
An einem heißen Tag im Frühsommer 2012 waberte ein Gerücht durch Peking: Im Herbst stand der Machtwechsel an der Partei- und Staatsspitze bevor, und eine Wahl im Zentralkomitee der chinesischen KP sollte – so das Gerücht – einen „populären“ Kandidaten identifizieren. Dahinter stünde der Versuch, Xi Jinping abzusetzen, den Mann, der seit langem von den Parteigranden ausgesucht worden war, um den scheidenden Präsidenten, Hu Jintao, zu ersetzen.
Aus gut informierten Quellen hieß es später, das Ganze sei ein Versuch des früheren Chefs der Sicherheitsdienste Zhou Yongkang gewesen, den Aufstieg von Xi Jinping zu verhindern, den er als Gegner betrachtete. Zhou Yongkang ist seitdem in Ungnade gefallen. Wenn dieser Plot tatsächlich stattgefunden hat, dann hat Xi die Attacke gut überstanden. Er häuft immer mehr Macht an, mithilfe einer „Anti-Korruptions-Kampagne“, die landauf, landab Politiker aus ihren Ämtern hebt. Gleichzeitig werden Dutzende von Aktivisten neu inhaftiert, die Meinungsfreiheit wird angegriffen, Rechtsanwälte werden gefoltert und ihnen medizinische Betreuung verweigert.
Seit einem Jahr ist Xi an der Spitze, und die beherrschende Frage ist: Was hat er vor mit seiner Macht? Was plant er? Und in Verbindung damit – wer ist er eigentlich? Was denkt dieser Mann, der 1,35 Milliarden Menschen regiert und der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorsteht? Auf Chinesisch spricht man seinen Namen „Sie“ aus, und so verzeihen Sie mir das Wortspiel: „Wer sind Sie, Herr Sie?“
Noch einmal zurück zu diesem heißen Tag Anfang Juni 2012. Ich traf mich damals mit einer Quelle aus einer Forschungsakademie in Peking, ein Experte zu Deng Xiaoping, dem anderen mächtigen Führer, der 1997 starb. Meine Quelle sprach voller Bewunderung über Xi: Dieser Mann sei ein Denker, ja regelrecht ein Intellektueller.
Das war wirklich das letzte, was ich erwartet hatte. Politik ist in China, wie überall, eine wenig kontemplative Beschäftigung.
Aber meine Quelle insistierte: „Xi steht auf Qualität. Er liest Bücher. Das ist sehr wichtig. Denn wenn man Bücher liest, ist man in der Lage, auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Und man kann Dinge machen, die jemand, der nur Dokumente liest, nicht machen kann.“
Diese letzte Bemerkung verstand ich als einen Seitenhieb auf Hu Jintao, den Vorgänger Xi’s, der nur Dokumente las. Die zehn Jahre unter seiner Führung gelten heute als „zehn verlorene Jahre“, in denen die Korruption fast ungehindert blühte. In denen der Strukturwandel, den die Wirtschaft gebraucht hätte, ausblieb. In denen Zhou, der Geheimdienst- und Sicherheitschef, beängstigend viel Macht ansammelte. (Zhou wurde im Dezember von Xi in Haft gesetzt. Die Parteispitze hat noch zu beschließen, welche der Anschuldigungen gegen ihn öffentlich ausgetragen werden sollen. Machtmissbrauch, Korruption und sogar ein versuchter Putsch stehen als Vorwürfe im Raum. Am Ende wird wahrscheinlich nur die Korruption öffentlich gemacht, und auch nicht in ihrem gesamten Umfang, denn sonst könnten unbequeme Fragen aufkommen, warum ein solcher Mann in solche Positionen gelangen konnte.)
Wenn ich die wilderen Gerüchte abziehe und mich nur an die Informationen halte, die ich von Leuten habe, die Xi persönlich oder durch verlässliche Quellen kennen, dann entsteht das Bild eines cleveren, charismatischen Mannes, der moralisch sein will und die Korruption hasst, obwohl auch seine Familie reich geworden ist. Als Sohn eines der Anführer der Revolution, Xi Zhongxun, der als liberal galt, wird er von den einfachen Leuten in China geschätzt, die nach wie vor stolz sind auf „ihre“ Revolution 1949. Viele glauben, dass ihm ehrlich an den Interessen der Arbeiterklasse gelegen ist, und er nicht nur die Interessen der zynischen Wohlhabenden vertritt. „Er ist für das einfache Volk“, sagte mir eine chinesische Freundin. „Wir mögen ihn. Er ist ziemlich traditionell, beeinflusst von seinem Vater und den ursprünglichen Revolutionären. Ein bisschen anders als die anderen.“
Gleichzeitig ist dieser Mann zutiefst loyal, wenn es um die Partei geht. Ein belesener, reformorientierter, altmodischer, parteitreuer Kommunist – darauf passt keins der gängigen Labels.
Wahrscheinlich haben wir es mit einem ganz neuen Politikertypus zu tun. Ein Politikertypus, der noch für Überraschungen sorgen könnte, allerdings nicht, und das ist wichtig, in der Art Michael Gorbatschows, der den Sturz der Partei zuließ, für die sein Vater gekämpft hatte.
Eine gewisse Orientierung könnten die Schriften bieten, die Xi selbst verfasst hat. 2001 schrieb er einen Aufsatz über Ludwig Feuerbach, der mit der These schloss, dass dessen materialistische, humanistische Philosophie für Chinas Zukunft perfekt geeignet sei. Von 2002 an, als er Parteiführer der reichen Provinz Zhejiang wurde, hatte er bis 2007 eine Kolumne in der Parteizeitung Zheijangs. Die Texte waren kurz – meistens circa 300 Schriftzeichen, das entspricht etwa 500 Wörtern auf deutsch. Und ebenso wie Barack Obamas „Dreams from my Father“ diesen den Amerikanern vorstellte, so stellte Xi’s Kolumne dessen Gedankenwelt den Chinesen vor. 2007 sammelte und veröffentlichte er die 232 Texte in einem Buch. Auf dem Titelbild sieht man Wasser, das an eine Küste schwappt, das hat etwas Frisches, etwas Romantisches fast.
Viele Themen und Forderungen seiner Präsidentschaft finden sich hier schon: Achte darauf, was das Volk denkt. Sei moralisch und aufrecht. Spucke nicht nur Theorie aus, sondern kremple die Ärmel hoch und gehe in die Praxis. Tue Gutes. Arbeite wirklich hart. Korruption ist das größte Übel. Manches davon mag zur Parteiideologie gehören. Aber es sind keine Phrasen, es hat eine neue Resonanz, Ernsthaftigkeit und zeigt Konsequenzen. Die gegenwärtige Anti-Korruptions-Kampagne lässt die Parteioffiziellen und hohen Geschäftsleute im ganzen Land zittern.
Xi mag Zitate, von Konfuzius und Menzius. In seiner letzten Kolumne führt er den früheren Staatspräsidenten Liu Shaoqi an, der in der Kulturrevolution zu Tode gehetzt wurde. Man muss wissen, dass Xi heute eine wichtige Stütze in Liu Shaoqi’s Sohn hat, General Liu Yuan. Liu ist ein mächtiges Mitglied der Volksbefreiungsarmee und mit Xi seit Kindertagen befreundet. Am Anfang steht Konfuzius: „Ein Ehrenmann bewahrt in seinem Privatleben untadeliges Benehmen“. Ein Parteimitglied umso mehr. Dann wird „Genosse Liu Shaoqi“ zitiert: „Nur wenn ein Genosse ohne Überwachung arbeitet und dabei die schlechten Dinge unterlässt, die er tun könnte, ist er wertvoll.“
Wir wissen noch nicht, was Xi seinem Land und der Welt bringen wird. Aber sein Buch vermittelt uns einen Eindruck: Das ist ein Mann, der der traditionellen Moral verhaftet ist, der die Macht der Partei erhalten und China ändern will – zum Besseren. Ein stolzer Mann, ein Hybrid, und eine Herausforderung für uns alle.
(Übertragung aus dem Englischen: Marion Detjen)