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Wer sind Sie, Herr Xi?

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Parteitreuer Kommunist, kenntnisreich und ein Reformer: der chinesische Präsident Xi Jinping gibt nach mehr als einem Jahr an der Macht auch dem eigenen Lande immer noch Rätsel auf. Aber er ist populär. Ein Feuerbach-Fan und Anhänger traditioneller chinesischer Werte, der „Bücher, nicht nur Dokumente“ liest und sein Wirtschaftswunderland in die Zukunft führen will.

© dpa Picture-AllianceXi Jinping, Fussball- und Literaturliebhaber, zu Besuch in Irland im Februar 2012, kurz vor seinem Aufstieg zur Spitze der Macht

An einem heißen Tag im Frühsommer 2012 waberte ein Gerücht durch Peking: Im Herbst stand der Machtwechsel an der Partei- und Staatsspitze bevor, und eine Wahl im Zentralkomitee der chinesischen KP sollte – so das Gerücht – einen „populären“ Kandidaten identifizieren. Dahinter stünde der Versuch, Xi Jinping abzusetzen, den Mann, der seit langem von den Parteigranden ausgesucht worden war, um den scheidenden Präsidenten, Hu Jintao, zu ersetzen.

Aus gut informierten Quellen hieß es später, das Ganze sei ein Versuch des früheren Chefs der Sicherheitsdienste Zhou Yongkang gewesen, den Aufstieg von Xi Jinping zu verhindern, den er als Gegner betrachtete. Zhou Yongkang ist seitdem in Ungnade gefallen. Wenn dieser Plot tatsächlich stattgefunden hat, dann hat Xi die Attacke gut überstanden. Er häuft immer mehr Macht an, mithilfe einer „Anti-Korruptions-Kampagne“, die landauf, landab Politiker aus ihren Ämtern hebt. Gleichzeitig werden Dutzende von Aktivisten neu inhaftiert, die Meinungsfreiheit wird angegriffen, Rechtsanwälte werden gefoltert und ihnen medizinische Betreuung verweigert.

Seit einem Jahr ist Xi an der Spitze, und die beherrschende Frage ist: Was hat er vor mit seiner Macht? Was plant er? Und in Verbindung damit – wer ist er eigentlich? Was denkt dieser Mann, der 1,35 Milliarden Menschen regiert und der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorsteht? Auf Chinesisch spricht man seinen Namen „Sie“ aus, und so verzeihen Sie mir das Wortspiel: „Wer sind Sie, Herr Sie?“

Noch einmal zurück zu diesem heißen Tag Anfang Juni 2012. Ich traf mich damals mit einer Quelle aus einer Forschungsakademie in Peking, ein Experte zu Deng Xiaoping, dem anderen mächtigen Führer, der 1997 starb. Meine Quelle sprach voller Bewunderung über Xi: Dieser Mann sei ein Denker, ja regelrecht ein Intellektueller.

Das war wirklich das letzte, was ich erwartet hatte. Politik ist in China, wie überall, eine wenig kontemplative Beschäftigung.

Aber meine Quelle insistierte: „Xi steht auf Qualität. Er liest Bücher. Das ist sehr wichtig. Denn wenn man Bücher liest, ist man in der Lage, auch komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Und man kann Dinge machen, die jemand, der nur Dokumente liest, nicht machen kann.“

Diese letzte Bemerkung verstand ich als einen Seitenhieb auf Hu Jintao, den Vorgänger Xi’s, der nur Dokumente las. Die zehn Jahre unter seiner Führung gelten heute als „zehn verlorene Jahre“, in denen die Korruption fast ungehindert blühte. In denen der Strukturwandel, den die Wirtschaft gebraucht hätte, ausblieb. In denen Zhou, der Geheimdienst- und Sicherheitschef, beängstigend viel Macht ansammelte. (Zhou wurde im Dezember von Xi in Haft gesetzt. Die Parteispitze hat noch zu beschließen, welche der Anschuldigungen gegen ihn öffentlich ausgetragen werden sollen. Machtmissbrauch, Korruption und sogar ein versuchter Putsch stehen als Vorwürfe im Raum. Am Ende wird wahrscheinlich nur die Korruption öffentlich gemacht, und auch nicht in ihrem gesamten Umfang, denn sonst könnten unbequeme Fragen aufkommen, warum ein solcher Mann in solche Positionen gelangen konnte.)

Wenn ich die wilderen Gerüchte abziehe und mich nur an die Informationen halte, die ich von Leuten habe, die Xi persönlich oder durch verlässliche Quellen kennen, dann entsteht das Bild eines cleveren, charismatischen Mannes, der moralisch sein will und die Korruption hasst, obwohl auch seine Familie reich geworden ist. Als Sohn eines der Anführer der Revolution, Xi Zhongxun, der als liberal galt, wird er von den einfachen Leuten in China geschätzt, die nach wie vor stolz sind auf „ihre“ Revolution 1949. Viele glauben, dass ihm ehrlich an den Interessen der Arbeiterklasse gelegen ist, und er nicht nur die Interessen der zynischen Wohlhabenden vertritt. „Er ist für das einfache Volk“, sagte mir eine chinesische Freundin. „Wir mögen ihn. Er ist ziemlich traditionell, beeinflusst von seinem Vater und den ursprünglichen Revolutionären. Ein bisschen anders als die anderen.“

Gleichzeitig ist dieser Mann zutiefst loyal, wenn es um die Partei geht. Ein belesener, reformorientierter, altmodischer, parteitreuer Kommunist – darauf passt keins der gängigen Labels.

Wahrscheinlich haben wir es mit einem ganz neuen Politikertypus zu tun. Ein Politikertypus, der noch für Überraschungen sorgen könnte, allerdings nicht, und das ist wichtig, in der Art Michael Gorbatschows, der den Sturz der Partei zuließ, für die sein Vater gekämpft hatte.

Eine gewisse Orientierung könnten die Schriften bieten, die Xi selbst verfasst hat. 2001 schrieb er einen Aufsatz über Ludwig Feuerbach, der mit der These schloss, dass dessen materialistische, humanistische Philosophie für Chinas Zukunft perfekt geeignet sei. Von 2002 an, als er Parteiführer der reichen Provinz Zhejiang wurde, hatte er bis 2007 eine Kolumne in der Parteizeitung Zheijangs. Die Texte waren kurz – meistens circa 300 Schriftzeichen, das entspricht etwa 500 Wörtern auf deutsch. Und ebenso wie Barack Obamas „Dreams from my Father“ diesen den Amerikanern vorstellte, so stellte Xi’s Kolumne dessen Gedankenwelt den Chinesen vor. 2007 sammelte und veröffentlichte er die 232 Texte in einem Buch. Auf dem Titelbild sieht man Wasser, das an eine Küste schwappt, das hat etwas Frisches, etwas Romantisches fast.

Viele Themen und Forderungen seiner Präsidentschaft finden sich hier schon: Achte darauf, was das Volk denkt. Sei moralisch und aufrecht. Spucke nicht nur Theorie aus, sondern kremple die Ärmel hoch und gehe in die Praxis. Tue Gutes. Arbeite wirklich hart. Korruption ist das größte Übel. Manches davon mag zur Parteiideologie gehören. Aber es sind keine Phrasen, es hat eine neue Resonanz, Ernsthaftigkeit und zeigt Konsequenzen. Die gegenwärtige Anti-Korruptions-Kampagne lässt die Parteioffiziellen und hohen Geschäftsleute im ganzen Land zittern.

Xi mag Zitate, von Konfuzius und Menzius. In seiner letzten Kolumne führt er den früheren Staatspräsidenten Liu Shaoqi an, der in der Kulturrevolution zu Tode gehetzt wurde. Man muss wissen, dass Xi heute eine wichtige Stütze in Liu Shaoqi’s Sohn hat, General Liu Yuan. Liu ist ein mächtiges Mitglied der Volksbefreiungsarmee und mit Xi seit Kindertagen befreundet. Am Anfang steht Konfuzius: „Ein Ehrenmann bewahrt in seinem Privatleben untadeliges Benehmen“. Ein Parteimitglied umso mehr. Dann wird „Genosse Liu Shaoqi“ zitiert: „Nur wenn ein Genosse ohne Überwachung arbeitet und dabei die schlechten Dinge unterlässt, die er tun könnte, ist er wertvoll.“

Wir wissen noch nicht, was Xi seinem Land und der Welt bringen wird. Aber sein Buch vermittelt uns einen Eindruck: Das ist ein Mann, der der traditionellen Moral verhaftet ist, der die Macht der Partei erhalten und China ändern will – zum Besseren. Ein stolzer Mann, ein Hybrid, und eine Herausforderung für uns alle.

(Übertragung aus dem Englischen: Marion Detjen)


2 Lesermeinungen

  1. marcklinger sagt:

    Das ist nun aber wirklich so schlecht, dass nicht einmal das Gegenteil gut waere...
    >Auf Chinesisch spricht man seinen Namen „Sie“ aus, und so verzeihen Sie mir das
    >Wortspiel: „Wer sind Sie, Herr Sie?“

    Abgesehen davon, dass ich mich frage, wie dieser missglueckte Versuch eines Wortspiels im englischen Originalartikel funktionieren konnte (vielleicht ist der Artikel ja noch aus der Zeit von Herrn Hu (“Hu are you?”)…

    … die mysterioesen “Quellen” scheinen keine Muttersprachler zu sein.

    Aber jetzt:

    >… das Bild eines cleveren, charismatischen Mannes, der moralisch sein will und
    >die Korruption hasst, obwohl auch seine Familie reich geworden ist…

    Ich vermute, das impliziert, dass Herr Xi der einzige Politiker in ganz China ist, der mit ehrlichen, legalen Geschaeften und stets und jederzeit moralisch anstaendigem und ehrenwertem Verhalten mehrere hundert Millionen Dollar ansammeln konnte, dass die auf seine Verwandten verteilten Firmengeflechte transparent sind und alles -zB im Hinblick auf Geschaefte mit den Regierungen, Steuern,…- seine Richtigkeit hat und dass seine nahen und fernen Verwandten und “guten Freunde”, die in hohen Positionen stehen, alle einfach so brilliant sind, dass sie aufgrund herausragender Kenntnisse, Faehigkeiten und Verdienste sind, wo sie sind. Kann ja durchaus so sein…

    Das:

    >Das ist ein Mann, der der traditionellen Moral verhaftet ist

    … passt auch hervorragend hierzu:

    >Dutzende von Aktivisten neu inhaftiert, die Meinungsfreiheit wird angegriffen,
    >Rechtsanwälte werden gefoltert und ihnen medizinische Betreuung verweigert.

    Ich vermute, das verstehen Menschen wie Frau Tatlow unter moralisch anstaendigem Verhalten. Glueckwunsch, Frau Tatlow, Ihr moralischer Kompass qualifiziert Sie dazu, es in China noch weit zu bringen.

    Natuerlich kann man das so sehen. Muss man aber nicht.

    >Ein belesener, reformorientierter, altmodischer, parteitreuer Kommunist

    Auch da hat die Quelle versagt. Herr Xi bringt ein ausgepraegtes “back to the roots”-Klima mit, zurueck zu “wahren Werten des Kommunismus chinesischer Praegung” und weg vom Trend zum sich immer weiter fortfressenden Turbokapitalismus (von dem man ja heutzutage immer redet, wenn man “reformorientiert” meint).

    Das ist auch irgendwie durchaus ernst gemeint.

    Das Problem ist dort, wie stets, wie im Uebrigen aber auch hierzulande, dass “die Anderen” ™ immer die Boesen sind und diejenigen, die Opfer bringen muessen. Nie man selbst und seine eigene Fraktion.

    Im Ergebnis sieht es dann so aus, dass “zurueck zu den kommunistischen Wurzeln und zur chinesischen Identitaet” die einfachen Menschen darauf einstimmen soll, dass sie in Zukunft halt wieder ein bisschen “weniger” haben, weil das ja gut sei fuer “das grosse Ganze”. Das aendert natuerlich nichts an den hunderten Millionen $, die Spitzenpolitiker im Ausland deponiert haben. Das ist so wie wenn der, der 10.000.000 hat, dem, der 1.000 hat, sagt, dass “halt jeder ein Opfer bringen und 800 abgeben muss”.

    Dasselbe Phaenomen ist bei den Antikorruptionskampagnen zu verzeichnen:

    >Die gegenwärtige Anti-Korruptions-Kampagne lässt die Parteioffiziellen
    >und hohen Geschäftsleute im ganzen Land zittern.

    Realistischerweise hat -wenn ich fuer einen Moment westliche Massstaebe ansetzen darf- JEDER “Superreiche” dort Dreck am Stecken. Gezielt abgeschossen werden jetzt diejenigen, die zur falschen innerparteilichen Fraktion gehoeren, sich irgendwann einmal mit den falschen Leuten angelegt haben, etc., und die Ersatzspieler haben auch keine weisse Weste, sie gehoeren einfach zur richtigen Fraktion.

    • didikirstentatlow sagt:

      Titel eingeben
      Your comment displays a weak grasp about the necessity of understanding the challenge China and the world face in the global geopolitical shift underway, and how to best do that, as well as a poor grasp of the profundity and complications in China after 65 years of CP rule. Are you seriously suggesting that one should not try to understand a man like Xi Jinping, already today one of the most important people in the world and about to become more important? Of course many qualities are self-defined. That’s how psychology works. Throwing mud is easy. Figuring out what’s in it is harder.

      I would like also to point out that your ad hominen attack is offensive and, as all ad hominen attacks, unacceptable. “Ich vermute, das verstehen Menschen wie Frau Tatlow unter moralisch anstaendigem Verhalten. Glueckwunsch, Frau Tatlow, Ihr moralischer Kompass qualifiziert Sie dazu, es in China noch weit zu bringen.” Ad hominem attacks betray the weakness of a person’s argument, so I’d recommend in the future you stay away from them if you want to be taken seriously as a commenter.

      To deal with your points, one by one, inasmuch as they were coherently presented:
      1. The article was only intended to be written in German, so the Xi/Sie pun did not have to function in English, as indeed it does not. You can stop worrying.
      2. Your statement that the sources are not Chinese mother tongue speakers is really odd. Evidence? The one source who was not a Chinese native speaker was clearly defined as such. End of that point.
      3. Your sarcasm about his family’s wealth doesn’t make much of a point here. Everyone in China is caught up in the money game, including politicians who have frightening power to parlay power into cash. But the middle class and the rising poor are just as involved in the process of wealth acquisition, and hardly anyone in China has clean hands, even though there are many who would like to. A rising tide lifts many boats, and as the saying goes, behind every great fortune lies a great crime. Note also that no-one, not even Bloomberg, has accused Xi of personal corruption. In a sense he doesn’t need to be corrupt. He has a sense of entitlement – the country belongs to him – and is living in an iron rice bowl.
      4. Naturally there is a contradiction between a man who likes to laud moral values and whose country operates very repressive human rights policies. It’s part of the incredible complexity of the situation, and one that I have written about, critically, in many, many other articles. You should read more widely. However I would note here that Xi has inherited an out-of-control security state, which is not to say he can, or will, change it. And I would also note that there are very many people who will make the cultural argument, which I do not personally agree with but which I recognize is very powerful, that there is a historically different notion of rights in China, rooted in the power of the patriarchal state which equates the father and the son with the ruler and the ruled, whereby the ruler has the “right” to be violent with the ruled in the same way that corporal punishment is still common in Chinese families, even in schools. This is thousands of years old and won’t change quickly, though there are many, many brave men and women who are fighting it every day. I have written extensively about one such woman, Cao Shunli, who was killed for her struggle. Again — read more.
      5. What sources “failed”? (”versagt”?) This point seems to me very unclearly expressed. A new man, with possibly unprecedented power, and some ideas that are different, comes into an old/new country with an extremely rigid, new/old political system. Examining who he is, is the point, not throwing moralistic mud about. I have lived in China for over 30 years and can tell you that Xi Jinping is – potentially – different in some ways. Whether or not he can make things different is another question. That he wants to reform the economy is for sure. This alone contrasts interestingly to his predecessors.
      6. Again, if you knew China better, you would know that there is great nervousness among officials about the anti-corruption campaign. Of course it’s a political tool, and this is one of its key functions – a topic I have written about elsewhere but which wasn’t the point of this column. But when the state starts getting rid of corruption in schools, as it is now doing, you know it’s not just politics. It’s also about pacifying the public, assuaging anger that could topple the state, and Xi knows it. Your final point oversimplifies the process underway here.

      Overall, I’d say, try to understand the value of understanding how people understand themselves. It’s immensely useful for understanding one’s own life, other people’s, and even inter-state relations. And, remember that a courteous comment, and commenter, will always receive more respect than a discourteous one.

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