Ich. Heute. 10 vor 8.

Der Zauber des Anfangs – Als Britin daheim im Herzen Europas

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Es war reiner Kitsch, und dennoch hat es mich zu Tränen gerührt: Immigranten, die als Ausdruck ihrer Liebe zu Deutschland die Staatsbürgerschaft am Valentinstag beantragen. Das war eine der Anekdoten in der schönen Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zum 65-jährigen Jubiläum des deutsches Grundgesetzes. Ich denke, die Geschichte hat mich – in all ihrer übertriebenen Symbolik – deswegen so bewegt, weil sie etwas ansprach, das in mir gewachsen ist, aber das ich Liebe zu nennen nicht gewagt habe.

Liebe zu einem Land kann problematisch sein. Ich meine nicht die Art Zuneigung, die wir Urlaubsorten entgegenbringen – eine vorübergehende ungezwungene Liebe frei von Verantwortung, ein Urlaubsflirt. Ich meine die Liebe zu seinem Land, dem Staat, in dem man aus freien Stücken oder zwangsläufig zuhause ist. Hässliche Dinge sind im Namen des Nationalismus geschehen. Und doch braucht eine nicht bloß auf dem Papier bestehende Staatsbürgerschaft tief empfundene Gefühle. Liebe ist niemals einfach, doch die Liebe für Dinge, die wir uns nicht aussuchen können, ist vielleicht die vertrackteste von allen. Wir können uns weder unsere Familie noch das Land aussuchen, in das wir geboren werden. Beides können wir hinter uns lassen, aber etwas von beidem wird unweigerlich an uns festhalten. Wie sehr, hängt sowohl vom Zeitpunkt und den Umständen unseres Abschieds ab, als auch von den Gegebenheiten in der neuen Wahlheimat.

© Heike SteinwegPriya Basil

Ich wurde in Großbritannien geboren und kam als Einjährige mit meinen indischen Eltern nach Kenia. Dort verbrachten wir die nächsten zwanzig Jahre meines Lebens, wobei ich mit sechzehn nach England zurückkehrte, zuerst auf ein Internat ging und dann studierte. Ich nehme an, ich »liebte« – auch wenn ich es so nicht bezeichnet hätte – sowohl Kenia als auch Großbritannien auf jene gedankenlose, unwillkürliche Weise, mit der man seine Großeltern liebt – man regt sich ab und zu über sie auf, aber meistens überwiegt die Zuneigung. Dann, ich war Mitte zwanzig, führte mich romantische Liebe nach Berlin, wo mein Partner lebt. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien beeindruckten mich tief. Kontraste schaffen häufig Momente der Klarheit, und mit einem Mal nahm ich an meinem Heimatland Makel wahr: die Absurdität der Monarchie, das fest verwurzelte Klassensystem, der unbegründete Hass auf die Europäische Union. Es war wie die plötzliche Erkenntnis der Fehlbarkeit der eigenen Eltern – und da sie so spät kam, traf sie mich um so wuchtiger.

Seit zwölf Jahren pendele ich nun zwischen London und Berlin. Es war keine Liebe auf den ersten Blick zwischen mir und der deutschen Hauptstadt. Sicher, es gab eine große Zuneigung, viele Fälle gegenseitiger Bestätigung und Anerkennung – der noch immer hohe Stellenwert der Literatur in der deutschen Gesellschaft, wie ihn die Buchpreisbindung bezeugt; die zahlreichen unabhängigen Buchhandlungen; die breiten Feuilletonspalten in den Zeitungen; das erstaunliche Durchhaltevermögen des deutschen Publikums bei langen Lesungen. Mit dem Umzug nach Deutschland gelangte ich ins Herz Europas und fand eine grundsätzlich positive Einstellung zur EU, die in starkem Kontrast zu Großbritanniens Feindseligkeit stand. Europa fand den Weg in mein Herz und ich verstand die Sicht der Briten nicht mehr, für die der Kontinent ein fremdes Wesen irgendwo »da drüben« war, das sich oft einmischte und im übrigen mit ihnen nicht viel zu tun hatte. Deutschland brachte mir mein europäisches Selbstverständnis bei und beschenkte mich generell mit Einbeziehung, was mein Verständnis davon, wer ich bin und wer ich sein kann, erweiterte.

Doch es gab auch Dissonanzen, wobei manches mit meinen begrenzten Sprachkenntnissen zusammenhing, anderes aber einfach nur bizarr war. Mit meinem Pass hielten sich die Grenzbeamten bei der Einreise jedes Mal länger auf. Mein Partner weigerte sich, mit mir durch bestimmte Gegenden zu fahren, wo rechte Sympathien im Falle einer Panne unseres unzuverlässigen alten Autos weniger harmlose Belästigungen zur Folge haben könnten. Nie zuvor war ich derart regelmäßig die einzige nichtweiße Person im Raum gewesen. Natürlich gibt es in Berlin auch bunter gemischte Milieus, aber Integration in einer Gesellschaft muss sich schließlich daran messen lassen, dass ethnische Minderheiten überall im öffentlichen Leben sichtbar sind und nicht nur in bestimmten Stadtteilen.

»Achtung vor der Würde des Einzelnen, Gleichberechtigung, Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden: Auf diesen Werten und Normen beruht unsere Freiheit. Es sind Werte, die wir über Jahrzehnte eingeübt haben. Ich habe häufig schon erlebt, wie sehr sie gerade von jenen geschätzt und verteidigt werden, die aus Ländern stammen, in denen sie missachtet werden. Es ist unsere Sache, von Bürgerinnen und Bürgern, für diese Werte einzustehen«, sagte Gauck in seiner Rede. Und auch das hallte lange in mir nach. So verstörend es aus dem Mund einer Britin klingen mag: Ich habe das Gefühl, dadurch, dass ich in Deutschland lebe, sowohl die von Gauck beschriebenen Werte besser verstanden zu haben als auch meine Rolle bei ihrer Wahrung. Kurz gesagt, in Deutschland wurde ich ein politischer Mensch und eine politische Autorin. Es ist seltsam, dass mir das ausgerechnet hier klarwerden sollte, wo doch meine Mittel zur demokratischen Einmischung als Nicht-Deutsche begrenzt sind. Und dennoch unterstreicht genau dieser Widerspruch eines: Teilt man die Werte einer Gesellschaft, kann man sich ihr selbst dann zugehörig fühlen, wenn man keine Möglichkeit zur Mitbestimmung auf allen Ebenen hat.

Während ich in Deutschland immer heimischer werde, wird meine Beziehung zu Großbritannien immer komplizierter. Momentan fühle ich mich von meinem Vaterland ziemlich entfremdet, ich bin enttäuscht und verärgert. Ich hätte nie gedacht, dass in Großbritannien eine rechtspopulistische Partei wie Ukip, die sich offen gegen Einwanderung und die EU stellt, die großen politischen Parteien abhängen und beinahe ein Drittel der Wählerstimmen erhalten könnte, wie gerade bei der Europawahl geschehen. Das ist mein Land, und ich werde es nicht los. Selbst eine neue Staatsbürgerschaft könnte daran nichts ändern. Ich bin in vieler Hinsicht an Großbritannien gebunden, vor allem durch den entscheidenden Ort, dem ich zugehöre – die englische Sprache, die mich so untrennbar an das Land bindet wie Blut an meine Familie.

Und was ist dann Deutschland? Eine unrechtmäßige Affäre? Eine kurzlebige Leidenschaft? Es ist mein europäisches Heimatland und wird es hoffentlich immer sein. Eines Tages habe ich vielleicht Deutschland gegenüber so ambivalente Gefühle, wie ich sie im Augenblick für Großbritannien empfinde. Seltsamerweise freue ich mich darauf, sind doch Höhen und Tiefen in einer langen Beziehung ganz normal. Zurzeit aber bin ich noch mitten im ersten Rausch einer Romanze mit diesem Land, das es noch nicht einmal auf die Liste der Länder geschafft hatte, die ich besuchen wollte, geschweige denn dort leben (die Liste stammte natürlich aus einer Zeit, als Berlin noch nicht cool war). Ich denke an die Worte Hermann Hesses: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.« Der Zauber ist, dass man dort hingehören kann, wo man es am wenigsten erwartet hätte, und dass nichts wirklich verloren ist, wenn man es im Herzen bewahrt.

Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender

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