Ich. Heute. 10 vor 8.

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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Mit Bikini in die Wahlkabine

Im krisengeplagten Griechenland macht die Demokratie – jahrzehntelang von zwei Parteien beherrscht – einen krassen Wandel durch: neben alten Parteien und alteingessessen Familien treten neue Bündnisse, Oligarchen, Faschisten und sogar meine Mutter zur Wahl an. Grund genug für einen Besuch auf meiner Heimatinsel.

© PrivatLange war Skiathos nur ein fernes Urlaubsziel. Diesmal jedoch reiste ich zum Wählen her.

Als in Deutschland lebende Griechin beschränkte sich meine demokratische Teilhabe über Jahre auf die Bezirksebene deutscher Stadtviertel. Seit der Krise in Griechenland jedoch ist mir meine Stimme bereits das Geld mehrerer Flugtickets wert gewesen: Denn bei den Wahlgängen seit 2012 steht auf dem Spiel, ob die neue linke Partei SYRIZA den Regierungsblock aus Konservativen und Sozialdemokraten schlägt, um eine Neuverhandlung des Schuldenvertrags mit sozialen Kriterien umzusetzen. Das würde die Stabilität der Finanzmärkte kosten und gilt deswegen für deutsche Politiker und Medien als große Gefahr. SYRIZA steht für die einzige große Wahlalternative zu den neoliberalen Krisenlösungen der Troika, verspricht die Beendigung ihres drastischen Sparkurses und einen sozialen Umbau der Gesellschaft.

Um also an den diesjährigen griechischen Kommunal- und Europawahlen teilzunehmen, war ich auf meine Herkunftsinsel gereist: Skiathos. Die Insel zählt 4000 Einwohner und ist ein wegen ihrer Strandpracht beliebtes Touristenziel. Dass ich meine demokratische Pflicht mit einem Sprung ins strahlendblaue Mittelmeer verbinden konnte, erhöhte auch meine Motivation. Und hier erlebte ich hautnah, was die Wahlen für die Menschen in der griechischen Provinz bedeuten – vor allem, weil meine eigene Mutter kandidierte!

Anfangs dachte ich, die Kandidatur meiner Mutter sei etwas Besonderes. Aber bald nach meiner Ankunft erfuhr ich, dass sich bei diesen Kommunalwahlen jeder 28te Grieche bzw. Griechin zur Wahl gestellt hatte. Das ist so amüsant wie symptomatisch: Seit 2011 befindet sich das Land im kontinuierlichen politischen Umbruch. Das Vertrauen in die Berufspolitiker schwindet mehr und mehr. Ein neuer Ethos entfaltet sich: Die Bürger sehen sich gezwungen, selbst aktiv zu werden. Es entstehen neue Bürgerinitiativen, Wahlzusammenschlüsse und neue Parteien.

Meine Mutter kandidierte bei den Kommunalwahlen für einen solchen Bürgerzusammenschluß. Diese Bürger sind gegen die Pläne der Troika, den kleinen Hafen unserer Insel an ausländische Investoren zu verkaufen, für den Einsatz von Recyclingmethoden bei der Müllentsorgung, gegen die Privatisierung des Wassers und für eine Tourismuskultur jenseits der Wegwerfmentalität des schnellen Geldes.

Die Initiative schaffte es auf den dritten Platz: Ein positives Zeichen für die politische Öffnung der Gesellschaft, die der Erfahrung des gesellschaftlichen Zusammenbruchs mit dem Willen nach neuem Aufbruch begegnet. Allerdings hatten sich für die nachfolgende Stichwahl zwischen den ersten zwei Gewinnern Kandidaten durchgesetzt, die für Entwicklungen stehen, die man eher prä- und postdemokratisch nennen muss.

Landesweit – und eben auch auf Skiathos – wurden bei den Kommunalwahlen vor allem jene lokale (männliche) Persönlichkeiten gewählt, die seit eh und je in Machtpositionen sitzen. Gewählt wurden die Pater Familias, was charakteristisch für eine politische Kultur ist, die aus einer Zeit stammt, in der Vetternwirtschaft und Großfamilien für die Gemeinde sorgten und den fehlenden Sozialstaat ersetzten.

Skiathos liefert hierfür ein plastisches Beispiel: Der eine Kandidat, der sich für die Stichwahl qualifizierte, ist der Arzt des Dorfes. Seine Familie stellt schon seit drei Generationen die konservativen Bürgermeister. Das wäre etwa die prädemokratische Variante. Sein postdemokratischer Rivale hatte große Hoteliers, korrupte Staatsangestellte und Figuren des Nachtlebens um sich versammelt – er ist der Mann der lokalen Oligarchen. Das Dorf entschied sich schließlich aus Angst vor mächtigen Drahtziehern für den Dorfarzt.

Kandidaten dieser Couleur siegten auch in den Hafenstädten Volos und in Piräus, wo sich der Besitzer eines der größten Fußballteams Griechenlands mit Hilfe von Schlägertrupps und Mitgliedern der faschistischen Goldenen Morgenröte durchsetzte. Denn politischer Umbruch heißt leider auch, dass unzufriedene Wähler nach Vertretern der steigenden Berlusconisierung griechischer Politik greifen.

Eine Insel ist ein eigener Kosmos: Dörfliche Strukturen und rundherum das Meer. Kein Wunder, dass hier auch heute noch konservative Pater Familias das Sagen haben.

Stimmzettel zählen neben einem Nazi

Vielleicht war es mein Frust über die Bedeutungslosigkeit meiner extra angereisten Stimme, der mich dazu bewegte, mich an dem darauffolgenden Wochenende der Europawahl stärker in das Wahlprozedere einbinden zu lassen.

Am Tag der Europawahl, auf dem Schulhof der Grundschule, in der das Wahllokal war, traf ich Antonis, einen alten Mitschüler und arbeitslosen Toningineur aus Athen, der seit einiger Zeit wieder auf der Insel wohnt, um zu kellnern. Er ist überzeugt, dass die diesjährige Europawahl eine Signalwirkung hat. Im Falle eines Wahlsieges der SYRIZA muss die griechische Ökonomie auf einen sozialen Kurs hin neu organisiert werden, hofft er. Meine Bekannte Eleni, 50 Jahre alt, erklärte mir, dass dies die ersten Europawahlen seien, die sie ernst nimmt: “In den letzten Jahren der Krise haben wir festgestellt, dass unsere Politik nicht mehr in Griechenland, sondern in Brüssel entschieden wird – da wir nun von dort aus regiert werden, ist es wichtig, dass wir an dieser Wahl teilnehmen.”

Der Ernst der Lage hatte mich nicht davon abgehalten vor der Wahl den Strand zu besuchen, und ich bemerkte amüsiert, dass ich nicht die einzige war, die an jenem Sonntag das heilige demokratische Ritual in der Wahlkabine mit Flip-Flops und Biniki beschritt. Meine Montur schreckte die Organisatoren allerdings nicht davon ab, mich zu fragen, ob ich nicht spontan Wahlhelferin werden möchte, es fehlten noch Leute. So setzte ich mich, noch mit Meersalz auf der Haut, zum Stimmenauszählen.

Der Wahlsonntag eignet sich für einen Kurzbesuch auf die Herkunftsinsel. Manch einer begeht die Wahlkabine mit Badezeug und Flip Flops.

Zu meinem Schrecken gesellte sich auch ein Mitglied der Goldenen Morgenröte zu uns. Ein Enddreißiger mit schwarzem T-Shirt, der keine Zähne mehr hatte und sichtlich nicht zu den Priviligierten des Dorfes gehörte. Ein Schauder packte mich: bei dem Gedanken neben einem Nazi zu sitzen sowie beim Anblick der vielen Stimmzettel seiner Partei, die ich eigenhändig mehrmals auszählen musste.

Seine Partei wurde – wie in ganz Griechenland –  drittstärkste Kraft. SYRIZA wurde auf der Insel zweite Kraft. Kaum zu glauben auf Skiathos, das traditionell eine Hochburg der konservativen Nea Dimokratia ist. Als später in der milden Sommernacht am Hafen die Ergebnisse kommentiert wurden, war zu spüren, dass ein Politikwechsel in Griechenland und Europa für überfällig gehalten wird und zwar von allen. Was das heißt, ist allerdings durchaus widersprüchlich: Gewählt wurden post- und prädemokratische Gebilde, die Faschisten der Goldenen Morgenröte, aber auch SYRIZA, die vor dem Hintergund des Zusammenbruchs der Sozialdemokratie die linksprogressiven Kräfte des Landes in sich vereint.

Auch europaweit lassen sich solche Tendenzen erkennen, nicht zuletzt zeigen das die Wahlerfolge der extremen Rechten in vielen europäischen Ländern. Petros, der Restaurantbesitzer, bei dem wir unser letztes Bier trinken, wird wütend: “Das ist das letzte Warnsignal. Es ist Zeit, dass die Regierenden von Europa verstehen, dass ihr Kurs momentan nur Elend und damit den Nährboden für Hass befördert.”