
Annett Gröschner: 1910 sprach Karl Scheffler davon, dass es nicht Liebe sei, was Berlin von seinen Bewohnern wolle. Und dass “die Tragik seines Schicksals” Berlin dazu verdamme, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Obwohl er schon hundert Jahre alt ist, klebt dieser Satz an Berlin wie Zuckerrübensirup. Und wie jedes Klischee ist es nicht ganz falsch. Nicht nur langjährige Berliner lieben ihre Stadt, gerade weil sie nicht fertig ist und ihnen deshalb Platz zum Atmen lässt.
Michelle Howard: Der Reiz von Berlin ist, dass die Stadt noch Potential hat. Architektur ist ja nur eine Umhüllung der Leere. Und ohne diese Leere ist Architektur nichts. Hier könnte noch vieles passieren. Andere Städte sind längst an einem Punkt, wo man abreißen muss, damit Neues entstehen kann. London zum Beispiel, eine der ältesten Städte Europas. Sie zerstören dort etwas Mittelalterliches und bauen etwas völlig Neues auf, das aber nicht unbedingt einen Bezug zu der vorhandenen Stadt und ihren Bewohnern hat. In Berlin ist das anders. Da wollen sie in der östlichen Innenstadt ein Berlin wiederherstellen, das nicht älter als 160 Jahre ist, in einer strengen Blockstruktur, die sich überlebt hat, anstatt die weiten Räume als Potential zu erkennen.
Annett Gröschner: Du hast ja in vielen Städten gelebt und gearbeitet, in Paris, London, New York, aber auch in Portugal und in der Mongolei, du lehrst in Wien und bist in Irland aufgewachsen, wie war das für dich, als du in Berlin ankamst?
Michelle Howard: Als ich 1997 nach Berlin kam, war mir diese Art des Raumes und der Umgang mit ihm fremd. Ich kam aus dieser dichten Stadt Paris, wo ich zehn Jahre gelebt hatte. Ich brauchte mindestens fünf Jahre, um mich mit Berlin anzufreunden und es zu lieben. Ein wichtiger Vorteil hier ist der Dezentralismus. In Paris lebt man entweder im Zentrum oder außerhalb. Und je weiter man vom Zentrum weg ist, desto mehr weiß man, dass man außerhalb ist. Je weiter man sich in Berlin von einem Zentrum entfernt, desto näher kommt man dem nächsten. Wenn ich in der ersten Zeit mit dem Fahrrad unterwegs war, hatte ich immer mal wieder das Gefühl, im Nirgendwo gelandet zu sein. Ich bin dann einfach weitergefahren und zum nächsten belebten Ort gekommen. In Berlin bewegt man sich von Insel zu Insel. Es gibt tatsächlich diese losen Bindungen, von denen Oswald Mathias Ungers spricht, ähnlich einer Zellenstruktur. Jede dieser Zellen hat ein Potential. Und das ist auch durch die Leere entstanden. Das hat einen großen Wert, aber ich habe das nicht sofort erkannt. Wir müssen diese Leere als etwas Positives denken. Auch indem wir ein anderes Wort dafür finden.
Annett Gröschner: Man könnte Leere als Möglichkeitsraum beschreiben. Als einen Raum, in dem man etwas ausprobieren kann. Das Tempelhofer Feld könnte so ein Beispiel sein. Es gibt eine Erzählung von Jurek Becker, ich habe den Titel vergessen, in der geschildert wird, wie ein Paar eine Wohnung sucht und sich deswegen an ein Amt wendet. Jede Person hat wegen Wohnungsknappheit nur Anspruch auf ein Zimmer. Sie aber sagen, sie bräuchten neben den zwei Zimmern noch ein Probierzimmer. Dieses Probierzimmer ist der Möglichkeitsraum. Für die Bewohner Berlins könnte das Tempelhofer Feld so ein Probierzimmer sein.
Michelle Howard: Das Interessante am Tempelhofer Feld ist, dass niemand geahnt hat, wie wichtig es wird, bevor es frei begehbar wurde. Dass ein riesiges Feld ohne Gestaltung etwas sein kann, das sofort von Menschen angeeignet wird, das hat, glaube ich, vorher niemand geahnt. Bis hin zu den Lerchen, die auf den Wiesen brüten, und für die Schutzgebiete eingerichtet sind. Das geht eigentlich gegen alle unsere eingeübten Vorstellungen, wie eine Grünfläche in der Stadt auszusehen hat. Vorher hat diese Fläche die Menschen, die Anwohner rund herum, fast ein Jahrhundert voneinander getrennt.
Ähnlich war das auch bei dem für mich wichtigsten öffentlichen Berliner Projekt der letzten Jahrzehnte: dem Park am Gleisdreieck. Er verändert die Gegend zwischen Kreuzberg und Schöneberg völlig. Am Gleisdreieck fühlte man sich ein bisschen wie am Ende der Welt, weil es dort wegen der Gleisanlagen nicht mehr weiterging. Doch durch die Eröffnung dieses Parks ist plötzlich eine neue Möglichkeit der Bindung entstanden. Dieses Wort Bindung ist ganz wichtig. Die Leere bindet, sie trennt nicht.
So eigenartig es klingen mag, für Berlin waren die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs eine Möglichkeit, weil sie die Innenstadt, die ja in einem kurzen Zeitraum von 1890 bis 1910 entstanden ist, tatsächlich öffneten. Das Muster der Gründerzeit ist der geschlossene Berliner Block, der viel größer ist als in anderen europäischen Städten. Und der Krieg hat diese Black Box aufgesprengt, die Straßen bekommen durch diese Öffnungen Licht, und auch das Innenleben gerät nach außen. Hinterhof-Fassaden oder Berliner Brandmauern geraten so mit ihren ganz eigenen Qualitäten auf die Bühne der Öffentlichkeit.
Annett Gröschner: Mein Inbegriff des Nachkriegs-Berlin sind die riesigen unverputzten Brandmauern und die Sandplätze davor, auf denen oft Fußball gespielt wurde. Manchmal gab es noch ein einzelnes Fenster inmitten der Ziegelsteinflächen, das jemand in die Brandmauer geschlagen hatte, um sein Berliner Zimmer zu erhellen.
Michelle Howard: Diese großen Flächen hatten eine eigene Schönheit. Sie haben sich ja als Gestaltungsmöglichkeiten für die vielen Künstler angeboten, die hier hergekommen sind.
Annett Gröschner: Viele Maler haben ihren Lebensunterhalt mit Kunst am Bau verdient. Und nun verschwinden diese Flächen, weil in den Gründerzeitvierteln jede Lücke zugebaut wird. Meistens erfahren die Künstler erst hinterher davon.
Michelle Howard: Diesen Begriff des Lückenschließens finde ich, auch politisch, ganz schwierig, weil davon ausgegangen wird, dass eine Lücke eine Leerstelle ist, die gefüllt werden muss. Aber in Wirklichkeit ist es eine Möglichkeit.
In der dichtbesiedelten Gründerzeit-Stadt Wien gibt es die grüne Donauinsel. In den siebziger Jahren gab es heftige Diskussionen, ob sie bebaut werden soll. Die Immobilienentwickler konnten sich glücklicherweise nicht durchsetzen. Ich glaube, ein gutes Wort dafür ist Luxus. Das Tempelhofer Feld, überhaupt diese offenen Räume, bedeuten einen unglaublichen Luxus, aber einen, der nicht von Besitz, sondern von Teilhabe bestimmt ist.
Annett Gröschner: Der Architekturkritiker Wolfgang Kil hat einmal in einem anderen Zusammenhang vom Luxus der Leere gesprochen. Im Grunde genommen sagen die Berliner Sozialdemokraten ja beim Tempelhofer Feld: Luxus können wir uns nicht leisten. Dabei werden die paar hundert Wohnungen, die dort geplant sind, das Wohnungsproblem nicht lösen. Der Senat könnte zum Beispiel stattdessen erst einmal aufhören, preiswerte Wohnungen aus dem kommunalen Bestand an Heuschrecken zu verkaufen. Oder er kann die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen unterbinden. Und was Berliner Großbauten, zu denen ja auch eine Zentralbibliothek gehört, angeht, wünschen sich viele, dass die Stadt lieber die Finger davon ließe. Es gibt diese wunderbare Karikatur von OL zum Bürgerentscheid, Berliner Witz vom Feinsten. Vier Anzugträger stehen auf dem Tempelhofer Feld und einer von ihnen sagt: „Die Bürger haben sich für einen neuen Flughafen in Tempelhof entschieden. In den nächsten zwanzig Jahren passiert hier also gar nichts.“
Michelle Howard: Die Frage ist doch: Ist es Luxus für das Volk, oder ist es nur Luxus für Wohlhabende? Für mich ist öffentlicher Raum Luxus.
Annett Gröschner: So wie jedes Leben die Balance zwischen Ruhe und Bewegung benötigt, so braucht auch eine Stadt die Weite und den bebauten Raum. Du musst auch mal den Sternenhimmel sehen können, ohne gleich zwanzig Kilometer weit fahren zu müssen. In der Beziehung hat Berlin mit seinen Wäldern, Seen und Freiflächen im Stadtgebiet schon echte Qualitäten. Und noch jede Menge Platz für Wohnraum außerhalb des Tempelhofer Feldes. Man muss nur an die vielen Vorhalteflächen der Eisenbahn denken, die nicht mehr gebraucht werden, weil Berlin durch Kriege und Teilung eben nicht zu der Eisenbahn-Metropole geworden ist, als die sie Ende des 19. Jahrhunderts geplant wurde.
Michelle Howard: Ein wichtiger Punkt, wenn wir über das Tempelhofer Feld sprechen, ist der Maßstab für den offenen Raum. Wenn die Orte zu klein sind, bleibt man nicht lange. Weil man den Eindruck hat, man betritt einen Ort, der eigentlich seinen Anrainern gehört. Das ist auch ein wichtiger Punkt für das Tempelhofer Feld. Der Central Park in Manhattan beispielsweise ist nur wegen seiner Größe mitten in der Stadt so fantastisch, nicht wegen seiner Gestaltung.
Annett Gröschner: Der Central Park ist ein gutes Beispiel für Bürgerwillen, der diese riesige Fläche der Vermarktung entzogen hat. Stadt braucht die gegenseitige Toleranz. Man lebt auf ganz engem Raum zusammen. Das Gute am Tempelhofer Feld ist: Es ist so groß, dass alle sich ertragen können. Auch wenn verschiedenste Kulturen und Generationen dort aufeinandertreffen.
Man darf aber nicht vergessen, dass Stadtplaner und Architekten Angst vor der Leere haben und ihre Aufgabe darin sehen, sie zu füllen, am liebsten mit etwas, das die nächsten Jahrhunderte überdauert, ein Denkmal der eigenen Größe. In den meisten Fällen sind das keine öffentlichen Gebäude, die da entstehen, sondern es ist eine Reprivatisierung des Raumes. Das heißt dann, du musst, wenn du da rein willst, einen Kaffee, Souvenirs, Strümpfe erwerben oder mindestens so tun, als wolltest du es.
Michelle Howard: Du erwirbst ein Aufenthaltsrecht für einen Ort, der dir nicht gehört. In einem Park ist das glücklicherweise nicht so.
Annett Gröschner: Mich ärgern diese Erobererhaltungen, die dem von dir beschriebenen Potential Berlins als offene Stadt widersprechen. Zum einen diese provinzielle Haltung, die von jenen verkörpert wird, die meinen, Berlins Innenstadt soll so gemütlich und sozial homogen sein wie die Vorstädte, aus denen sie gekommen sind. Und zum anderen gibt es diejenigen, die Berlin so haben wollen wie London, Paris oder New York, als wäre eine Stadt nur Metropole, wenn sie teuer, dicht und sozial entmischt ist.
Michelle Howard: Dabei könnten genau diese Städte von Berlin Lebensqualität lernen. Sie könnten lernen, dass es wichtig wäre, nicht immer von alten Ideen auszugehen, sondern sich den Möglichkeiten einer Stadt der Zukunft zu öffnen.