Zum Tod meiner Kollegin, der Filmemacherin Helma Sanders-Brahms, wird in vielen Nachrufen betont, dass die Regisseurin im Inland zwar unbekannt, im Ausland aber berühmt gewesen sei. Zieht man einmal ab, dass heute jeder von jedem abschreibt, ohne die Fakten zu prüfen, ist daran doch etwas Wahres, aber es ist kein Einzelschicksal. Eine ganze Generation von Filmemacherinnen ist jenseits der engen Zirkel deutscher Kinematheken unbekannt. Das hat viele Gründe. Eine unklare Rechtelage, vor allem bei vom Fernsehen finanzierten Filmen, so dass es noch nicht einmal DVDs ihrer Filme gibt. Wichtiger noch sind mehrere Paradigmenwechsel: Eine Filmkritik, die seit dem Ende der 70er Jahre den Autorenfilm radikal ablehnte und sich bestätigt fühlen konnte durch das generelle Desinteresse einer deutschen Öffentlichkeit an Filmen, in denen nicht Kommissare, weiblich oder männlich, für Ordnung sorgen. Das Fernsehen hat dieses Desinteresse fleißig befördert und ist inzwischen mit seiner Krimi-Programmierung zu einer sich selbst verstärkenden Endlos-Schleife geworden. Aber auch die Frauen der nachwachsenden Generation glaubten, dass die Zeiten der 68er-Emanzipation tempi passati seien und sie selbst viel zu hip, um sich für diese Art Filme zu interessieren.
Was diese erste Generation von Regisseurinnen geschaffen hat, verdient es, wieder ins allgemeine Bewusstsein gehoben zu werden. Zwar haben sich die Zeiten geändert, aber die Mentalitäten längst nicht. Deutschland ist vielleicht im Ganzen nicht ein so archaisches Land, wie der französische Philosoph Emmanuel Todd es gerade in der ZEIT beschrieben hat, aber es hinkt, was die Frauen angeht, in seinem einschnürenden Konservativismus immer noch hinter den anderen europäischen Ländern her. Genau gegen diesen Mehltau hatte sich die erste Generation von Regisseurinnen gewandt. Und das war damals einzigartig, auch im Weltmaßstab. Einen solchen Blick auf die Wirklichkeit, wie ihn die Filme dieser Frauen warfen, hatte man/frau im Kino noch nicht gesehen. Als ich im Auftrag des Goethe-Instituts mit Filmpaketen dieser “Frauenfilme” durch die Welt reiste, sagte der Leiter einer brasilianischen Kinemathek: “Der deutsche Autorenfilm ist der Avantgardefilm der Welt” und selbstverständlich gehörten für ihn die Filme von Frauen dazu. Wenn man in Deutschland heute nach dem Kanon der bekannten Regisseure jener Zeit fragt, ist keine Frau dabei. Eine Ausnahme macht nur das Filmmuseum in Berlin.
Das Etikett “Frauenfilm”, das unseren Filmen Aufmerksamkeit gesichert hatte, ist für die Betroffenen zu schnell zu einer Zwangsjacke geworden. Wir waren unterschiedlich, wurden aber als monolithische Einheit gesehen. Ein Recht auf eine je eigene künstlerische Biographie, die sich langsam entwickeln konnte, wurde uns nicht zugestanden. “Frauenfilm” war eine kurze Zeit Mode gewesen, und die war jetzt vorbei. Männer konnten tausend Blicke auf die Welt werfen, es waren ihre individuellen und unverwechselbaren. Aber jeder Blick einer Frau wurde zum “weiblichen” erklärt und damit war die Neugier auf das, was Frauen noch zu erzählen hatten, auch schon erledigt. Mit dem langsamen Verlöschen des Autorenfilms und dem gleichzeitigen Aufkommen der Genrefilme, der Blockbuster und Actionfilme und der Wiederentdeckung Hollywoods wurde es für die Frauen dieser Generation immer schwerer, Gelder für neue Projekte zu bekommen. Jeder neue Film musste mühsam erkämpft werden. Das dauerte oft Jahre. Bei Helmas Film “Geliebte Clara” waren es zehn.
Helma Sanders-Brahms und ihre Kolleginnen haben sich daran abgearbeitet, dass Film in seiner Verbindung von finanzieller Macht und der Macht über das Un- und Halbbewusste die letzte Bastion eines Machismo ist, der sich für natürlich hält und sich nicht geniert. Dieser Glaube ist zwar eine internationale Krankheit, aber in Deutschland, wo es eine starke Szene von Regisseurinnen gab, wurde er deshalb so besonders zerstörerisch. Damals wie heute jedoch gelten Klagen über die engen Spielräume für Frauen in unserer Gesellschaft als larmoyant. Viele erstklassig ausgebildete junge Frauen machen heute Filme. Ihren ersten Arbeiten wird oft große Aufmerksamkeit zuteil, den zweiten schon nicht mehr. Und ob sie den dritten Film machen können, steht in den Sternen, wenn sie sich nicht entschließen, sich künftig nur noch mit Krimis und deren unzähligen Subgenres zu beschäftigen. Da lohnt es sich, wieder mal einen Blick auf die Arbeiten jener Generation zu werfen, die realistische Filme machte und sich für Menschen interessierte. Die sich vom Gegenstand die Form vorgeben ließ und ihre Geschichten nicht am Reißbrett der Normdramaturgie von Plot und Story, Fallhöhe, Wendepunkten, Protagonist und Antagonist konstruierte, so wie sie heute üblich ist. Die Filme des sogenannten “Frauenfilms” waren nie einfach nur Ausdruck eines künstlerischen Temperaments, sondern auch immer Zeitdiagnosen einer Wirklichkeit, gesehen durch ein künstlerisches Temperament. Über Fassbinder hat Godard einmal gesagt: “Nicht alle seine Filme sind gut, aber von niemandem hat man so viel über Deutschland erfahren wie von ihm.” Das gilt auch für die Filme von Helma Sanders-Brahms.
Natürlich altern Ästhetiken und jede Generation muss ihre eigene finden. Aber jede steht auf den Schultern der vorhergehenden. Selbst wenn sie deren Lösungen leidenschaftlich ablehnt, schärft sie im Dialog mit ihnen ihre Kräfte. Aber wenn Geschichte im Nichtwissen verschwindet, beginnt man immer wieder bei Null. Irgendwann stellt man fest, auch nicht viel weiter zu sein als es die Mütter gewesen waren. Die Lola in diesem Jahr ging verdientermaßen an den 83jährigen Edgar Reitz, die vom letzten Jahr an den Debütfilm von Jan Ole Gerster. Dazwischen klafft ein riesiges Generationen-Loch. Und: Auch in diesem Jahr war kein deutscher Film im Wettbewerb von Cannes. Ratlos fragte sich die Community, woran das wohl liegt. Es liegt auch daran, dass die Bewegung der filmenden Frauen abgewürgt worden ist, ohne dass diese ihren Erbinnen so viel Erfahrung, Können und Kraft mitgeben konnten, dass die jungen Filmemacherinnen heute in der rauen Umgebung des internationalen Filmemachens selbstbewusst bestehen könnten.