Ich. Heute. 10 vor 8.

Seit tausend Jahren am Kreuz

© Frank Vinzenz (CC BY-SA 3.0)Das Gerokreuz im Kölner Dom

„Wer schön sein will, muss leiden!“, sagte meine Mutter immer, wenn ich mich über das Ziepen beschwerte, während sie mir rigoros die Haare kämmte und zu festen Zöpfen flocht.

„Damit die Revolution kommt, müssen wir Opfer bringen“, sind Revolutionäre seit jeher überzeugt. Slavoj Žižek schreibt sogar, man müsse dafür notfalls die eigenen Frauen und Kinder erschießen.

„Der Held muss große Hindernisse und Anfeindungen durchleben und ist mehrfach praktisch tot, bevor er in letzter Sekunde die globale Katastrophe abwendet“ – so lassen sich gefühlt achtzig Prozent aller Hollywoodproduktionen zusammenfassen.

Heute ist Ostermontag, ein schöner Anlass, einmal an die Wurzeln dieser Geschichte zu erinnern. Einer Geschichte, der offenbar niemand entkommt, für wie atheistisch er sich auch immer halten mag: „Jesus ist auferstanden! Aber damit das möglich war, musste er stellvertretend für uns alle einen grausamen Tod erleiden!“ Seit ungefähr tausend Jahren erzählen uns christliche Theologen diese Geschichte.

Seit tausend Jahren? Nicht seit zweitausend? Ja, richtig gelesen: Das älteste Riesen-Kruzifix, das einen leidenden Männerkörper am Kreuz verherrlicht, ist das Gero-Kreuz im Kölner Dom; es entstand Ende des 10. Jahrhunderts. Und noch etwas später formulierte der Erzbischof Anselm von Canterbury die so genannte „Sühnetheologie“, in der er behauptete, Jesu Tod am Kreuz sei nicht etwa ein Unglück gewesen oder eine politische Hinrichtung, sondern Christus hätte stellvertretend für uns Sünder und Sünderinnen leiden müssen. Seither ist das Kreuz Symbol und Zeichen des Christentums.

Und vorher? Vorher, haben die amerikanischen Theologinnen Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker in ihrem Buch Saving Paradise. How Christianity Traded Love of This World for Crucifixion and Empire gezeigt, waren in Kirchen keine Kruzifixe, sondern häufig Bilder vom Paradies zu sehen. Jesus wurde nicht als ausgemergelte Leiche gezeigt, sondern als glänzender Weltenherrscher, oder auch als guter Hirte, inmitten üppiger Gärten.

Entsprechend anders sei in diesem ersten Jahrtausend auch die christliche Botschaft gewesen: In ihrem Zentrum stand die Hoffnung, dass sich die Türen des Paradieses wieder öffnen können, wenn wir nur so zusammenleben wie Jesus es vorgelebt hat: „Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8, 12) Und zwar ausdrücklich „wie im Himmel, so auch auf der Erde“, wie es im Vaterunser heißt. Also nicht erst im Jenseits.

Doch dann kam diese merkwürdige und bis heute so wirkungsvolle Idee in die Welt, das Leiden hätte einen tieferen Sinn. Und damit ging das alles los: die Kreuzzüge, die Verfolgungen von Andersgläubigen, die Hexenverbrennungen. Und generell die ideologisch verbrämte Gewalt, sei sie religiöser oder politischer Natur.

Natürlich gab es auch vor dem 10. Jahrhundert schon Gewalt, und nicht zu wenig. Aber sie war sozusagen ehrlicher. Dass ich einen anderen nicht deshalb totschlage, weil ich ihm etwas wegnehmen oder mich rächen will oder aus sonst einem egoistischen Grund, sondern dass es einen tieferen, gar göttlichen, revolutionären, wissenschaftlichen, politischen Sinn hat, andere Leute umzubringen – darauf muss man erstmal kommen.

Inzwischen haben die meisten christlichen Theologen (und vor allem feministische Theologinnen) die Sühnetheologie zumindest in ihrer schlichten Variante zwar wieder verworfen. Aber bis ins Alltagsleben dringt das selten vor. Zu stark sind diese Denkmuster in die abendländische Kulturproduktion eingesickert.

Vermutlich liegt das auch daran, dass uns wirksame Gegenbilder zum sich aufopfernden Helden fehlen. Und wenn wir das Paradies reaktivieren? Denn das wären doch in der Tat paradiesische Zustände: Wenn wir uns schön fühlen würden, ohne auf Stöckelschuhen herumzustolpern. Wenn wir die Welt zum Besseren verändern könnten, ohne vorher andere totzuschießen oder selbst totgeschossen zu werden. Wenn wir uns Geschichten erzählen würden von Beziehungen zwischen Menschen, von ihren Abenteuern und Entdeckungen, ohne dass irgendwann ein Möchtegern-Jesus daher kommt und die Dinge für uns regelt.

Leid und Schmerz und Unglück sind real. Nicht nur Jesus ist völlig sinnloserweise von machtbesessenen Herrschern hingerichtet worden, das passiert dauernd, bis heute. Aber Menschen werden auch krank oder haben Unfälle. Sie werden verlassen oder betrogen. Sie zanken sich, sie fügen einander Gewalt zu, sie hungern und frieren. Für Leid gibt es unendlich viele Ursachen, menschengemachte und auch solche, für die niemand etwas kann, und im konkreten Fall ist es meist eine Mischung aus beidem.

Aber das alles muss man ja nicht ideologisch überhöhen. Wir brauchen einen neuen Typus von Heldinnen und Helden, Menschen, die in einer konkreten Situation Wege suchen, Leid zu lindern oder zu verhindern. Das wird ihnen manchmal gelingen und manchmal nicht, aber auch dann verlieren sie nicht die Geduld. Sie stehen anderen, die leiden, bei und trösten, und auf keinen Fall sagen sie ihnen „Selber schuld“ oder „Wer weiß, wozu es gut ist“.

Leid hat keinen tieferen Sinn. Es liegt nichts Positives darin. Wir sollten es uns nicht schönreden und erst recht nicht „selbstgewählt“ herbeiführen in der Hoffnung, dafür später einmal „erlöst“ zu werden. Stattdessen sollten wir das in den Blick nehmen, was jenseits des Leids auch heute schon Realität ist: erfülltes Leben, gelingende Beziehungen, wirkliche Schönheit. Natürlich leben wir nicht im Paradies. Aber ein bisschen paradiesischer Glanz scheint doch hin und wieder auf. Nicht immer, aber immer öfter womöglich. Jedenfalls können wir alle etwas dazu beitragen.

„Reich Gottes“ nennen das die Frommen, „gutes Leben für alle“ sagen vielleicht die anderen. Aber wie man es nennt, ist ganz egal, Hauptsache, wir lassen uns von dieser Vision inspirieren und ermutigen. In diesem Sinne: Frohe Ostern!

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