
Mangelnde Courage kann man Natalie Nougayrède nicht vorwerfen. Als Kriegsreporterin war sie monatelang in Tschetschenien unterwegs gewesen – für ihre damalige Berichterstattung hat sie die wichtigsten französischen Medienpreise erhalten. Schon Anfang der neunziger Jahre hatte sie die Krisengebiete der zerfallenden Sowjetunion bereist und so den georgisch-südossetischen Krieg erlebt, später auch die terroristische Geiselnahme in der Schule von Beslan. Unter ihren Kollegen bei Le Monde war sie anerkannt: Im Februar 2013 wurde sie mit immerhin 80 Prozent ihrer Stimmen zur ersten Chefredakteurin der bedeutendsten französischen Tageszeitung gewählt. Für das Kampfgebiet, in das sie daraufhin geriet, war diese unzimperliche Frau allerdings nicht gewappnet: Am 14. Mai hat sie nach nur 14 Monaten aufgegeben. Nougayrède war angetreten, um hervorragenden Journalismus zu machen, klar, aber auch, um ein defizitäres Printmedium in eine stabilere Zukunft zu führen – eine Zukunft, die natürlich auch eine digitale sein würde. Da hatte sie die Rechnung offenbar ohne einige der mächtigen Ressortleiter gemacht, die ihre Tätigkeit als Print-Journalisten und die damit verknüpfte Jobbeschreibung nicht grundlegend hinterfragen wollten. Es kam zu massiven „Problemen bei der Personalführung“. Nougayrède schmiss hin.
Jill Abramson hingegen weigerte sich, freiwillig das Handtuch zu werfen. Sicher ein Zufall, aber doch eine symbolische Fügung: An demselben Tag, an dem Natalie Nougayrède in Paris ihren Rücktritt erklärte, wurde Abramson von Arthur Ochs Sulzberger Jr., dem Verleger der New York Times, entlassen. Seiner Aufforderung, von sich aus ihren Abschied zu nehmen, war sie nicht nachgekommen. In den drei Jahren ihrer Tätigkeit als erste Frau an der Spitze des legendären NYT-Newsroom hatte sie der Zeitung acht Pulitzerpreise gesichert. Sie selbst war mehrfach für ihre journalistische Arbeit ausgezeichnet worden – auf dem Papier und im Netz. Ihre Mission, als sie im September 2011 antrat: hervorragenden Journalismus zu garantieren, klar, zugleich aber auch den dringend anstehenden Wandel durchzusetzen, der der vielleicht mächtigsten Zeitung der Welt auch im digitalen Zeitalter eine Zukunft sichern sollte. Es kam zu „management issues“ – Redaktionsmitglieder hatten sich über ihren „Führungsstil“ beschwert. Sie wurde rausgeschmissen.
War das Problem etwa „der schmale Spielraum weiblichen Verhaltens“, wie es die Überschrift eines an sich klugen Kommentars zu den überraschenden Ereignissen in New York und Paris am 14. Mai suggerierte. In der Flut von Kommentaren war das Thema schnell festgezurrt: zwei Frauen und ihr schwieriges „Temperament“ bzw. „tempérament“. Mit Abramson und Nougayrède habe man nicht sprechen können, sie seien „bossy“ und „pushy“ gewesen, nicht kommunikativ. Von Nougayrède hieß es, sie habe putineske Methoden angewandt (sollte sie sich die etwa in Tschetschenien abgeguckt haben?). Abramson wurde angeblich ihr übergroßer Ehrgeiz zum Verhängnis, sie habe sich mit der Redaktion angelegt, sie herausgefordert: „Jill sagt manchmal Dinge wie: XYZ hatte heute Morgen diese Story im Blatt – und was machen wir?“ Aber geht es nicht eben genau darum – um das „Was-machen-wir?“ –, wenn man für den Inhalt einer der wichtigsten Zeitungen der Welt verantwortlich ist? Und überhaupt – sollte man da nicht manchmal „pushy“ werden?
Keine Frage – hier hatte Granit auf Granit gebissen, zwei starke Frauen waren gescheitert. Aber lag es tatsächlich daran, dass man sie in einer noch immer von Männern dominierten Medienwelt hatte auflaufen lassen? Wurden wir hier Zeugen von der „same old story“, wie viele konstatierten, die zu Recht empört zur Verteidigung der beiden antraten? Waren Abramson und Nougayrède gescheitert, weil sie Chefredakteurinnen waren? Beide waren von ihren männlichen Kollegen begrüßt, im Fall von Le Monde sogar gewählt worden. In beiden Fällen brüstete man sich mit der Tatsache, dass man zum ersten Mal eine Frau an die Spitze gestellt hatte. Beide nahmen die Herausforderung an und betraten die Arena. Was sie dort erwartete, hatte allerdings mit einer komplexeren Variante des simplen Mann-vs.-Frau zu tun. Hier traf ein dem Print verschworenes Old-Boys-Network, wenn man so will, auf den Imperativ, sich dem digitalen Wandel stellen zu müssen. Und dieser Imperativ trat den Boys in Gestalt einer Frau entgegen. Sowohl Nougayrède als auch Abramson waren von ihren Vorgesetzten als „agents of change“ in den Newsroom geschickt worden. Und als sie dort – nicht überraschend – auf reichlich Widerstand stießen, gaben ihnen ebendiese Vorgesetzten nicht die nötige Rückendeckung. So kommt man dem Kern der Geschichte vielleicht schon näher.
Auf Jill Abramson folgt nun der bisherige Managing Editor der New York Times, Dean Baquet. Dessen journalistischer Stil sei von einem beunruhigenden Obrigkeitsdenken geprägt, so Glenn Greenwalds scharfes Urteil in einem Fernsehinterview vom 16. Mai, schon 2006 habe er als Chefredakteur der Los Angeles Times beispielsweise eine Geschichte über die Zusammenarbeit des Telekommunkationskonzerns AT&T mit der NSA verhindert. Und dann erwähnt Greenwald jene Frau, die Abramson als wichtigste Stütze im Newsroom einstellen wollte und mit der es offenbar schon eine feste Vereinbarung gab: Janine Gibson. Seit 2011 baut sie die Onlinepräsenz der britischen Tageszeitung The Guardian in den USA auf, eine durchaus erfolgreiche Unternehmung – in dem „New York Times Innovation Report“, der einen Tag nach Abramsons Entlassung der Öffentlichkeit zugespielt wurde und den noch sehr weiten Weg der Zeitung in die digitale Zukunft konstatiert, wird diese Website als geradezu beispielhaft aufgeführt. Gibson sollte neben Dean Baquet als zweiter Managing Editor fungieren und jene integrative Rolle zwischen Redaktion und den Tech-Abteilungen spielen, die entscheidend für ein jedes sich im Wandel befindende Printmedium ist. Gibson war es aber auch, an die sich Glenn Greenwald zuerst mit jenem Material wandte, das zu einer der größten Enthüllungsstorys in der Geschichte des Journalismus werden sollte („I’ve got a little story to chat to you about“, soll sie damals dem Londoner Mutterhaus mit britischer Lakonik mitgeteilt haben). Eine beeindruckende, couragierte Journalistin, die seit Jahren guten Content und Technologie zusammendenkt. Sie wäre wegen ihres großen Vorbilds Jill Abramson zur New York Times gekommen – und wegen der Herausforderung, The Grey Lady, wie dieses Flaggschiff des Printjournalismus respektvoll genannt wird, ins digitale Zeitalter zu lotsen.
Im Herbst dieses Jahres kehrt Janine Gibson nun nach London zurück und wird Chefredakteurin des guardian.com. Glücklich die Zeitung, die ihre guten Frauen beisammenzuhalten weiß.