nichts“, sagte er. Und etwas später: „Die ist nicht versichert.“
Er drückte ihr eine Schmerztablette in die Hand und forderte sie zum Aufstehen auf. Sie konnte es nicht. Als sie den Mund öffnete, roch es nach Urin. Ich blätterte in den russischen Unterlagen: Von Nierenversagen war die Rede. Von lebensbedrohlichen Umständen und von Dialyse.
„Medizintourismus“, sagte der Orthopäde. Wo sie herkäme?
Die Mutter erzählte: Aus Tschetschenien. Heute angekommen. Auf dem Weg ins Auffanglager für Flüchtlinge, um einen Asylantrag zu stellen, sei die Tochter zusammengebrochen.
„Also illegal“, hielt der Orthopäde fest.
Ich fühlte, wie die Situation zu entgleisen drohte und hielt dagegen. Eine Internistin wurde doch noch hinzugezogen. Nach eingehender Untersuchung war sie entsetzt. Unmöglich, das Mädchen jetzt gehen zu lassen, meinte sie.
Während die Ärztin sprach, erschienen vier Polizisten. Öffneten die Taschen der Mutter, warfen Dokumente und Kleider auf den Boden. Führten sie ab. Zwei blieben und postierten sich mit ernster Miene um das Krankenbett.
“Ich heiße Madina“, flüsterte das Mädchen und begann erst jetzt zu weinen.
„Was soll das“, sagte ich. Einer nahm meine Daten auf und ich seine Dienstnummer. Danach sagte er:
„Sobald sie hier fertig ist, kommt sie ins Abschiebezentrum.“
„Wir können die Welt nicht retten“, sagte der Andere.