
»So ein großer Mann, … aus China!« Die junge Frau staunt, über ihr Kind gebeugt, das sie im Buggy an einem Terrakotta-Krieger in der Berliner Shoppingmall »Gesundbrunnen Center« vorbeirollt. Dabei sehen diese Versionen der kaiserlichen Grabbeigabe aus wie Ritter von hier. Metallisch, hart und schwergewichtig, Human Shields in Was-ist-Was-Manier von einer Informationstafel begleitet. Der junge Mann, Ru Sun, soll für Authentizität und Autorität zugleich sorgen, wenn er durch die Sonderausstellung führt. Eine entzückte Rentnerin kommt auf ihn zu und fragt, ob die ausgestellten Krieger Originale seien, woraufhin Sun murmelt, das sei in einer Shoppingmall doch nicht möglich. Die Dame lenkt sogleich verständnisvoll ein, die Echten müssten schließlich in China in der Ausgrabungsstätte stehen. Sie bedankt sich freundlich für die interessante Ausstellung und geht weiter.
Normalerweise arbeitet Sun im Projektteam des chinesischen Kulturzentrums. Er begegnet der typisch deutschen Frage nach Original oder Kopie mit chinesischem Gleichmut. Eine chinesische Freundin kommentiert meine Fotos strenger: »A Chinese would never make sculptures’ face so rough.« Ich gehe noch mal hin. Jetzt vertieft sich ein eifriger älterer Herr in die Exponate und schießt mit seiner Spiegelreflexkamera ein paar Close-ups von den maskenhaften Gesichtern. Rührend, die ganze Angelegenheit. Sieht aus wie ein angewandter Byung-Chul Han, der in seinem Text »Hyperkulturalität« einkocht, dass im Prozess der Aneignung das Andere nicht mehr als das Exotische wahrgenommen wird. Der Abstand verkleinert sich.
Die eigene Stimmung, hier im »Gesundbrunnen-Center«, die Dramen und Sehnsüchte die die Weddinger Kundschaft mitbringt, umarmte das Pop-Duo Jeans Team letztes Jahr in einem Song (»Das hält ja keine Sau hier aus. Ge-suuund-brun-nen Center. Wir wollen doch alle hier nur raus«). Eigentlich sollen wir ja alle rein. Auch in die Ausstellung mit dem freudig-naiven Titel »Besuch aus China!« Der erste Kaiser vorneweg, gefolgt von Generälen, Bogenschützen und den einfachen Kämpfern, alle zwischen dem asiatischen Fast Food-Laden »Cocos – Indo Thai Namesisch« und billigem Bling von Bijoux Brigitte. Die Namen der Läden rollen schon den hyperkulturellen, enthistorisierten Teppich aus, auf dem die Krieger ihren Auftritt haben.
Verantwortlich für den Auftritt der Terrakotta-Armee-Kopie ist eine Firma aus Tschechien, die, wie die Geschäfte in der Mall, einen generischen Namen trägt: Visible Production. Laut Managerin wurden die Figuren in der Nähe von Xi’an, der alten Kaiserstadt und Ausgrabungsstätte, hergestellt. Sucht man auf Alibaba.cn, dem chinesischen Online-Großhandel, findet man einige Hersteller in Xi’an, die »Terracotta Warriors« ähnlichen Typs anbieten. 300 bis 1000 Dollar müsste man sich eine kleine Armee in Originalgröße kosten lassen – je nach Stückzahl und Figur.
Chinesische Geschichte für alle? Das müsste eigentlich ganz im Sinne von Staatspräsident Xi Jinping sein, der im Frühjahr, bei seiner Europareise in Brügge sagte, die Europäer sollten sich besser mit der chinesischen Geschichte auskennen, bevor sie über die Gegenwart urteilten. Et voilà: Ge-suuund-brun-nen Center. Hier sind die Figuren bestens aufgehoben, in einer Mall, dem Non-Place des vergangenen Jahrhunderts, der nach all den Jahren vielleicht gar nicht mehr so ‘Non’ und losgelöst von der Realität da draußen wirkt.
Vor zehn Jahren war eine zahlenmäßig umfangreichere Version der Terrakotta-Armee im Palast der Republik zu sehen, als die Schloss-Ausgrabungen vor der Fassade noch nicht begonnen hatten. Auch eine schöne Ironie der Geschichte, dass zuerst das Remake der chinesischen Ton-Armee aufgestellt wurde, bevor der Wiederaufbau einer deutschen Kopie von Geschichte begann. Aktuell wirbt am Baustellenzaun des Schlosses ein heroisch-kriegerisches Werbefries in Stahlfarben für den neuen »X Men«-Film »Days of Future Past«. Auch die dort abgebildeten Krieger ähneln den Replikas in der Mall. Wie verhält sich doch gleich die popkulturelle Gegenwart zu den Schätzen der Vergangenheit?
Mittlerweile hat sich die deutsche Kultur- und Konsumszene mit der chinesischen Kopierkultur angefreundet. Zumindest in den Einkaufszentren. Noch 2007, als der Museumsdirektor des Hamburger Museums für Völkerkunde erfuhr, dass es sich bei der von ihm eingeladenen Terrakotta-Armee nur um Kopien handelte, machte er die Ausstellung dicht. Dabei war es aus chinesischer Sicht kein Versehen und keine Absicht, nur die nachgemachten Versionen zu senden. Kopien sind in China keineswegs weniger wert als Originale. Wie Byung-Chul Han in seinem Büchlein »Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch« beschreibt, wurden erste Repliken schon parallel zur Ausgrabung angefertigt. Die Reproduktionswerkstatt »stellte aber keine ›Fälschungen‹ her. Man müsste eher sagen, dass die Chinesen versuchten, die Produktion, die von Anfang an keine Schöpfung, sondern schon eine Reproduktion war, gleichsam wieder aufzunehmen.« Bereits die Krieger-Originale waren 210 vor Christus für die Grabanlage des ersten Kaisers von China aus vorgefertigten Modulen (Kopf, Körper, Hände, Füße und Kleidung bzw. Rüstung) zusammengesetzt worden.
Für zeitgenössische Künstler, die sich mit der chinesischen Kopierkultur und den fließenden Übergängen zwischen Originalen und Kopien auseinandersetzen, stellt sich die Frage nach der Warenförmigkeit der Kunst neu; sie interagieren mit den Zirkulationsrouten der globalisierten Produktion und Konsumption. Chiara Minchio etwa ist darauf aus und definiert es als ultimatives Ziel ihres Projekts, dass die von ihr gestalteten eurasischen Muster von Vlisko, dem holländischen Textilunternehmen für afrikanische Wachsstoffe (dahinter verbirgt sich ein ganzer Globalisierungsroman, der von China über Indonesien nach Holland und Afrika und wieder zurück führt), in das Sortiment aufgenommen und vervielfältigt werden.
Deswegen ist es nur konsequent, dass Chiara Minchio ihre Textildrucke als Marketing-Teaser für ihre Malerei versteht, also als Verweise auf ihre eigentlichen künstlerischen Arbeiten. Minchios in Beijing entstandenen postdigitalen Shanzhai-Chinoiserie-Mashups verarbeiten einige Motive aus ihrem künstlerischen Koordinatensystem – wie Eurocent- und Pizzastücke – zu einem gleichwertigen und digital verflachten Muster. Mit Textildrucken, auch auf Tennissocken, in einer eigenen »Opium-Cents-Ästhetik« bezieht die Künstlerin sich auf das berühmte Opium-Parfum von Yves Saint Laurent, dessen erstes Packungsdesign aus chinoisen Bambusblattmotiven Minchio mit geschnitzten bunten Buchstaben kombiniert. Damit ist sie konzeptuell nicht so weit entfernt von Fatima Al Qadiris Album »Asiatisch«, das vor ein paar Wochen ausführlich in den Feuilletons besprochen wurde. Allerdings wirkt es chinois rückwärtsgewandt, so wie orientalische Fantasietöne, die als große unbekannte Wolke durch ihren Pop-Beat schweben.
Oliver Laric hat für seine aktuelle Ausstellung im norwegischen Bergen 3-D-Scans von Marmorsäulen aus dem Pekinger Sommerpalast machen lassen, die im 19. Jahrhundert in norwegischem Privatbesitz gelandet und später in den Bestand des dortigen Kunstmuseums gelangt waren, bevor sie im September von der norwegischen Regierung an China zurückgegeben werden. Für die Ausstellung hat Laric diese sieben Säulen ausdrucken lassen. Parallel zur Ausstellung fordert er dazu auf, seine 3-D-Scans, die jeder von Kim Dotcoms Filesharing-Website Mega runterladen kann, weiter zu verwenden, weiter zu verarbeiten, auszudrucken. Laric wartet gespannt, was all die anderen User daraus machen. Lustiges Zeug.
Beide Künstler schaffen also bewusst eine Ware, ein handelbares Gut, ent-auratisieren ihre Werke. Sie gehen spielerisch und offen mit unseren Chinaprojektionen um und kombinieren westliche und östliche Logiken neu, was Byung-Chul Han als »Hyperkulturalität« bezeichnet. In den Arbeiten entsteht ein zerklittertes, bewusst verflachtes und unscharfes Bild von »Chineseness«. Ein Bild, das so vor den Augen verschwimmt, dass die Frage nach Original oder Kopie von selbst in den Hintergrund zu rücken scheint. Das Abendland hat einen Schritt Richtung China gemacht, imitiert die chinesische Herangehensweise. Wenn auch das Ideal der Massenproduktion noch an den finanziellen Mitteln scheitert – angedacht ist sie zumindest. Deswegen gehören Eurocent-Münzen zum festen Vokabular von Minchio, sie nennt das die »Ökonomie der kleinen Dividenden«.
Das deutsche Chinabild beginnt also produktiv zu werden. Waren Chinoiserien, eine China-Mode im Barock und Rokoko, einst ein »Erkenntnishindernis« (Johannes Franz Hallinger), da das Chinesische damals unwissend und unreflektiert und daher höchst wolkig in den höfischen Formenkanon eingepasst wurde, so lassen sich die hier erwähnten Beispiele als Beweis für eine gleichberechtigte Durchmischung, wenn nicht als Vergnügen an der Auseinandersetzung, am Produzieren und Verbreiten verstehen. Mit dem Ende der Chinoiserie erheben sich die Künste aus der Wissensordnung der Barockzeit. Es geht also weniger um das Verhandeln von Originalität und Authentizität, sondern um Aneignung, Tausch und Zirkulation, um den Eintritt in die (digitalen) Bildökonomien.
Nicht weit vom »Gesundbrunnen-Center«, in den Uferhallen, läuft die Ausstellung »Die 8 der Wege«. Sie versammelt zeitgenössische Kunst aus Beijing. Darunter das 3-kanalige Musikvideo »David« der Künstlerin Guan Xiao, in dem sie lakonisch den David von Michelangelo, also eine westliche Ikone, und dessen Verbreitung und Entleerung in unzähligen Replikas und Versionen mit im Internet gesammeltem Videomaterial huldigt. Dabei herausgekommen ist wiederum ein fantastisches Stück Popkultur. So hält sie all denen einen Spiegel vor, die in der Shopping Mall noch ein Mal ganz bourgeois wissen wollen, ob die Terrakotta-Krieger auch echt sind.